Dominik Dabbert, Jörg Zimmermann, Bremen, Sermin Toto, Hannover, und Renate Grohmann, München
Fallbericht
Sertralin ist einer der meistverordneten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) in Deutschland und weltweit. Im vorliegenden Fall wurde es einem 40-jährigen Mann verordnet, der eine zweite Panikattacke erlitten hatte. In der Annahme einer Panikstörung wurde er über drei Tage hinweg mit 50 mg Sertralin täglich behandelt. Am Morgen des vierten Tages entwickelte er vor Einnahme der Medikation präkollaptisches Erleben mit Palpitationen, Schwitzen und Schwankschwindel. Nachdem er sich per Rettungswagen in der Ambulanz eines am AMSP-Projekt [4] teilnehmenden Krankenhauses vorgestellt hatte, erlitt er eine plötzliche Synkope. Dabei wurde er vom Krankenpflegepersonal als für wenige Sekunden nicht ansprechbar, kaltschweißig und ohne sichtbare Spontanatmung erlebt. Motorische Entäußerungen wurden nicht beobachtet. Nach wenigen Sekunden erwachte er wieder, war sofort voll orientiert und wies stabile Kreislaufparameter auf. Es erfolgte eine stationäre Aufnahme mit Ausschluss eines Myokardinfarkts und einer Lungenembolie. Das Monitoring verlief unauffällig, auch im Langzeit-EKG und in der Echokardiographie konnte kein krankheitswertiger Befund erhoben werden. Ein EEG wurde nicht geschrieben. An den beiden darauffolgenden Tagen, also mit einem Abstand von 48 bis 72 Stunden zur letzten Sertralin-Einnahme, entwickelte er ich-dystone Suizidgedanken mit Ausführungsphantasien. Diese waren vom Charakter her sehr quälend. Er berichtete später über die kaum bewältigbare, ich-dystone Vorstellung, aus dem Fenster zu springen. Daher hielt er sich überwiegend in einem Zimmer auf, dessen Fenster nicht zu öffnen waren. Diese Suizidgedanken hätten an beiden Tagen über etwa zwei Stunden angedauert, es resultierten daraus keine Ausführungswünsche oder Suizidhandlungen.
Später konnte exploriert werden, dass der Patient vor etwa 15 Jahren bereits einmal erlebnisreaktiv depressiv erkrankt war. Damals habe er Suizidgedanken entwickelt, die sich jedoch sehr deutlich von den Suizidgedanken nach Sertralin-Gabe unterschieden. Er berichtete, dass die Suizidgedanken vor etwa 15 Jahren anders gewesen wären, eher bewusst, es habe sich anders, abwägend angefühlt. Er habe damals den Suizid als Option für sich erwogen. Im jetzt darauffolgenden aktuellen psychiatrischen Verlauf konnte keine schlüssige Alternativerklärung für die Suizidalität gefunden werden. Es zeigte sich im weiteren klinischen Verlauf keine histrionische Ausgestaltung von Symptomen, es war zudem kein sekundärer Krankheitsgewinn durch diese Angaben erkennbar.
Diskussion
Die Erfassung der Suizidalität unter Antidepressiva-Gabe wird von vielen methodischen Problemen limitiert. Bei den meisten Antidepressiva-Studien wird Suizidalität als Ausschlusskriterium definiert. Der daraus resultierende Bias könnte zu einer Unterschätzung des realen Risikos führen. Insofern kommt Fallberichten und induzierten Spontanmeldesystemen wie dem AMSP in dieser Frage eine besondere Bedeutung zu.
Im vorliegenden Fall fällt neben der niedrigen Dosis die kurze Zeitdauer der Sertralin-Gabe auf, das Fließgleichgewicht kann noch nicht erreicht worden sein. Der Patient entwickelte die Suizidgedanken nach dem Absetzen, allerdings ist angesichts der Halbwertszeit des Sertralins von 26 Stunden davon auszugehen, dass noch Wirksubstanz im Körper war. Wir sehen den Effekt daher nicht als Absetzphänomen, sondern als mögliche unerwünschte Wirkung unter Therapie an. Auffällig war der ich-dystone Charakter der Suizidalität. Dies unterschied die beschriebenen Suizidgedanken deutlich von der in einer vor 15 Jahren erlebten depressiven Episode erlebten Suizidalität. Dies gilt als ein typisches Kriterium der Antidepressiva-induzierten Suizidalität [3, 8].
Ein Zusammenhang zwischen der initialen Synkope und der Entwicklung der Suizidalität an den Folgetagen ist zu diskutieren. Der Patient fand sich möglicherweise durch die stattgehabte Synkope und die Entscheidung, die mit Hoffnung verknüpfte Therapieoption der Sertralin-Gabe nicht weiterzuführen, in einer veränderten Lebenssituation wieder, die dann möglicherweise zur Entwicklung der Suizidalität geführt haben könnte. Gegen diese Spekulation spricht der Charakter der erlebten Suizidalität, die nach den Schilderungen des Patienten keine bewusste oder erlebnisreaktiv deprimierte, sondern eine eindeutig als fremd erlebte und bedrohliche Komponente hatte.
Absetzsymptome nach SSRI-Gabe, typischerweise binnen einer Woche nach dem Absetzen, wurden zwar in der Literatur häufig beschrieben [1, 2, 6], Suizidalität ist dabei aber keine häufige Problematik. In der Vergangenheit wurde die Frage der Entwicklung von Suizidalität unter laufender SSRI-Therapie, insbesondere bei jüngeren Patienten, kontrovers beurteilt. Die FDA gab in diesem Zusammenhang 2004 und 2007 Warnhinweise heraus. Reith und Edmonds beschrieben ein erhöhtes Risiko für Suizidalität, nicht jedoch für Suizide unter SSRI [5]. Stübner et al. kamen in einer umfassenden Untersuchung der Daten von 142090 Patienten zu dem Schluss, dass eine Antidepressiva-Therapie nur selten eine Suizidalität triggere [8]. Sie fanden allerdings unter SSRI- und SNRI-Gabe mit 0,034% eine höhere Rate als unter Trizyklika und noradrenergen Antidepressiva (0,002% und 0,09%).
Als Risikofaktoren für Suizidalität unter Antidepressiva-Gabe konnten folgende Risikofaktoren identifiziert werden: Alter <45 Jahre, Behandlungsresistenz, Anzahl von Vorbehandlungen, Akathisie sowie das zusätzliche Vorliegen von Persönlichkeitsstörungen [7]. Dabei wurde in der Arbeit allerdings nicht zwischen morbogener und pharmakogener Suizidalität unterschieden.
Insgesamt erscheint die Entwicklung von ich-dystoner, nicht vorbekannter Suizidalität ein seltenes, aber klinisch relevantes Problem unter SSRI-Therapie zu sein. Daher ist es sinnvoll, diesem möglichen unerwünschten Effekt im klinischen Alltag durch Aufklärung und gegebenenfalls Benzodiazepin-Gabe Rechnung zu tragen.
Der vorliegende Fall verdeutlicht, dass auch bei kurzer Behandlungsdauer und niedriger Dosis eines SSRI das Auftreten von ich-dystonen Suizidgedanken möglich ist.
Interessenkonflikterklärung
DD gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
JZ hat für die Ausrichtung einer Veranstaltung Unterstützung von Pfizer erhalten.
ST gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
RG hat Vortragshonorare von Pfizer Österreich erhalten.
Literatur
1. Degner D, Rüther E, Grohmann R. Parästhesien mit stromschlagähnlicher Symptomatik als Absetzeffekt von Venlafaxin. Psychopharmakotherapie 2009;16:170–3.
2. Fava GA, Gatti A, Belaise C, Guidi J, et al. Withdrawal symptoms after selective serotonin reuptake inhibitor discontinuation: A systematic review. Front Pharmacol 2015;84:72–81.
3. Greil W. Suizidgefahr unter Behandlung mit Antidepressiva – Wie hoch ist das Risiko für eine erhöhte Suizidalität wirklich? Info Neurologie Psychiatrie 2011;9:42–3.
4. Grohmann R, Engel R, Rüther E, Hippius H. The AMSP drug safety program: methods and global results. Pharmacopsychiatry 2004;37(Suppl 1):S4–11.
5. Reith D, Edmonds L. Assessing the role of drugs in suicidal ideation and suicidality. CNS Drugs 2007;21:463–72.
6. Renoir T. Selective serotonin reuptake inhibitor antidepressant treatment discontinuation syndrome: a review of the clinical evidence and the possible mechanisms involved. Psychother Psychosom 2015;84:72–81.
7. Seemüller F, Riedel M, Obermeier M, Bauer M, et al. The controversial link between antidepressants and suicidality risks in adults: data from anaturalistic study on a large sample of in-patients with a major depressive episode. Int J Neuropsychopharmacol 2009;12:181–9.
8. Stübner S, Grohmann R, von Stralendorff I, Rüther E, et al. Suicidality as rare adverse event of antidepressant medication: Report from the AMSP multicenter drug safety surveillance project. J Clin Psychiatry 2010;71:1293–307.
Dr. Dominik Dabbert, Klinikum Bremen Ost gGmbH, Psychiatrische Behandlungszentren, Züricher Straße 40, 28325 Bremen, E-Mail: dominik.dabbert@klinikum-bremen-ost.de
Prof. Dr. Jörg Zimmermann, Klinikum Bremen Ost gGmbH, Psychiatrische Behandlungszentren, Züricher Straße 40, 28325 Bremen
Dr. med. Sermin Toto, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für seelische Gesundheit, Medizinische Hochschule Hannover, Podbielskistraße 162, 30177 Hannover
Dr. Renate Grohmann, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München, Nussbaumstraße 7, 80336 München
Ego-dystonic suicidal thoughts following discontinuation of three-days’ treatment with sertraline
Suicidal thoughts and suicidal behaviour are an often discussed, but rare adverse event of a treatment with selective serotonin reuptake-inhibitors. The following case report shows the importance of the alertness of this side effect. A 40 year old man received 50 mg sertraline daily. After three days, he collapsed for unknown reasons and quit medication. On the two following days he developed ego-dystonic suicidal thoughts that felt very different from the known, depression-like suicidal thoughts he experienced 15 years ago.
Key words: SSRI, adverse reaction, sertraline
Psychopharmakotherapie 2015; 22(04)