Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Pulheim
Am 1. Mai 2015 hat Lundbeck sein neues Antidepressivum Vortioxetin (Brintellix®) ausgeboten. Die Europäische Kommission hatte die Vermarktung von Vortioxetin am 18. Dezember 2013 auf Basis der Empfehlung des Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) der European Medicines Agency (EMA) vom 23. Oktober 2013 autorisiert. Mit dem 1. Mai 2015 hat das Verfahren der frühen Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gemäß §35a SGB V begonnen. Die Evaluation des von Lundbeck vorgelegten Dossiers, in dem der Zusatznutzen im Vergleich zur vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie darzulegen ist, durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ist bis zum 3. August 2015 abzuschließen; anschließend besteht bis 24. August 2015 Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme. Es darf vermutet werden, dass der G-BA die Gesamtgruppe der selektiv-serotonergen Antidepressiva als zweckmäßige Vergleichstherapie festgelegt hat, sodass Auswahlmöglichkeiten bestehen, wobei Citalopram als Leitsubstanz gemäß den Rahmenvorgaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des GKV-Spitzenverbands nach §84 Abs. 7 SGB V der wahrscheinlichste Kandidat sein dürfte. Da es keine Studien mit unmittelbarem Vergleich („head-to-head“) von Vortioxetin und Citalopram gibt, müssten indirekte Vergleiche angestellt werden. Indirekte Vergleiche haben bisher nicht zur Feststellung eines Zusatznutzens geführt, indem der G-BA Zweifel an der Vergleichbarkeit der Studienpopulationen hatte. Vortioxetin steht also vor einer besonderen Herausforderung.
Die PPT hatte bereits in Heft 4/2014 Vortioxetin einen Schwerpunkt gewidmet. Was macht Vortioxetin noch besonders? Seit der letzten Zulassung eines Antidepressivums sind Jahre vergangen – der Innovationsschub in diesem Indikationsgebiet ist also begrenzt. Zuletzt wurde Tianeptin im November 2012 eingeführt auf Basis einer Zulassung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemäß den Regelungen zum „well-established use“ (Artikel 10a der Human Medicines Directive 2001/83/EC, analog §22 Absatz 3 Nr. 1 AMG); eine Nutzenbewertung erfolgte nicht, weil Tianeptin keinen Patentschutz genießt. 2009 wurde Agomelatin (Valdoxan®) von der Europäischen Kommission zugelassen, 2007 Bupropion (Elontril®) durch das BfArM, nachdem Bupropion in dieser Indikation in den USA seit 1989 zugelassen war – da gab es die Nutzenbewertung des G-BA noch nicht. Damit ist Vortioxetin für alle Beteiligten ein Präzedenzfall.
Im Februar 2015 hat die EMA einer Ergänzung (Typ-II-Variation) der Fachinformation um Ausführungen über die Verbesserung kognitiver Parameter unter Vortioxetin im Abschnitt Klinische Wirksamkeit und Sicherheit der Sektion 5.1. Pharmakodynamische Eigenschaften zugestimmt. Kognitive Dysfunktionen können über den Zeitpunkt der Remission der Depression hinaus persistieren, die Lebensqualität beeinträchtigen, und das Rezidivrisiko erhöhen. Mit dieser besonderen Wirkung setzt sich Walter Müller in diesem Heft grundlegend und umfassend auseinander, dies weit über Vortioxetin hinausgehend. Im August 2015 werden wir wissen, welche Bedeutung das IQWiG diesem Thema beimisst.
Im Kontext der auf die Nutzenbewertung folgenden Preisverhandlungen nach §130b SGB V wird sich eine weitere Besonderheit ergeben: Ausgangspunkt sind die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie, hier also mutmaßlich die Kosten von Citalopram. Citalopram ist seit Jahren patentfrei und einer Festbetragsgruppe zugeordnet. Würde der G-BA keinen Zusatznutzen von Vortioxetin feststellen, so würde die Vorschrift des §130b Absatz 3 wirksam, wonach ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren ist, der nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führt als die zweckmäßige Vergleichstherapie. Der Erstattungsbetrag würde also zu einem Preis im Niveau des Festbetrags führen. Naturgemäß berücksichtigen die Preise von Generika und damit der vom GKV-Spitzenverband nach §35 festgelegte Festbetrag die Entwicklungskosten eines Arzneimittels nicht. Stellt der G-BA andererseits beispielsweise sogar einen Beleg für einen beträchtlichen Zusatznutzen von Vortioxetin fest, so bleibt der Festbetrag die Bezugsgröße für die Preisverhandlung. Es wird spannend sein, zu lernen, ein Wievielfaches des Festbetrags ein solcher – hier nur hypothetisch genannter – Zusatznutzen wert sein könnte. Das ist nicht trivial, denn implizit ist hier auch eine ökonomische Bewertung menschlichen Leids enthalten.
Folkerts & Goemann illustrieren – auch an Fallbeispielen – die klinische Handhabung von Vortioxetin im Alltag und die dabei gemachten Erfahrungen.
Mehrere Beiträge sind Fragen der Arzneimitteltherapiesicherheit gewidmet. Wenzel-Seifert, Ostermaier, Conca und Haen liefern eine systematische Übersicht zu sexuellen Funktionsstörungen unter Therapie mit Antidepressiva und ihrer Behandlung. Als weniger risikoträchtig erweisen sich dabei Bupropion, Agomelatin, Tianeptin, Moclobemid, Trazodon und Mirtazapin. Dabbert, Zimmermann, Toto und Grohmann illustrieren und diskutieren anhand eines Patienten aus dem Projekt Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP) die mögliche Induktion von Suizidalität – seit 2005 Gegenstand von Warnhinweisen der Fachinformationen der Antidepressiva. Nach drei Tagen unter Sertralin und weiteren zwei Tagen nach dessen Absetzen entwickelte der Patient ich-dystone Suizidgedanken mit Ausführungsphantasien. Holger Petri setzt seine Serie über CYP450-Wechselwirkungen mit dem Thema des Interaktionspotenzials der H2-Rezeptorenblocker fort.
Wie immer bietet die PPT auch diesmal interessante Kurzberichte: Gabriele Blaeser-Kiel diskutiert am Beispiel einer randomisierten Pilotstudie mit Vergleich von Agomelatin und Venlafaxin, inwieweit es differenzielle Wirkungen auf Anhedonie geben kann. Dieter Angersbach kommentiert eine Placebo-kontrollierte, doppelblinde Studie von Duloxetin bei Patienten mit generalisierter Angststörung im Alter über 65 Jahre. Abdol Ameri berichtet über die QUALIFY-Studie, in der Aripiprazol-Depotsuspension und Paliperidonpalmitat bezüglich der Lebensqualität untersucht wurden – einem dem Gesetzgeber (§35a SGB V) wichtigen Patienten-relevanten Endpunkt, dem aber im Zulassungsverfahren von Arzneimitteln bisher keine Priorität eingeräumt wird. Danielle Stegmann stellt eine Registerstudie mit Paarvergleich (Matching) vor, wonach die atypischen Antipsychotika Quetiapin, Olanzapin oder Risperidon in der Schwangerschaft wahrscheinlich nicht mit erhöhten Risiken für Mutter und Kind verbunden sind (was aber keinesfalls von sehr sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiken in jedem Einzelfall abhalten darf).
Zum Schluss zurück zu einem Hauptbeitrag dieses Heftes: Volz, Kasper und Möller liefern eine systematische Übersichtsarbeit zur Frage geeigneter Instrumente zur Messung der Wirkung von Arzneimitteln bei somatoformen Störungen. In Deutschland hat – dank Studien, an denen die Autoren mitgewirkt haben – nur Opipramol eine förmliche Zulassung für diese Indikation. Der Forschungsbedarf ist riesig – ohne geeignete Messinstrumente kann ihm nicht entsprochen werden. Der Off-Label-Use insbesondere von Antidepressiva bei dieser Krankheit ist unbekannt, dürfte aber verbreitet sein. Off-Label-Use wird derzeit als Maßnahme des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) der Bundesregierung untersucht, und zwar in einem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Forschungsprojekt des BfArM gemeinsam mit der Datentransparenzstelle des Deutschen Instituts für Medizinische Information und Dokumentation (DIMDI), das unter anderem allen Psychopharmaka gilt. Hiervon dürften einige Forschungsimpulse zu erwarten sein.
Psychopharmakotherapie 2015; 22(04)