Hans-Jürgen Möller, München
Antidepressiva sind eine wichtige Säule in der Kurz- und Langzeitbehandlung depressiver Erkrankungen. Auch wenn die Nationale Versorgungsleitlinie Depression [6] den Stellenwert der medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva in Relation zur Psychotherapie eingeschränkt hat, so bleiben diese doch, insbesondere aus pragmatischen Gründen, eine wichtige, wenn nicht die vorrangige Therapiesäule im Behandlungsalltag. Dies gilt insbesondere für den ambulanten Bereich [15]. Die bisher verfügbaren pharmakologischen Therapiemöglichkeiten im Bereich depressiver Erkrankungen sind unter mehreren Aspekten unbefriedigend [3], beispielsweise hinsichtlich der als niedrig beschriebenen Wirkstärke („effect size“), der zu niedrigen Remissionshäufigkeit, der unzureichenden Wirkung auf Subsyndrome sowie hinsichtlich für einzelne Substanzgruppen unterschiedlicher Verträglichkeitsprobleme. Weitere psychopharmakologische Forschung mit dem Ziel der Bereitstellung möglichst innovativer Antidepressiva mit neuen Wirkungsmechanismen ist deshalb wichtig.
Innovationen im diagnostischen und therapeutischen Bereich sind im Bereich der gesamten Medizin wichtig, um unsere medizinischen Möglichkeiten zu verbessern [9]. Diese Verbesserungen können sich bei Medikamenten unter anderem auf bessere Wirksamkeit und/oder bessere Verträglichkeit beziehen. Innovationen auf dem therapeutischen Sektor entwickeln sich meist schleichend, in seltenen Fällen sprunghaft. Eine sprunghafte Innovation liegt beispielsweise vor, wenn ein Medikament für eine bisher nicht behandelbare Erkrankung erfolgreich entwickelt wird. So ist die Entwicklung der ersten Vertreter der Hauptgruppen der Psychopharmaka in der Mitte des letzten Jahrhunderts jeweils als sprunghafte Innovation einzustufen. Auch könnte die Entwicklung eines Psychopharmakons, das nicht nur die übliche globale Verbesserung der Krankheitssymptomatik im Rahmen eines bestimmten Indikationsgebiets erreicht, sondern eine wichtige Teilsymptomatik erheblich reduziert, die bisher kaum oder nur mäßig im Rahmen der allgemeinen Verbesserung der Gesamtsymptomatik angesprochen wurde und gleichzeitig von hoher Relevanz ist, in Hinblick auf die psychosozialen Konsequenzen (u.a. Alltagsfunktionalität, Lebensqualität) als Sprunginnovation angesehen werden. Man denke beispielsweise an ein Medikament mit fokussierter Wirksamkeit auf die Negativsymptomatik der Schizophrenie, wie es zum Beispiel der Glycin-Transporter-Inhibitor Bitopertin zu sein schien, der allerdings seine vielsprechenden Ergebnisse aus Phase-II- nicht in Phase-III-Studien bestätigen konnte. Eine schleichende Innovation ist eine relevante Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten in einem Indikationsgebiet im Sinne besserer Wirksamkeit, besserer Verträglichkeit oder anderer Behandlungsparameter wie beispielsweise Compliance oder Praktikabilität. Auch solche Innovationen sind für den Fortschritt in der psychopharmakologischen Behandlung von großer Wichtigkeit.
Von vielen Seiten wird beklagt, dass die Entwicklung neuer Psychopharmaka in den letzten Jahren kaum vorangekommen ist. Das hat viele Hintergründe, die hier nur ansatzweise dargestellt werden können [5]. Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, dass weiterhin für viele psychische Erkrankungen, trotz intensiver neurowissenschaftlicher Forschung, die Pathogenese nur unzureichend geklärt ist oder dass selbst bei gut molekularbiologisch aufgeklärter Pathogenese (wie z.B. im Fall der Alzheimer-Demenz) die darauf basierenden Interventionen nicht so wirksam sind wie erwartet. Möglicherweise werden zu reduktionistische psychopharmakologische Therapieansätze dem komplexen Krankheitsgeschehen nicht gerecht.
Insbesondere die innovativen Therapieansätze, die pharmakologische Mechanismen jenseits der traditionellen Pfade erproben wollen, sind, wie die Erfahrung zeigt, aus diesen Gründen sehr risikobelastet, und das bei immer stärker wachsenden Entwicklungsausgaben. Aber auch die Weiterentwicklung auf Basis traditioneller Wirkungsmechanismus-Hypothesen, die durchaus zu innovativen Verbesserungen führen, erreichen bei weitem nicht immer den erwünschten Erfolg, das heißt Zulassung und erfolgreiche Markteinführung.
Wenn dann wirklich ein Medikament erfolgreich entwickelt werden konnte und die Zulassung erreicht hat, stehen in vielen Ländern, so in Deutschland mit dem AMNOG-Verfahren, weitere Hürden bevor, die den sogenannten „Zusatznutzen“ gegenüber den in Verwendung befindlichen Standardmedikamenten für die gleiche Indikation infrage stellen und damit eine für die pharmazeutische Industrie unter Re-Investment-Aspekten günstige Preisgestaltung beeinträchtigen. Letzteres liegt daran, dass als sogenannte zweckmäßige Vergleichstherapie häufig inzwischen patentfreie Therapien definiert werden, die als Generika mit entsprechend niedrigem Preisniveau auf dem Markt sind. Die schwierige Gesamtlage hat mehrere große pharmazeutische Unternehmen veranlasst, das Feld der Psychopharmaka-Entwicklung zu verlassen.
Nutzen, Zusatznutzen, Kosten-Nutzen-Relation und Probleme ihrer Bewertung
Noch vor etwa zehn Jahren genügte es in Deutschland, dass ein Psychopharmakon auf der Basis eines positiven Nutzen-Risiko- oder anders ausgedrückt eines positiven Wirksamkeits- und Verträglichkeitsnachweises die Zulassung erreicht hatte, um von den Ärzten zulasten der GKV verschrieben zu werden, und zwar gemäß den Preisvorstellungen des pharmazeutischen Unternehmers. Transparenzkommissionen, wie sie in vielen anderen europäischen Staaten schon lange üblich sind, um die Preise nach unten zu regulieren, gab es nicht. Dafür wurden zunehmend andere Mechanismen der indirekten Preis- und Verschreibungskontrolle entwickelt mit dem Ziel, Kosten des Gesundheitssystems im Arzneimittelsektor nicht explodieren zu lassen, unter anderem, indem neue Medikamente im Verlauf ihrer Marktentwicklung mit älteren Standardpräparaten, die zu dem Zeitpunkt schon generisch und damit preisgünstig waren, verglichen und über die Kassenärztlichen Vereinigungen zur primären Verordnung empfohlen wurden, oder indem über vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) initiierte Verfahren (u.a. Gruppenbildung mit Festpreisen orientiert am günstigen Generikapreis) eine Preisreduktion erfolgte.
Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz wurde dieser Reglementierungsansatz verstärkt, indem der Gemeinsame Bundesausschuss mit diesem Gesetz den Auftrag erhielt, unter Einbeziehung des dafür geschaffenen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den „Zusatznutzen“ von Arzneimitteln zu prüfen. Mit der Gesundheitsreform des Jahres 2007 wurden durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) die Aufgaben des IQWiG erweitert: Bislang konnte es Arzneimittel nur in Hinblick auf ihren medizinischen Zusatznutzen bewerten, künftig sollte das Institut auch die Kosten in ein Verhältnis zu dem zuvor ermittelten Nutzen setzen. Laut Gesetz sollen diese Kosten-Nutzen-Bewertungen zum einen dazu dienen, Höchstbeträge für bestimmte Medikamente festzulegen. Zum anderen sollen sie den G-BA dabei unterstützen, die Wirtschaftlichkeit medizinischer Verfahren zu beurteilen. Verschiedene methodische Verfahren wurden vom IQWiG, in den Anfangsjahren auch von den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenversicherungen, entwickelt, um die Nutzenbewertung bzw. später die Kosten-Nutzen-Bewertung in einer vermeintlich transparenten und rationalen Weise durchzuführen. Über diese Methoden wurde aber immer wieder heftig, insbesondere zwischen den Kontrahenten – IQWiG/G-BA/Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-SV) auf der einen Seite und pharmazeutische Unternehmer und zum Teil medizinische Fachgesellschaften auf der anderen Seite – gestritten. Unter diesem Druck und auch zum Teil aus selbstkritischer Überzeugung musste das IQWiG viele der bereits publizierten Methodenpapiere erheblich revidieren oder ganz zurückziehen. Neben methodischen Aspekten im engeren Sinne standen hinter dem Dissens der beiden Lager auch erhebliche Interessenskonflikte. So wollten die pharmazeutischen Unternehmer, insbesondere die forschende Industrie, nicht durch zu rigorose Ansätze den „return on investment“ für neue Arzneimittel minimiert sehen, und die medizinischen Fachgesellschaften wollten sicherstellen, dass weiterhin neue/innovative Arzneimittel auf den deutschen Arzneimittelmarkt kommen und den Patienten verschrieben werden können.
Interessant im Kontext dieser Diskussion ist die im vorläufigen Beschluss beschriebene Feststellung des Landessozialgerichts Berlin in Rahmen des Rechtsstreits um eine mögliche Festbetragsguppenbildung für Escitalopram mit Citalopram [16], die dem pharmazeutischen Unternehmer den Anspruch zuerkennt, für innovative Arzneimittel einen höheren Preis zu verlangen, um die hohen Investitionskosten zu kompensieren, und dass dieser Anspruch bei patentgeschützten Präparaten nicht zu leichtfertig unterlaufen werden darf. Noch wichtiger als diese aus betriebswirtschaftlicher Sicht abgeleitete Schlussfolgerung ist die weitergehende Feststellung, dass die so erfolgende Kompensation der Investitionskosten nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht recht und billig ist, sondern bei übergeordneter Betrachtung sogar dazu dient, durch Unterstützung der Innovationskräfte des pharmazeutischen Unternehmers die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems langfristig zu optimieren und gegebenenfalls durch besser wirksame/verträgliche, nur vorübergehend hochpreisiger Medikamente, schlussendlich sogar zu einer Kostenentlastung für das Gesundheitssystem führt bzw. führen kann.
Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG, [8]) aus dem Jahre 2010 wird diese Problematik noch verschärft. Für jedes neue Arzneimittel gilt nun die Nachweispflicht eines Zusatznutzens, der in einem vom pharmazeutischen Hersteller zu erstellenden Dossier bereits früh nach Markteinführung („frühe Nutzenbewertung“) dargelegt werden muss. Das Dossier muss spätestens mit dem Inverkehrbringen des neuen Medikaments vorliegen. Der „Zusatznutzen“ muss gegenüber einer „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ (ZVT) ermittelt werden. Das Dossier wird vom G-BA in Zusammenarbeit mit dem IQWiG beurteilt. Dieses Verfahren muss nach 6 Monaten beendet sein. Während im Rahmen der früheren Verfahren das IQWiG auf der Basis der eingereichten Studienunterlagen eigene statistische Bewertungen durchführte, wird nun die arbeitsreiche Hauptaufgabe dem pharmazeutischen Unternehmer abverlangt. Allein die Erstellung des sehr detailreichen und umfangreichen Dossiers (bis zu 90000 Seiten) ist bereits mit hohen Kosten (bis zu 1000000 Euro pro Dossier) verbunden, da unter anderem eine Fülle statistischer Analysen notwendig wird. Viel bedrohlicher ist allerdings für den pharmazeutischen Hersteller, wenn die bisherigen Phase-III-Studien, die insbesondere zur Zulassung entwickelt wurden, nicht ausreichen, um den Zusatznutzen zu belegen, da beispielsweise der G-BA eine andere zweckmäßige Vergleichstherapie verlangt, als in den Studien vorliegt, oder weil er meint, die Studien spiegeln nicht den deutschen Versorgungsstandard wider. Insgesamt ist die stattgefundene Entkopplung von Zulassung und Nutzenbewertung ein problematisches Faktum, das dringend der Korrektur im Sinne einer Harmonisierung, unter anderem im Sinne der Einbeziehung des BfArM bedarf.
Zwei Punkte sind positiv hervorzuheben. In der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vom 28. Dezember 2010 heißt es, dass der Bewertung der Feststellungen der Zulassungsbehörde über Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit durch die IQWiG/G-BA-Feststellungen nicht widersprochen werden darf. Damit soll sichergestellt werden, dass die im Rahmen der Zulassung getroffenen Feststellungen unter anderem über Wirksamkeit und Verträglichkeit prinzipiell Gültigkeit behalten. In einer am 7. Juli 2013 vom Bundesstag verabschiedeten Änderung des AMNOG wird festgelegt, dass der pharmazeutische Hersteller, entgegen früheren Festlegungen auf eine ZVT durch den G-BA, nun entscheiden kann, welche zweckmäßige Vergleichstherapie er für seine Analysen wählt, sofern der G-BA mehrere ZVTs für möglich hält. Mit dieser Regelung soll in dem schwierigen Balance-Akt zwischen der durch den G-BA vertretenen Interessen der Allgemeinheit und den Interessen der pharmazeutischen Unternehmer erreicht werden, dass der G-BA nicht nur die preisgünstigste ZVT als Vergleichsmaßstab festlegt und damit das finanzielle Anreizniveau für den pharmazeutischen Unternehmer maximal nach unten nivelliert wird. Diese Regelung gibt dem pharmazeutischen Unternehmer grundsätzlich die Möglichkeit, ein weniger niedrigpreisiges/neueres Medikament als ZVT auszuwählen, sofern dieses neben anderen vom G-BA als mögliche ZVT vorgeschlagen wird. Hier sei allerdings anzumerken, dass sich der pharmazeutische Unternehmer aus einem definierten Korb diejenige Substanz aussuchen darf, bei der er meint am besten den Zusatznutzen darstellen zu können. In den eigentlichen Preisverhandlungen spielen dann aber die vergleichbaren Substanzen der Gruppe wieder eine Rolle. Sucht sich beispielsweise der pharmazeutische Unternehmer ein hochpreisige ZVT aus einer Gruppe aus, dann kommen bei der Preisverhandlung wieder die günstigen Generikapreise der anderen Substanzen aus der Gruppe ins Spiel.
Problem der frühen Zusatznutzenbestimmung im Rahmen des AMNOG-Verfahrens
Für den Mediziner ist der Zusatznutzenbegriff, wie er in der G-BA-Verfahrensordnung verwendet wird, sehr ungebräuchlich. Deshalb sei hier die Definition kurz erwähnt: Der Nutzen eines Arzneimittels ist der patientenrelevante therapeutische Effekt, insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustandes, der Verlängerung des Überlebens, der Verringerung von Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der Lebensqualität. In analoger Weise wird der Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie definiert und dann zusätzlich hinsichtlich des Ausmaßes und der Sicherheit der Feststellung graduiert.
Hinsichtlich der Umsetzung des Zusatznutzens in einen wirtschaftlich akzeptablen Preis für den pharmazeutischen Hersteller gab es zunächst Ansätze, mathematisch-gesundheitsökonomische Modellrechnungen zugrunde zu legen, wie vom IQWiG am 19.11.2012 für die Antidepressiva-Preisbewertung vorgelegt. Dieses Modell, das von den preisgünstigsten traditionellen Antidepressiva ausgeht, hätte selbst bei beträchtlichem Zusatznutzen eines neuen Antidepressivums voraussichtlich nur geringe zusätzliche Finanzspannen möglich gemacht. Derzeit soll dieser Ansatz im Rahmen des AMNOG-Verfahrens nicht weiter verfolgt werden, sondern der Preis unter Berücksichtigung des Zusatznutzens auf dem Verhandlungsweg mit dem pharmazeutischen Unternehmer festgesetzt werden. Dieses betraf in zahlreichen AMNOG-Verfahren beispielsweise die neuen Antidiabetika, die niedrigstpreisige Vergleichstherapien bekamen und zum Teil deswegen nicht mehr im deutschen Markt verfügbar sind, da man Forschung nicht auf dem Generika-Preisniveau finanzieren kann.
Der Publikation von Ruof et al. [18] ist zu entnehmen, dass in den 27 frühen Nutzenbewertungsverfahren, die auf der G-BA-Webseite bis 2012 publiziert wurden, erhebliche Bewertungsunterschiede zwischen der IQWiG- und der G-BA-Einschätzung eines Zusatznutzens auftraten. IQWiG stellte einen Zusatznutzen in 50% der Fälle fest, G-BA bei 63%. Einer Verlautbarung des G-BA vom 12. September 2013 ist zu entnehmen, dass nur 9 von 48 der im Rahmen des AMNOG bewerteten neuen Medikamente ein beträchtlicher Zusatznutzen zugesprochen wurde. Man könnte sagen, das ist besser, als angesichts der restriktiven Ansätze des Verfahrens zu erwarten war. Man könnte allerdings auch sagen, dass möglicherweise wichtigen neuen Medikamenten vorschnell der „Todesstoß“ versetzt wurde. Manchmal erkennt man ja erst im weiteren Verlauf die besonderen Vorteile eines neuen Medikaments.
Man denke beispielsweise an die Geschichte des Antipsychotikums Clozapin, dessen besonderer Stellenwert hinsichtlich fehlender EPS-Nebenwirkungen bei trotzdem (im Gegensatz zum lange tradierten Dogma: keine antipsychotische Wirkung ohne EPS) guter antipsychotischer Wirksamkeit erst langsam im Rahmen der klinischen Erfahrung akzeptiert wurde. Noch länger dauerte es, die besondere Wirksamkeit von Clozapin bei therapieresistenter Schizophrenie festzustellen. Auch die seltene Nebenwirkung potenziell tödlicher Agranulozytosen war bei der Markteinführung noch nicht bekannt, sondern brauchte mehrerer Jahre klinischer Beobachtung, um in ihrer vollen Relevanz erkannt zu werden. Somit lagen wichtigste Aspekte für die Nutzenbewertung, wie sie heute vom AMNOG verlangt würde, bei der Markteinführung nicht vor. Ein weiteres Beispiel ist das Antipsychotikum Quetiapin. Dieses hätte bei Markteinführung kaum auf wichtige positive Aspekte hinweisen können, abgesehen von einem günstigen Nebenwirkungsprofil, insbesondere hinsichtlich EPS. Die Wirksamkeit erschien aufgrund der Phase-III-Studien eher bescheiden im Vergleich zu anderen Antipsychotika. Das Medikament wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem hypothetischen AMNOG-Verfahren gescheitert. Die langjährige klinische Erprobung und ein geschickt auf die Beobachtungen erfahrener Ärzte mit gut geplanten klinischen Studien reagierendes pharmazeutisches Unternehmen hat dann aber die großen Potenziale dieses Antipsychotikums erkennen lassen, eines Psychopharmakons, das heute zusätzlich zur Schizophrenie-Indikation in mehrerer anderen Indikationen zugelassen ist: Manie, Depression im Rahmen bipolarer Erkrankung, Erhaltungstherapie/Rezidivprophylaxe bipolarer Erkrankung, Add-on-Therapie bei unzureichender Response auf eine Antidepressiva-Therapie. Auch positive Studienergebnisse bei Angststörungen (vorrangig generalisierte Angststörung, GAS) liegen vor, wurden aber vom pharmazeutischen Unternehmer nicht bis zur Zulassungsreife weiterentwickelt.
Es ist zu befürchten, dass durch das AMNOG nicht nur eine zweite „Markthürde“ aufgebaut und damit die Einführung neuer Medikamente zusätzlich reglementiert wird, sondern dass durch die AMNOG-Verfahren darüber hinausgehend im Rahmen der Festlegungen über zweckmäßige Vergleichstherapien (einseitige) Festschreibungen über Standardtherapien erfolgen, die weit über die wesentlich offener formulierten Leitlinienempfehlungen hinausgehen. Besorgnis besteht auch, dass die medizinischen Fachgesellschaften nicht in den grundlegenden Prozess eingebunden werden, sondern allenfalls ein Anhörungsrecht für konkrete Verfahren beantragen können.
In Deutschland stehen mehrere neue Psychopharmaka zur frühen Nutzenbewertung im Rahmen des AMNOG-Verfahrens an: das Alkoholismus-Medikament Nalmefen, das Antipsychotikum Lurasidon und das Antidepressivum Vortioxetin. Im Folgenden soll Vortioxetin als Beispiel für einige inhaltliche Probleme der AMNOG-Bewertung herausgegriffen werden.
Vortioxetin – ein neu entwickeltes Antidepressivum auf dem Prüfstand im AMNOG-Verfahren
Im Mai 2014 wurde beim Kongress der American Psychiatric Association (APA) in New York das neue Antidepressivum Vortioxetin vorgestellt, das bereits in den USA eingeführt ist und inzwischen auch die Zulassung der Europäischen Arzneizulassungsbehörde (EMA) hat. Derzeit wird es in Deutschland im Rahmen des AMNOG-Verfahrens auf seinen „Zusatznutzen“ und damit hinsichtlich der Preisgestaltung analysiert.
Vortioxetin steht pharmakologisch in der Tradition der Serotonin-Hypothese. Im Gegensatz zu den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) ist die Intervention im serotonergen System vielfältiger und intensiver in dem Sinne, dass gleichzeitig mehrere Rezeptoren beeinflusst werden, was sowohl hinsichtlich der Wirksamkeit als auch der Verträglichkeit von Bedeutung ist. Neben der inhibitorischen Wirkung auf den Serotonin-(5-HT-)Transporter wirkt Vortioxetin agonistisch auf den 5-HT1A-Rezeptor und partial-agonistisch auf den 5-HT1B-Rezeptor. Obendrein ist Vortioxetin Antagonist am 5-HT3-Rezeptor, am 5-HT1D-Rezeptor und am 5-HT7-Rezeptor. In der von den verschiedenen internationalen psychopharmakologischen Fachgesellschaften (u.a. CINP, ECNP, AsCNP) neu entwickelten Nomenklatur der Psychopharmaka wird Vortioxetin als multimodales serotonerges Antidepressivum klassifiziert. Sekundär kommt es, wie Mikrodialyse-Untersuchungen zeigen, zu Veränderungen in anderen Transmitter-Systemen, beispielsweise zu einem Anstieg von Noradrenalin und Dopamin im ventralen Hippocampus und präfrontalen Kortex.
In den randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Untersuchungen zeigte Vortioxetin eine gute antidepressive Wirksamkeit mit zum Teil in den nicht-US-amerikanischen Studien höheren Placebo-Verum-Differenzen, als von anderen Antidepressiva bekannt ist [1, 2, 4, 7, 10, 11, 13]. Außerdem zeigte Vortioxetin in der Vergleichsstudie gegen Agomelatin bei Patienten, die nicht gut auf die Vorbehandlung mit Antidepressiva angesprochen hatten, Überlegenheit in der Wirksamkeit [17]. Erste Ergebnisse, dass Vortioxetin eine bessere Wirksamkeit auf kognitive Störungen im Rahmen der Depression hat [12], konnten inzwischen durch eine speziell auf kognitive Störungen fokussierende Studie bestätigt werden [14]. Weitere Studien zur Testung dieser Hypothese laufen.
Hinsichtlich der Nebenwirkungen ist besonders Nausea erwähnenswert, eine für ein Antidepressivum mit serotonergem Wirkungsmechanismus zu erwartende Nebenwirkung. Andere serotonerge Nebenwirkungen sind vergleichsweise gering. Der starke „serotonerge push“ von Vortioxetin, der dessen gute Wirksamkeit erklärt, kann offenbar hinsichtlich der Nebenwirkung Nausea nicht völlig durch den 5-HT3-Rezeptor-Antagonismus abgeblockt werden.
Zusammengefasst ist Vortioxetin ein interessantes neues Antidepressivum mit starker antidepressiver Wirksamkeit und einem speziellen Fokus auf kognitive Störungen im Rahmen der Depression, das hoffentlich auch bald in Deutschland verfügbar ist.
In dem Zusammenhang interessiert die Frage, ob sich die innovativen Aspekte des neuen Antidepressivums Vortioxetin im AMNOG-Verfahren darstellen lassen oder ob dies wegen der festgelegten Struktur und Kriteriologie dieses Verfahrens unmöglich ist.
Die Depression hat eine vielgestaltige Symptomatik, die bei dem einzelnen Patienten in sehr unterschiedlicher Weise ausgeprägt sein kann. Neben der depressiven Kernsymptomatik gibt es akzessorische Symptomatiken, wie beispielsweise kognitive Störungen, die oft auch nach der Remission noch bestehen bleiben können und den Patienten belasten und in seiner psychosozialen Funktionsfähigkeit beeinflussen können. Bisher gibt es kein Antidepressivum, das in diesem syndromalen Bereich der Depression eine spezielle Zulassung hat bzw. eine entsprechende Erwähnung in der von der EMA genehmigten Produktinformationen (Summary of product characteristics, SPC) aufweisen kann.
Ein so relevanter Therapie-Aspekt sollte aber im AMNOG-Verfahren nicht unter den Tisch fallen, sondern als möglicher Nutzen bzw. Zusatznutzen analysiert und gegebenenfalls bestätigt werden. Es ist eine grundsätzliche Frage, ob ein SSRI eine unter diesem Aspekt richtige Vergleichssubstanz ist, da alle SSRI, ebenso wie ältere Antidepressiva, keine Wirksamkeit/keinen Nutzen auf dem Gebiet Kognition zeigen konnten. Zu prüfen wäre, ob Agomelatin eine unter diesem Aspekt bessere Vergleichssubstanz wäre. Auch in Hinblick auf die Frage einer Wirksamkeitsüberlegenheit wäre Agomelatin, für das durch eine kürzlich publizierte Metaanalyse [19] eine mit anderen Antidepressiva vergleichbare Wirksamkeit nahegelegt wurde, wegen der vorhandenen Vergleichsstudie mit Vortioxetin eine interessante Option.
Eine solche Einbeziehung neuer Aspekte in die Zusatznutzen-Analyse öffnet das Betrachtungsfeld in eine zukunftsorientierte Richtung. Es macht keinen Sinn, immer nur bei den tradierten Dimensionen stehenzubleiben, wenn man wirklich Innovationen fördern will. Diese sind, wie dargestellt, in vieler Hinsicht dringend erforderlich, um die Situation der betroffenen Patienten zu verbessern. Dabei kann man, wie die Geschichte der Psychopharmakologie zeigt, nicht nur auf Sprunginnovationen schauen, sondern muss den mühseligen Weg der schleichenden Innovation als das Normale der Veränderung in die richtige Richtung ansehen. Wesentliche Verbesserungen, beispielsweise für einen bestimmten Bereich der Symptomatik einer Erkrankung, der bisher nicht ausreichend behandelbar war, kann dabei als ein wichtiger Fortschritt, gegebenenfalls sogar als Sprunginnovation angesehen werden. Nur bei einer solchen wertschätzenden Betrachtung gegebenenfalls zunächst nur als kleine Fortschritte angesehenen Verbesserungen kann auch die Motivation der pharmazeutischen Unternehmer gestärkt werden, neue Psychopharmaka zu entwickeln und ein Klima herzustellen, in dem pharmazeutische Unternehmer insgesamt wieder mehr auf die Psychopharmakologie setzen.
Interessenskonflikte
HJM hat von Astra-Zeneca, Eli Lilly, Janssen, Lundbeck, Pfizer, Schwabe, Servier, Otsuka und Takeda Honorare für Vortrags- und Beratertätigkeiten oder Forschungsgelder erhalten.
Er war Präsident oder Vorstandsmitglied der CINP, ECNP, WFSBP und EPA und Vorsitzender der WPA-Sektion zur Pharmakopsychiatrie.
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Prof. Dr.med. Hans-Jürgen Möller, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: hans-juergen.moeller@med.uni-muenchen.de
Assessment of added value: Problems for the development/market placement of new pharmaceuticals prescribable within the framework of the statutory health insurance system
Problems of the early assessment of the added value of drugs (AMNOG procedure) are presented and explained with the example of the new antidepressant vortioxetine. Because of previous experiences with the AMNOG assessment of other drugs, there is some concern that important new drugs will be prematurely excluded from further development. This risk is particularly high for psychopharmaceuticals, because of the special features of efficacy assessment.
Key words: Added value, early benefit assessment, AMNOG procedure, psychopharmaceuticals, vortioxetine
Psychopharmakotherapie 2015; 22(01)