Komedikation/Polypharmazie in der Psychiatrie


Prof. Dr. Max Schmauß, Augsburg

„You’ve heard about the two certainties in life: death and taxes. In psychiatric practice with complex and chronic patients, there is a third certainty: polypharmacy.“ (Henry Nasrallah 2011)

Die Einführung stimmungsstabilisierender, antipsychotischer und antidepressiver Pharmaka hat die Psychiatrie seit Mitte des 20. Jahrhunderts revolutioniert. Nahezu alle der derzeit gültigen Therapiestandards empfehlen in der Behandlung psychischer Erkrankungen dabei nachdrücklich eine Monotherapie mit den zur Verfügung stehenden Substanzen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Therapiestandards bzw. Leitlinien in exemplarischer Weise die Behandlung einer streng definierten Erkrankungsentität darstellen sollen und eine modellhafte Behandlungsstrategie empfehlen. Sie sind deshalb auch häufig auf die in relativ homogenen Patientenpopulationen gewonnenen Untersuchungsergebnisse zurückzuführen. Für Psychopharmaka sind hier die vorgegebenen Standards nach Möglichkeit Plazebo-kontrollierte randomisierte Studien (RCTs), um in einem statistisch kontrollierbaren Setting valide Aussagen treffen zu können. In der Konsequenz wird aber das so gewonnene Ergebnis für viele Patienten beispielsweise mit Therapieresistenz, Multimorbidität oder intolerablen unerwünschten Arzneimittelwirkungen eingeschränkt sein, da dadurch veränderte Behandlungsbedingungen entstehen können. Zudem sind wir auch immer mehr mit den Grenzen der Psychopharmaka wie beispielsweise verzögertem Wirkeintritt, unzureichender Wirksamkeit und Verträglichkeitsproblemen konfrontiert.

In der klinischen Praxis spielt deshalb die Komedikation bzw. Polypharmazie eine wichtige Rolle. Trotz vieler kritischer Bewertungen und Warnungen ist die Polypharmazie schwer zu begrenzen und nicht selten eher die Regel denn die Ausnahme. Auch ist darauf zu verweisen, dass in der Allgemeinmedizin beispielsweise bei der Behandlung der Hypertonie und des Diabetes mellitus meist polypharmazeutische Behandlungsstrategien zum Einsatz kommen.

In der Psychiatrie werden in der klinischen Praxis je nach Krankheitsbild Kombinations- oder Augmentationsbehandlungen als polypharmazeutische Behandlungsoptionen durchgeführt. Eine international konsentierte Definition existiert bislang nicht, im Allgemeinen wird jedoch unter einer Kombination die gleichzeitige Verordnung von zwei oder mehreren Psychopharmaka derselben Kategorie und unter Augmentation die simultane Verordnung eines Psychopharmakons mit einem oder mehreren Psychopharmaka einer anderen Kategorie subsumiert.

Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von kontrollierten Studien zur Wirksamkeit von Kombinations- und Augmentationsstrategien in der Behandlung wichtiger psychischer Erkrankungen durchgeführt wurden, sind die klinische Praxis und wissenschaftliche Evidenz zum Teil noch sehr widersprüchlich.

Im vorliegenden Heft geben zunächst Möller et al. einen Überblick zu Geschichte, Hintergründen, Konzepten und gegenwärtiger Anwendung der Polypharmazie in der Psychiatrie. Schmauß und Messer fassen dann die häufigsten Kombinations- und Augmentationsstrategien in der Behandlung depressiver Störungen zusammen. Anschließend präsentieren Messer und Schmauß eine Übersicht zu den wichtigsten polypharmazeutischen Behandlungsstrategien in der Behandlung der Schizophrenie. Schäfer stellt im Weiteren die umfangreiche Datenlage zu Komedikation und Polypharmazie in der Behandlung der bipolaren Störungen dar. Last but not least beleuchten Hiemke und Eckermann in ihrem Beitrag die wichtigsten Interaktionen von Psychopharmaka, die bei allen polypharmazeutischen Behandlungsstrategien besonders zu berücksichtigen sind.

Die fünf Beiträge in diesem Schwerpunktheft zum Thema Komedikation/Polypharmazie in der Psychiatrie sollen Nutzen und Risiken dieser Therapiestrategien in der Psychiatrie aufzeigen und dazu beitragen, die Behandlungsmöglichkeiten komplexer und therapieresistenter Patienten zu optimieren.

Psychopharmakotherapie 2014; 21(06)