Harninkontinenz unter dem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Sertralin


Eine unerwünschte Arzneimittelwirkung mit Reexposition

Kristina Zohles, Dorothea Andreae, Teupitz, Renate Grohmann, München, und Stefan Kropp, Teupitz

Eine 41-jährige Patientin entwickelte bei Erhöhung einer antidepressiven Medikation mit dem SSRI Sertralin von 100 mg auf 150 mg bei einer rezidivierenden depressiven Episode eine sehr störende Urininkontinenz. Komorbide Diagnosen schlossen eine Alkoholabhängigkeit, polyvalente Substanzabhängigkeit sowie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ein. Die Urininkontinenz sistierte bei Absetzen des Sertralin vollkommen und trat bei Reexposition in gleichem Maße wieder auf. Eine unerwünschte Arzneimittelwirkung wurde innerhalb des AMSP-Projekts (AMSP e.V.) diskutiert und als wahrscheinliche Arzneimittelnebenwirkung klassifiziert.
Schlüsselwörter: Unerwünschte Arzneimittelwirkung, SSRI, Sertralin, Harninkontinenz, rezidivierende depressive Episode, AMSP
Psychopharmakotherapie 2014;21:283–4.

Fallvignette

Die 41-jährige Patientin wandte sich erstmalig im Dezember 2012 an unsere Klinik. Sie litt in dieser Zeit unter einer schweren depressiven Episode, berichtete uns, bereits seit dem 16. Lebensjahr in ambulanter, aber auch stationärer Behandlung gewesen zu sein. Die Patientin leidet unter einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline-Typ), einer Alkoholabhängigkeit, einer Polytoxikomanie (Cocain, LSD, Amphetamine, Ecstasy, Cannabis, psychogene Pilze) sowie einer rezidivierend depressiven Störung und einer Agoraphobie. Im Verlauf der Jahre habe sie mindestens sechs Suizidversuche unternommen, vorrangig mittels Arzneimittelintoxikationen.

Somatisch waren eine Adipositas (100 kg bei 1,80 m – BMI 31), ein Tinnitus sowie eine Penicillinallergie bekannt. Eine internistische Komedikation war nicht vorhanden.

Zur Verbesserung der Stimmungslage habe sie seit 2005 den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Sertralin 100 mg pro Tag eingenommen. Beeinträchtigende Nebenwirkungen seien nicht aufgetreten, jedoch habe der Versuch, die Dosierung zu verringern, zu massiven Stimmungsschwankungen und Depressivität geführt. Wir entschlossen uns gemeinsam mit der Patientin zu einer Dosiserhöhung auf 150 mg pro Tag. In diesem ersten stationären Aufenthalt vom 12/2012 bis 1/2013 wurde zusätzlich aufgrund von Einschlafstörungen 50 mg Promethazin pro Nacht passager angesetzt. EKG-Veränderungen wurden nicht gesehen. Zur Behandlung ihres Tinnitus erhielt die Patientin in dieser Zeit eine Woche Prednisolon 50 mg pro Tag in absteigender Dosierung sowie 20 mg Pantoprazol zum Magenschutz, allerdings ohne Erfolg. Nach Verbesserung der akuten depressiven Episode nutzte die Patientin die Möglichkeit einer weiteren ambulanten Behandlung in der Psychiatrischen Institutsambulanz.

Etwa vier Wochen nach der Entlassung kam es zur Ausbildung einer massiv störenden Harninkontinenz. Die Patientin berichtete, 15- bis 20-mal pro Tag Wasser lassen zu müssen. Sie sei im März 2013 beim Urologen gewesen, eine Zystoskopie wurde durchgeführt, es wurde jedoch keine organische Ursache der Inkontinenz festgestellt. Der Urologe formulierte die Vermutung, dass es sich bei der Inkontinenz um eine Nebenwirkung von Sertralin handeln könnte. Eine gynäkologische Vorstellung sei im August 2013 erfolgt. Auch hierbei sei keine organische Ursache festgestellt worden. Aufgrund des Leidensdrucks der Patientin stellten wir innerhalb der ambulanten Behandlung von Sertralin auf Duloxetin (zunächst 30 mg, dann 60 mg/Tag) um. Hierunter sei es zum Sistieren der Inkontinenz gekommen, jedoch entwickelte sich eine massive Verschlechterung der Stimmungsschwankungen und der depressiven Stimmungslage mit aggressiven Impulsdurchbrüchen sowie der Ausbildung peripherer Ödeme. Die Patientin setzte daraufhin Duloxetin ab. Im darauffolgenden ambulanten Termin vereinbarten wir mit der Patientin, Sertralin (Steigerung auf 150 mg/Tag) wieder einzunehmen. Nun beklagte die Patientin jedoch wieder eine sich verschlimmernde Harninkontinenz. Außerdem berichtete sie uns in diesem Rahmen, dass sie seit zwei Jahren Mirtazapin 15 mg/Nacht bei Schlafstörungen unregelmäßig einnehme. Hierunter war es jedoch in der Vergangenheit zu einer Gewichtszunahme gekommen.

Die zweite stationäre Aufnahme erfolgte 9/2013 zur Behandlung eines Alkoholentzugssyndroms und einer mittelgradigen depressiven Episode. Zunächst wurde das Entzugssyndrom mit Diazepam in absteigender Dosierung behandelt. Die Patientin berichtete über das Fortbestehen der Harninkontinenz seit August. Mehrfach durchgeführte Untersuchungen bezüglich einer eventuellen Harnwegsinfektion verliefen durchweg negativ. Sie benötigte mehrfach täglich Inkontinenzmaterial. Wir setzten Sertralin 150 mg/Tag schrittweise ab, dosierten gleichzeitig Venlafaxin retard 150 mg/Tag ein. Es kam bereits nach drei Tagen zum Sistieren der Inkontinenz, der Harndrang war weiterhin vorhanden, jedoch in deutlich geringerem Ausmaß. Unter Venlafaxin kam es nicht zu unerwünschten Nebenwirkungen. Eine von der Patientin als ähnlich ausreichend empfundene antidepressive Wirkung des Venlafaxin bestärkte uns zur weiteren Verordnung. Die Harninkontinenz wurde von der Patientin in der Folge nicht mehr beklagt.

Diskussion

Sertralin ist ein nicht sedierender, seit vielen Jahren bewährter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemer, welcher die Hemmung am präsynaptischen Neuron mit resultierender vermehrter Stimulation postsynaptischer Serotonin-Rezeptoren bedingt. Aus diesem Wirkungsmechanismus heraus ergibt sich die pharmakologische Wirkung, welche sich zunutze gemacht wird, um ein breites Spektrum psychiatrischer Erkrankungen zu behandeln. Eine mögliche Indikation zur Verordnung von Sertralin besteht unter anderem bei Episoden einer Major Depression sowie zur Rezidivprophylaxe, Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie, Zwangsstörung, posttraumatischen Belastungsstörung sowie bei der sozialen Angststörung. Die Verträglichkeit wird insgesamt als sehr gut bezeichnet [1].

Häufige Nebenwirkungen können im klinischen Alltag unter anderem in Form von Schwindel, Übelkeit, Hyperhidrosis und Schlaflosigkeit gesehen werden. Seltener werden Nebenwirkungen auf den Urogenitaltrakt beschrieben. Trotz allem ist das Syndrom der inadäquaten ADH(Antidiuretisches Hormon)-Sekretion insbesondere bei älteren Patienten bekannt, ebenso wie Pollakisurie und Nykturie. Einzelfälle vom Auftreten einer Harninkontinenz unter Sertralin und Paroxetin, aber auch unter Venlafaxin sind beschrieben [2]. Der Mechanismus, wie es zu dieser Nebenwirkung kommt, ist nicht geklärt. Votolato et al. diskutieren in ihrem Einzelfallbericht, dass die Inkontinenz durch den 5-HT4-Rezeptor vermittelt sein könnte [4]. Dieser Gs-Protein-gekoppelte 5-HT4-Rezeptor befindet sich hauptsächlich im Gastrointestinaltrakt sowie am Herzen und reguliert die Ausschüttung von Acetylcholin.

Die Autoren einer retrospektiven Verlaufsbeobachtung aus 2002 untersuchten das Auftreten einer Harninkontinenz bei 13531 Menschen, die zwischen 1994 und 1998 in acht holländischen Städten erstmalig einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erhalten hatten. Die Rate für das Auftreten der genannten Nebenwirkung im Vergleich zur Kontrollgruppe betrug 1,75 (95%-Konfidenzintervall [KI] 1,56–1,97). Es betraf insbesondere ältere Menschen; in der Studie 60 Fälle auf 1000 Patienten pro Jahr. Zudem bestand ein erhöhtes relatives Risiko für die Harninkontinenz bei Neueinnahme eines SSRI in der Untersuchungsgruppe von 1,61 (95%-KI 1,42–1,8), bei der Einnahme von Sertralin ergab sich sogar ein erhöhtes Risiko von 2,76 (95%-KI 1,47–5,21). Etwa 15 von 1000 Patienten, die pro Jahr mit einem SSRI behandelt wurden, entwickelten laut Studie eine Harninkontinenz [3].

Im oben berichteten Fall lag offenbar eine Dosisabhängigkeit vor, bei 100 mg lag keine Inkontinenz vor, jedoch unter 150 mg. Wegen des zeitlichen Zusammenhangs der Harninkontinenz mit der Einnahme von 150 mg Sertralin – auch bei Reexposition – schätzten wir das Geschehen als W2 – wahrscheinliche unerwünschte Arzneimittelwirkung – ein.

Insgesamt ist zu beachten, dass diese für uns neuartige Nebenwirkung Auswirkungen auf die Compliance der Patienten haben kann. Außerdem sollte man insbesondere bei älteren Patienten, welche Sertralin erhalten, die häufig komorbid vorhandene Harninkontinenz aus einem anderen Blickwinkel betrachten und die verordnete Medikation kritisch auf unerwünschte Wirkungen hinterfragen.

Urinary incontinence during therapy with selective serotonin reuptake inhibitor sertraline: an adverse side effect with rechallenge

A 41 year old female patient developed during antidepressive therapy with selective serotonin reuptake inhibitor sertraline an extremely disturbing urinary incontinence when the dose was increased from 100 mg to 150 mg. The medication was given because of a recurrent depressive disorder. The patient suffered also from alcohol dependence, polysubstance abuse and borderline personality disorder. After discontinuation of selective serotonin inhibitor the urinary incontinence disappeared completely and occurred again after rechallenge. An adverse side effect was supposed and discussed within the project Drug Safety in Psychiatry (AMSP) e.V.

Key words: Adverse drug reaction, SSRI, sertraline, urinary incontinence, recurrent depressive disorder, Drug Safety in Psychiatry (AMSP)

Literatur

1. Benkert O, Hippius H. Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 9. Auflage. Berlin: Springer Medizin Verlag, 2013.

2. Fachinformation Zoloft, August 2014.

3. Movig KL, Leufkens HG, Belitser SV, Lenderink AW, et al. Selective serotonin reuptake inhibitor-induced urinary incontinence. Pharmacoepidemio Drug Saf 2002;11:271–9.

4. Votolato NA, Stern S, Caputo RM. Serotonergic antidepressants and urinary incontinence. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2000;11:386–8.


Prof. Dr. Stefan Kropp, Kristina Zohles, Dr. med. Dorothea Andreae, Asklepios Fachklinikum Teupitz, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Buchholzer Straße 21, 15755 Teupitz, E-Mail: s.kropp@asklepios.com

Dr. med. Renate Grohmann, Klinik für Psychiatrie der LMU München, Nussbaumstraße 7, 80336 München

Psychopharmakotherapie 2014; 21(06)