Psychopharmaka-Verordnungen: Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungs-Report 2012*


Jürgen Fritze, Pulheim

Der Arzneiverordnungs-Report (AVR) ist wie jedes Jahr willkommene Quelle pharmakoepidemiologischer Erkenntnis, die hier – wie in jedem Jahr – wieder für neurologische und psychiatrische Indikationen genutzt wird. Die Analysen gehen über den AVR hinaus, indem dessen Daten zusätzlichen Auswertungen unterzogen und auch diesmal wieder zusätzlich Daten der GKV-Arzneimittelschnellinformation (GAmSi) beigezogen werden, die einen regionalen Bezug, zumindest auf Ebene der Bundesländer, erlauben. Die Analysen ermöglichen dem einzelnen Arzt, die Rationalität seines Verordnungsverhaltens gegenüber der Gesamtheit zu „benchmarken“. Das ist ein – bescheidener – Beitrag zur ansonsten bisher weitgehend fehlenden systematischen Qualitätssicherung der Pharmakotherapie in diesen Fachgebieten.
Schlüsselwörter: Psychopharmaka, Pharmakoepidemiologie
Psychopharmakotherapie 2013;20:67–81.

Nicht überraschend bleibt auch der jüngste Arzneiverordnungs-Report bei seiner Kritik an der klinischen Relevanz der Wirksamkeit von Psychopharmaka, hier insbesondere der modernen Antidepressiva, und der Kritik am Zusatznutzen der modernen Neuroleptika:

Zitat (S. 835–836) bezüglich der Antidepressiva: „Die seit vielen Jahren ungebrochene Zunahme der Verordnungen von Antidepressiva war auch im Jahr 2011 wieder zu beobachten …Freilich dürfte die auf allen Ebenen der Beeinflussung arbeitende Werbestrategie der Hersteller auch eine bedeutsame Rolle spielen… Dadurch wird die zumindest statistisch fehlende Wirksamkeit von Antidepressiva bei verschiedenen Indikationen verdunkelt. So wirken Antidepressiva bei milder Depression, bei Depression im Rahmen einer Alzheimer-Demenz oder einer Parkinson-Krankheit nicht besser als Plazebo. Die Frage muss gestellt und untersucht werden: Wer bekommt diese Medikamente von wem verordnet und mit welcher Indikation?“

Zitat (S. 854) bezüglich der Antipsychotika: „Aber auch ein schizophrener Patient benötigt keineswegs immer eine neuroleptische Therapie. Auf diesem Hintergrund ist bemerkenswert, wie restriktiv und vorsichtig sich die Leitlinie des NICE zur adäquaten Verordnung von Neuroleptika äußert und welch hoher Stellenwert psychotherapeutischen Strategien bei der Schizophrenie zugemessen wird. Darauf hat die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (2009) ebenfalls hingewiesen.“

Neue Argumente werden nicht geliefert, weshalb im Wesentlichen auf frühere Kommentare [5–7] verwiesen werden kann. Der AVR wird bei gesundheitspolitischen Entscheidern wahrgenommen, hat Wirkungen gezeitigt und wird Wirkungen zeitigen.

Zur berechtigten Frage „Wer bekommt diese Medikamente von wem verordnet und mit welcher Indikation“ liefern weder die Daten des Reports noch GAmSi tiefergehende Erkenntnisse. Zur Frage nach der Indikation kann dies nur durch die grundsätzlich mögliche Zusammenführung der Verordnungsdaten mit den Abrechnungsdaten (zu denen die ICD[International classification of diseases]-Codes gehören) bei den einzelnen Krankenkassen gelingen, was derzeit beispielhaft in einem von der Bundesärztekammer geförderten Projekt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit der DAK, KKH-Allianz, hkk, dem Verband der Ersatzkassen (VdEK) und der Deutschen Rentenversicherung Bund betrieben wird [9].

Zur Frage, welche Fachgebiete („von wem“) welche Neuropsychopharmaka verordnen, enthält der AVR immerhin – wenn auch leider auf Ebene der ATC(Anatomical therapeutic chemical)-Gruppen aggregierte – tabellarische Daten (DDD [Defined daily Dose] je Arzt), die dieser Kommentar mit Bevölkerungsbezug aufbereitet.

Datentransparenz

Entsprechend langjährigen Forderungen der DGPPN nach Transparenz der Versorgungsbedarfe (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland [DEGS] des Robert-Koch-Instituts einschließlich der Zusatzuntersuchung psychische Gesundheit [DEGS-MHS]) und – hier relevant – der tatsächlichen Versorgung hat der Bundestag am 1. Dezember 2011 im Kontext des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes §§303a ff. SGB V (Datentransparenz) eine grundlegende Verbesserung beschlossen: Das Bundesversicherungsamt übermittelt jährlich die pseudonymisierten Daten für die Durchführung des Risikostrukturausgleichs an eine Datenaufbereitungsstelle. Gemäß Datentransparenzverordnung nach §303a(1) SGB V vom 12. September 2012 nimmt das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) die Aufgaben der Datenaufbereitungsstelle nach §303d SGB V (und der Vertrauensstelle nach §303c SGB V) wahr. Die Daten können nach §303e SGB V genutzt werden unter anderem von „den Hochschulen und sonstigen Einrichtungen mit der Aufgabe unabhängiger wissenschaftlicher Forschung, sofern die Daten wissenschaftlichen Vorhaben dienen“. Hier ergibt sich also berechtigte Hoffnung auf Erkenntnisgewinn, dessen Bedarf der AVR bisher nicht decken konnte. Dabei muss sich allerdings noch erweisen, ob die Validität der Daten ausreicht. Immerhin aber reicht die Validität ja sogar für die Zuweisung der Mittel aus dem Gesundheitsfonds an die gesetzlichen Krankenkassen aus.

Entwicklung des Arzneimittelmarkts

Die Ausgaben der GKV für Arzneimittel sind 2011 gegenüber 2010 um 4% auf 30,87 Mrd. Euro gesunken, die Brutto-Ausgaben für die im AVR detailliert untersuchten Fertigarzneimittel sind mit 29,7 Mrd. Euro stabil geblieben, während die Nettoausgaben dank gesetzgeberischer Interventionen (u.a. vorübergehende Anhebung der gesetzlichen Zwangsrabatte von 6% auf 16%) um 3,2% auf 26,3 Mrd. Euro gesunken sind. Die nach §130 Abs. 8 SGB V vereinbarten Rabatte der einzelnen gesetzlichen Krankenkassen oder ihrer Verbände kann der AVR nicht berücksichtigen, da sie der Geheimhaltung wie bei privatrechtlichen Verträgen unterliegen. Die Psychopharmaka, also gemäß ATC Psychoanaleptika (Antidepressiva, Psychostimulanzien, Antidementiva) und Psycholeptika (Antipsychotika, Lithium, Anxiolytika, Hypnotika), liegen mit einem Anteil an den verordneten Tagesdosen (DDD) von 5,6% (2010: 5,5%) nach den Herz-Kreislauf-Mitteln (40,7%; Angiotensinhemmstoffe, Antihypertonika, Betarezeptorenblocker, Calciumantagonisten, Diuretika, Herztherapeutika) und Ulkustherapeutika (7,4%) auf Rang 3 der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen und mit einem Umsatzanteil von 8,6% (2010: 8,7%) nach den Herz-Kreislauf-Mitteln (13,7%, 2010: 13,8%) auf Rang 2. Antiepileptika hatten 2011 einen Anteil an den Verordnungen (DDD) von 0,9% (Umsatzanteil 2,9%), die Parkinsonmittel 0,4% (Umsatzanteil 1,8%), die Muskelrelaxanzien beachtliche 0,3% (Umsatzanteil 0,5%).

Neue Neuropsychopharmaka

Unter den 23 im Jahre 2011 neu zugelassenen Wirkstoffen finden sich ein Psychopharmakon – Dexamfetamin (Attentin®) – und vier Wirkstoffe mit neurologischen Indikationen – Fampridin (Fampyra®), Fingolimod (Gilenya®), Nabiximols (Cannabis-Extrakt, Sativex®) und Retigabin (Trobalt®).

Der AVR hält daran fest, die Bewertungen von Prof. Fricke zu übernehmen. Im Vergleich zu diesen liegt der seit 1. Januar 2011 wirksamen sogenannten frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach §35a SGB V ein hoher methodischer Standard zugrunde. Sie wird ebenfalls im AVR (ohne zu kommentieren) veröffentlicht, somit erübrigt sich eine inhaltliche Analyse der Bewertungen des AVR. An dieser Stelle sich andererseits mit den Nutzenbewertungen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) oder gar den – davon gelegentlich abweichenden – Nutzenbewertungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) auseinandersetzen zu wollen, wäre unangemessen.

Das Psychostimulans Dexamfetamin (Attentin®) ist zugelassen zur Anwendung bei „therapierefraktärer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die auf eine ausreichend lange Behandlung mit Methylphenidat und Atomoxetin in maximaler und verträglicher Dosis nicht ansprach, bei Kindern und Jugendlichen ab sechs Jahren“. Da es sich um einen seit Jahrzehnten bekannten Wirkstoff – bisher als Rezeptur verfügbar – handelt, unterliegt Dexamfetamin nicht der Pflicht zur frühen Nutzenbewertung. Die Einschränkung auf therapierefraktäre ADHS beruht vermutlich auf Bedenken des Amtes zur Sicherheit, denn zu Dexamfetamin liegen in dieser spezifischen Indikation keine Studien vor.

Der Kaliumkanalblocker Fampridin (Fampyra®) ist zugelassen zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit multipler Sklerose (MS) mit Gehbehinderung (EDSS 4–7 [Expanded disability status scale]). Die Zulassung basiert auf Responderanalysen, wobei Response sinngemäß als anhaltende Erhöhung der maximalen Gehgeschwindigkeit operationalisiert wurde. Die europäische Zulassungsbehörde (EMA) hat die Zulassung mit der Auflage verbunden, bis Juni 2016 eine „doppelblinde, Plazebo-kontrollierte, Langzeit-Wirksamkeits- und Sicherheitsstudie zur Untersuchung eines breiteren primären Endpunkts“ durchzuführen und zu berichten, „der klinisch bedeutsam im Hinblick auf die Gehfähigkeit ist, und zur weiteren Beurteilung der Früherkennung von Respondern, um eine weitere Behandlung zu steuern“. Der G-BA hat im Vergleich zur Standardtherapie (Krankengymnastik und Spasmolytika) keinen Zusatznutzen erkannt, weil zu dieser sogenannten zweckmäßigen Vergleichstherapie keine Studien durchgeführt wurden (nur gegen Plazebo). Der Wirkstoff ist seit über 100 Jahren bekannt; er war der Nutzenbewertung zu unterziehen, weil es sich um eine neue Indikation handelt. Die Preisforderung des Herstellers erscheint ebenso fragwürdig wie die klinische Relevanz der erzielten Erhöhung der Gehgeschwindigkeit.

Fingolimod (Gilenya®) wird als Prodrug durch Sphingosin-Kinase-2 zu Fingolimod-Phosphat als aktivem Wirkstoff phosphoryliert. Der Fingolimod-Phosphat-S1P-Rezeptorkomplex wird von den Zellen internalisiert, sodass die Rezeptoren nicht der Bindung von Sphingosin-1-Phosphat zur Verfügung stehen. Dadurch werden T-Lymphozyten im Thymus und B-Lymphozyten in den Lymphknoten sequestriert, erkennbar an einem Abfall der Lymphozytenzahl im peripheren Blut auf etwa 30%. Der Wirkungsmechanismus ist innovativ und erlaubt – abgesehen von Azathioprin – erstmals eine orale Therapie der multiplen Sklerose. Der Zulassung lagen zwei Studien gegen Plazebo zugrunde, wovon nur eine mit der zugelassenen Dosis von 0,5 mg/Tag durchgeführt wurde. In einer weiteren Studie (TRANSFORMS) fand ein Vergleich mit Interferon beta-1a (IFN-β1a) statt. Das in der Zulassung (bzw. Fachinformation) komplex formulierte Anwendungsgebiet (Beschränkung auf Patienten mit hoher Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit einem Beta-Interferon oder Patienten mit rasch fortschreitender schwerer schubförmig-remittierend verlaufender multipler Sklerose) ergibt sich nicht aus den Ein- und Ausschlusskriterien und sonstigem Design der Zulassungsstudien, sondern aus der Absicht der europäischen Behörde (EMA), aufgrund von Befürchtungen, insbesondere bezüglich der kardialen Arzneimittelsicherheit (Herzrhythmusstörungen), einer zu breiten Anwendung vorbeugen zu wollen. In den Zulassungsstudien waren die Patienten nicht entsprechend der Formulierung des Anwendungsgebiets selektiert worden. Dessen Formulierung führte dazu, dass der frühen Nutzenbewertung abhängig vom Teilanwendungsgebiet zwei unterschiedliche zweckmäßige Vergleichstherapien (Glatirameracetat bzw. IFN-β1a) zugrunde gelegt wurden. Nur für eines (rasch fortschreitende schwere schubförmige MS [Relapsing-remitting-MS, RRMS]) der drei Teilanwendungsgebiete ließen sich aus einer Subpopulation der TRANSFORMS-Studie Daten ableiten, die – nur für dieses Teilanwendungsgebiet – einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen von Fingolimod im Vergleich zu IFN-β lieferten. Wie für Fingolimod als Modell antizipiert [8], „sind zur Identifikation der zweckmäßigen Vergleichstherapie zunächst die Formulierungen der zugelassenen Indikationen sorgfältig zu prüfen“ – heute wissen wir, wie sorgfältig und auch bei der Formulierung durch die Zulassungsbehörde.

Nabiximols (Sativex®) ist anzuwenden „als Zusatzbehandlung für eine Verbesserung von Symptomen bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von multipler Sklerose (MS), die nicht angemessen auf eine andere antispastische Arzneimitteltherapie angesprochen haben und die eine klinisch erhebliche Verbesserung von mit der Spastik verbundenen Symptomen während eines Anfangstherapieversuchs aufzeigen“. Diesem zugelassenen Anwendungsgebiet zugrunde liegt eine Plazebo-kontrollierte Studie mit entsprechendem Design (nachdem einige andere Studien ohne diese Vorselektion der Patienten keine Überlegenheit gegen Plazebo gezeigt hatten). Der G-BA hat einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen erkannt.

Das Antiepileptikum Retigabin (Trobalt®) wurde vom Hersteller 2012 aus dem Vertrieb genommen, nachdem die Nutzenbewertung nach §35a SGB V keinen Zusatznutzen erkennen konnte.

Die Ergebnisse der Nutzenbewertung sind Grundlage der Preisverhandlungen nach §130b SGB V zwischen GKV-Spitzenverband und pharmazeutischem Unternehmen.

Generika

Generika haben inzwischen im Gesamtmarkt einen Verordnungsanteil von 72,9% (2010: 71,1%) mit einem Umsatzanteil von 35,3% (2010: 34,7%) erreicht. Im generikafähigen Markt ist der Verordnungsanteil der Generika auf 86,8% (2010: 86,2%) gestiegen, der Umsatzanteil auf 72,6% (2010: 75,3%) gesunken. Für die generikafähigen Neuropsychopharmaka liegen die Generika-Anteile an den Verordnungen laut Liste des Arzneiverordnungs-Reports bei 90%, die entsprechenden Umsatzanteile erwartungsgemäß etwas niedriger. Leider ist ein Bezug zu den DDD nicht gegeben, sodass sich keine sinnvoll aggregierten Gesamtzahlen für die Neuropsychopharmaka ableiten lassen. Soweit dem Report zu entnehmen, sind Einsparungen der GKV aus den Rabattverträgen nach §130a SGB V nicht berücksichtigt. Der Apotheker ist verpflichtet, das rabattierte Arzneimittel abzugeben, wenn der Arzt aut idem nicht ausgeschlossen hat oder der GKV-Versicherte von seinem mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) in §129 Absatz 1 SGB V eingeräumten Recht Gebrauch macht, bei Verordnung eines Generikums ad hoc Kostenerstattung zu wählen, um das Fertigarzneimittel seiner Wahl zu erhalten. Die GKV hat laut AVR aus Rabattverträgen im Jahr 2011 Einsparungen in Höhe von 1634 Mio. Euro (2010: 1309 Mio. Euro) erzielt. Es ist nicht zu ermitteln, welche Anteile davon auf Neuropsychopharmaka entfallen.

Verordnungsspektren

Antidepressiva

Die verordneten Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva haben von 2010 auf 2011 erneut – um 6,9% – zugenommen. Die Umsätze sind um 15,6% gesunken. Die Zunahme weicht vom allgemeinen Trend des Gesamtmarkts (DDD +1,3%, Bruttoumsatz stabil) ab (Abb. 1), was auf einen weiteren Rückgang der Unterbehandlung hinweist. Da dem Report kein Indikationsbezug möglich ist und der Umfang des Off-Label-Use unbekannt ist, sind Schlussfolgerungen bezüglich einzelner der zahlreichen gesicherten Indikationen (Übersicht bei [2]) der Antidepressiva unmöglich.

Abb. 1. Arzneiverordnungen und -umsätze zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Seit 1994 haben die verordneten Tagesdosen (DDD) der chemisch definierten Antidepressiva rund 4,1fach zugenommen. Eine zu erwartende Sättigungstendenz zeichnet sich nicht ab. Die modernen Antidepressiva haben inzwischen einen Anteil von rund 75% (2010: 73%) der gesamten (ohne Johanniskraut-Extrakte) Antidepressiva-Verordnungen (DDD; Abb. 2) und rund 81% (wie 2010) am Umsatz (Abb. 3). Wahrscheinlich ist der erneute Rückgang der Verordnung von Reboxetin (DDD –62%) der Bewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG), die anderenorts kommentiert wurde [6], zuzuschreiben. In der Tat ergibt sich die Frage nach dem medizinischen Rationale für das weitere Wachstum von Duloxetin (DDD +6%, 2010: +11%, aber Umsatzrückgang –8%, 2010: +14,6%), das damit weiterhin einen Anteil von 3,5% der verordneten Tagesdosen (DDD) innehat und daraus einen Anteil am Gesamtumsatz aller Antidepressiva von 19% (2010: 17,6%) generiert. Bupropion wächst relativ erheblich und hat 1% der DDD (1,9% des Umsatzes) der Antidepressiva erreicht. Darin könnten sich auch laut § 34 SGB V (Negativliste) ausgeschlossene Verordnungen für die Raucherentwöhnung verbergen, die für Elontril® off Label wären. Agomelatin hat inzwischen 1,5% der DDD mit einem Umsatzanteil von 5,2% gewonnen, womit es in der ambulanten Versorgung eine deutlich geringere Rolle spielt als – soweit die Stichtagserhebungen aus den AMSP-/AGATE-Projekten eine Einschätzung erlauben – in der stationären.

Abb. 2. Verteilung der Antidepressiva-Verordnungen (DDD) zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Abb. 3. Verteilung der Antidepressiva-Umsätze zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Escitalopram vs. Citalopram

Die vom Gesetzgeber gewollte Vorgabe von Citalopram als Leitsubstanz seit Start der „Rahmenvorgaben Arzneimittel“ der Spitzenverbände der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gemäß §84 Abs. 7 SGB V bedeutet einen Eingriff in den Wettbewerb. Zeitlich kontingent ist die Verordnung von Citalopram jährlich um 15 bis 20% (DDD +62% gegen 2007) gewachsen; im Jahr 2011 hat Citalopram einen Anteil von über 63,4% (2010: 57%) an den DDD der selektiv-serotonergen Antidepressiva (SSRI). Demgegenüber hat sich der Anteil des einzig noch (bis 01.06.2014) patentgeschützten SSRI Escitalopram (Cipralex®) 2011 auf 6,7% an den DDD von SSRI fast halbiert (2010: 11,8%). Dazu dürfte der G-BA-Beschluss vom 17. Februar 2011 beigetragen haben, Escitalopram in eine Festbetragsgruppe (der Stufe II nach §35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V – „pharmakologisch-therapeutisch vergleichbare Wirkung, insbesondere mit chemisch verwandten Stoffen“) mit Citalopram einzuordnen, da die Patienten die Differenz zwischen Festbetrag und tatsächlichem Apothekenabgabepreis selbst zu tragen hatten.

Voraussetzung für die Einordnung eines patentgeschützten Wirkstoffs in eine Festbetragsgruppe ist nach §35 Abs. 1 Satz 3, dass dessen Wirkungsweise nicht neuartig ist oder der Wirkstoff keine „therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen“, bedeutet. Hiergegen hat der Hersteller (Lundbeck) beim Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg (Az. L 1 KR 184/11 ER; LSG 2011) Klage (gegen den GKV-Spitzenverband als umsetzende und mit dem G-BA als beigeladene Körperschaft) erhoben, das am 06. Dezember 2011 den G-BA-Beschluss im Eilverfahren (vorläufiges Rechtsschutzverfahren) aufgehoben hat. Zu den Urteilsgründen, die in der PPT bereits diskutiert wurden [11], gehören insbesondere eine unzureichende Nachvollziehbarkeit des G-BA-Beschlusses bezüglich des Ausschlusses einer für Escitalopram positiven Studie gegen Citalopram und einer Metaanalyse (die für eine Überlegenheit des Escitalopram gegenüber Citalopram sprechen) und der zugrunde gelegten „Äquivalenzdosen“. Außerdem seien die zugelassenen Anwendungsgebiete von Escitalopram, die über diejenigen von Citalopram hinausgehen, wodurch die Festbetragsgruppenbildung im Widerspruch zu den Vorgaben von §35 Abs. 1 Satz 3 SGB V die Therapiemöglichkeiten einschränken könnte, vom G-BA nicht angemessen gewürdigt worden. Im Ergebnis sieht das LSG insbesondere als unbewiesen an, was der G-BA hätte beweisen müssen, nämlich dass Escitalopram dem Citalopram nicht überlegen ist, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Escitalopram bis auf weiteres als überlegen anzusehen ist. Wann und wie im Hauptsacheverfahren entschieden werden wird, bleibt offen. Jedenfalls bis dahin haben die Krankenkassen die Kosten von Escitalopram voll zu übernehmen. Beschwerde beim Bundessozialgericht hat das LSG Berlin-Brandenburg ausgeschlossen. Warum der AVR zwar den G-BA-Beschluss und seine Folgen, nicht aber das Urteil des LSG-Berlin-Brandenburg erwähnt, bleibt ein Rätsel. Jedenfalls das Urteil im Hauptsacheverfahren wird derart grundsätzliche Bedeutung haben, dass es umfassend diskutiert werden muss.

Lithium

Der AVR ordnet Lithium traditionell den Antidepressiva zu (während die ATC-Systematik Lithium den Psycholeptika und hier den Antipsychotika unterordnet). Angesichts der belegten antimanischen, rezidivprophylaktischen (sowohl bei bipolarer Störung als auch unipolarer Depression), augmentativen und suizidpräventiven Wirksamkeit bleibt schwer verständlich, warum die Verordnungen seit Jahren zwischen nur 20 bis 21 Mio. DDD (Umsatz 2011 etwa 10 Mio. Euro) pendeln, wenn auch mit einem leichten Anstieg seit 2004. Die Verordnungen erreichen kaum 10% des entsprechend den Krankheitsprävalenzen nominal möglichen Volumens.

Neuroleptika

Die Verordnung von Neuroleptika steigt seit etwa 2005 jährlich um zwischen 2% und 5% (Abb. 1, 2011 +23% vs. 2005), soweit die sich über die Jahre ändernden Definitionen der DDD für Neuroleptika durch die WHO eine Beurteilung erlauben. Der Anstieg ist vermutlich dem Wachstum moderner Antipsychotika, auch mit Indikationserweiterungen auf bipolare Störungen und Off-Label-Use, zuzuschreiben. Nachdem der Umsatz 2008 um 9,4% gegen 2007 gesunken war, im Wesentlichen weil Risperidon und Olanzapin den Patentschutz verloren hatten, ist er 2009 um 22% und 2010 um weitere 7% gewachsen, unter anderem weil der BGH Olanzapin wieder unter Patentschutz stellte. Der inzwischen erfolgte Verlust des Patentschutzes (und die gesetzlichen Zwangsrabatte) begründen den erneuten Umsatzrückgang von 2010 auf 2011 um 11%.

Die modernen Antipsychotika können nicht als einheitliche Gruppe aufgefasst werden. Die atypischen Neuroleptika (Abb. 4) im engeren Sinne (ohne Sulpirid, Zotepin und Melperon) haben inzwischen einen Anteil von 51% bei den verordneten Tagesdosen (87,4% des Umsatzes, Abb. 5). Bezieht man Sulpirid, Zotepin und Melperon in diese Gruppe mit ein, so liegt der Anteil der DDD bei 56% mit 91% des Umsatzes. Nachdem die Verordnungen von Amisulprid nach Verlust des Patentschutzes ohne erkennbare medizinische Rationalität zunächst zurückgingen, ist sein Anteil an den Tagesdosen seit 2009 inzwischen wieder auf 3% gestiegen. Quetiapin hat Olanzapin und Risperidon überflügelt und ist mit 15% der DDD das am häufigsten verordnete Neuroleptikum mit dem höchsten Umsatz (32%).

Abb. 4. Verteilung der Verordnungen (DDD) von Neuroleptika zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Abb. 5. Verteilung der Umsätze von Neuroleptika zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Paliperidon als orale Darreichungsform spielt keine Rolle mehr, nachdem es vom G-BA einer Festbetragsgruppe zugeordnet wurde und der Hersteller seinen Preis nicht entsprechend gesenkt hatte. Das ist insofern beachtlich, als Paliperidon (Invega®) seit 2011 das erste und einzige Neuroleptikum ist, das für schizoaffektive Störung zugelassen ist. Die 2011 eingeführte Depotform Paliperidonpalmitat (Xeplion®) unterliegt keiner Festbetragsregelung und ist nicht der Nutzenbewertung nach §35a SGB V zu unterziehen, weil der Wirkstoff Paliperidon bereits vor 2011 zugelassen wurde und das Anwendungsgebiet „Erhaltungstherapie der Schizophrenie bei erwachsenen Patienten, die auf Paliperidon oder Risperidon eingestellt wurden“ anscheinend nicht als Indikationserweiterung im Sinne §35a SGB V zu interpretieren ist.

Antidementiva/Nootropika

Nach dem Einbruch 2004 infolge des grundsätzlichen gesetzlichen Ausschlusses nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel sind die verordneten DDD der Antidementiva 2008 und 2009 um jeweils 9% (Umsatz +20% bzw. +15%) gestiegen, weil die Cholinesterasehemmer (+17% bzw. +13%) und Memantin (+17% bzw. +16%) bei den verordneten DDD absolut gewachsen sind, verbunden mit einer Umsatzsteigerung von 20%/15% und 17%/16%. Seither stagniert die Verordnung von Antidementiva (Abb. 1). Der Umsatz ist 2011 um 11% gesunken, wozu auch der Verlust des Patentschutzes von Galantamin beigetragen hat (2012 sind Donepezil, Rivastigmin und Memantin gefolgt).

Trotz der Zunahme ihrer Verordnungen haben die Cholinesterasehemmer und das Memantin die Kranken nicht sachgerecht erreicht: Donepezil, Rivastigmin und Galantamin hatten im Jahre 2011 einen Anteil von 52% an den Verordnungen (DDD; Abb. 6), aber von 65% am Umsatz (Abb. 7). Memantin verzeichnet einen Anteil von 28% an den Tagesdosen und 31% an den Umsätzen. Geht man von aktuell 650000 Alzheimer-Kranken aus und postuliert (realitätsfern) eine – wie eigentlich geboten – kontinuierliche Behandlung, so können diese Therapieoptionen bisher nominal etwa 34% der Betroffenen nutzen. Nominal würde eine 100%ige Behandlung zusätzlich 566 Mio. Euro verbrauchen.

Abb. 6. Verteilung der Verordnungen (DDD) von Antidementiva/Nootropika zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Abb. 7. Verteilung der Umsätze von Antidementiva/Nootropika zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Entwöhnungsmittel

Bereits vielfach wurde in den Kommentaren zum Arzneiverordnungs-Report auf die Widersprüchlichkeit des Ausschlusses von Mitteln zur Raucherentwöhnung (Bupropion, Nicotin und Vareniclin [Champix®]) aus dem Leistungskatalog der GKV (§34 SGB V) hingewiesen: Der Ausschluss ist angesichts der Bedeutung des Rauchens als Risikofaktor für die führenden Todesursachen (u.a. Herzinfarkt und Malignome) medizinisch nicht nachzuvollziehen. Er ist ebenfalls angesichts des Bekenntnisses der Bundesregierung zur Prävention, hier ein Raucher-freies Land zu realisieren (das Bundes-Nichtraucherschutzgesetz ist seit 01.09.2007 in Kraft), wenig plausibel: Der Ausschluss bleibt unlogisch. Der G-BA hat sich in jahrelangem Verfahren nicht entschließen können, im Rahmen von Disease-Management-Programmen (DMP) vom Ausschluss abzuweichen. Am 27.12.2012 hat sich nun die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Mechthild Dyckmans (FDP) dafür ausgesprochen, dass Krankenkassen künftig Kosten der Arzneimittel für die Tabakentwöhnung übernehmen.

Acamprosat (Campral®) wird in Anlage 4 der AMR ausdrücklich als bei Alkoholkrankheit verordnungsfähig genannt, wobei „zur Vermeidung eines nicht sachgerechten Einsatzes auf die bestimmungsgemäße Anwendung von Acamprosat ausschließlich als Zusatztherapeutikum im Rahmen einer psychosozial betreuten Abstinenzbehandlung“ hingewiesen wird. Die Verordnungen von Acamprosat (Abb. 8) sind 2011 trotz bereits niedrigen Niveaus gesunken (DDD –9%). Allenfalls 5% der geeigneten Patienten werden erreicht, es bleiben also therapeutische Chancen ungenutzt. Dem leistet der AVR unverändert Vorschub, indem er immer wieder die Datenlage unvollständig und damit suggestiv wiedergibt. Ein erneuter Kommentar erübrigt sich, auf die frühere Zusammenfassung der guten Evidenzlage [6, 7] wird verwiesen. Seit 17.05.2010 ist Naltrexon (als Adepend®) für das Anwendungsgebiet „als Teil eines umfassenden Therapieprogramms gegen Alkoholabhängigkeit zur Reduktion des Rückfallrisikos, als unterstützende Behandlung in der Abstinenz und zur Minderung des Verlangens nach Alkohol“ zugelassen, weshalb es in Abbildung 8 aufgenommen ist. Es hat bisher aber noch nicht die Hürde überwunden, unter die 3000 verordnungsstärksten Arzneimittel, die dem AVR zugrunde liegen, zu gelangen.

Abb. 8. Acamprosat-Verordnungen und -Umsatz (Arzneiverordnungs-Report 1997–2012)

Psychostimulanzien

Seit 1992 ist die Verordnung von Methylphenidat um den Faktor 80 gestiegen (Abb. 9), was als Hinweis auf einen Abbau der Unterversorgung von Patienten mit Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) interpretiert werden kann. Seit 2008 zeichnet sich ein Sättigungseffekt ab und die Ausgaben sinken (Abb. 9). Atomoxetin spielt mit 4% der verordneten Tagesdosen eine untergeordnete und abnehmende Rolle, verursacht aber 18% der Umsätze in diesem Indikationssegment. Modafinil verzeichnete bis 2010 auf niedrigem Niveau ein deutliches Wachstum. Modafinil war nie für ADHS zugelassen. 2011 hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die bisherigen Indikationen „mittelschweres bis schweres obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) mit exzessiver Schläfrigkeit trotz adäquater nCPAP(nasal-continuous-positive-airway-pressure)-Therapie“ und das Schichtarbeiter-Syndrom zurückgenommen, sodass Modafinil nur noch für die Narkolepsie zugelassen ist.

Abb. 9. Verordnungen und Umsätze von „Psychostimulanzien“ (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Im Nordbaden-Projekt [12] ergab sich für das Jahr 2003 eine epidemiologisch nachvollziehbare Behandlungsprävalenz der ADHS von 1,7% bzw. 0,6% für die Gruppe der 13- bis 19-Jährigen. Es fragt sich aber, ob die auffällige Konzentration der Behandlung mit einer gleichmäßigen, bedarfsgerechten (§70 SGB V) Versorgung vereinbar ist: 25% der Kinderärzte behandelten 79% aller von Kinderärzten gesehenen ADHS-Patienten, in der Gruppe der Kinder- und Jugendpsychiater betreuten 40% der Ärzte 86% aller von dieser Arztgruppe gesehenen ADHS-Patienten, während 20% dieser Ärzte keine einzige ADHS-Diagnose berichteten.

Das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen bereitet für den GKV-Spitzenverband die Daten für die GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (GAmSi) auf (diese Daten liegen ebenfalls dem AVR zugrunde). Daher wäre es diesem Institut möglich, detaillierte Informationen zur regionalen Verteilung der Verordnungen zu veröffentlichen, was einen wunderbaren Qualitätsindikator darstellen könnte. Dasselbe könnte auch durch die Bundesopiumstelle beim BfArM geschehen, zu deren Aufgaben ausdrücklich auch die „Auswertung der zur Verschreibung von Betäubungsmitteln vorgeschriebenen amtlichen Formblätter (Betäubungsmittelrezepte/-anforderungsscheine)“ gehört.

Seit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. März 2002 bestand das Problem des angeblichen Off-Label-Use bei Verordnung von Methylphenidat an Erwachsene mit ADHS [3]. Die Expertenkommission Off-Label-Use beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemäß §35c SGB V musste den Prüfauftrag des G-BA wegen laufender Zulassungsantragsverfahren unerledigt zurückgeben. 2011 wurde ein Fertigarzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat für ADHS im Erwachsenenalter zugelassen; definitionsgemäß muss das ADHS hier bereits in der Kindheit nachweisbar gewesen sein.

Antiepileptika

Die Verordnung von Antiepileptika hat seit 1994 um 124% zugenommen, in den letzten zehn Jahren um 75% (Abb. 10). Die Prävalenz der Epilepsien dürfte sich nicht bedeutsam geändert haben, auch das Bevölkerungswachstum ist keine ausreichende Erklärung. Möglicherweise aber ist die Pharmakotherapie angemessener geworden, auch dank der Diversifizierung der Therapieoptionen, die bessere Individualisierung erlauben kann. Der AVR diskutiert, dass die verordneten DDD des Jahres 2011 mit der Prävalenz der Epilepsien vereinbar seien. Der Zuwachs ist im Wesentlichen der Einführung moderner Antiepileptika zu verdanken. Einige neuere Antiepileptika (Felbamat, Tiagabin, Stiripentol, Eslicarbazepin) haben bisher nicht die vom AVR berücksichtigten 3000 am häufigsten verordneten Arzneimittel erreicht, Vigabatrin (Sabril®) ist seit 2006 in dieser Gruppe nicht mehr vertreten. Einige Antiepileptika haben Indikationserweiterungen gewonnen, insbesondere den neuropathischen Schmerz, die bipolare Störung und die generalisierte Angststörung (nur Pregabalin), was zum Wachstum der Verordnungen beiträgt. Eine Quantifizierung der Indikationsanteile ist anhand der Daten des AVR unmöglich (wenn auch den Krankenkassen grundsätzlich möglich), also auch eine Abschätzung des Versorgungsgrades. Pregabalin, das als verordnungsstärkstes Antiepileptikum 2011 19% der DDD ausmachte, soll laut AVR (ohne Quellenangabe) zu 89% bei neuropathischem Schmerz eingesetzt werden.

Abb. 10. Verordnungsspektrum (DDD) von Antiepileptika zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012

Die Anwendungsgebiete „Behandlung von akuten Manien“ und „Prophylaxe bipolarer Störungen“ der Valproinsäure, die nur von einigen Fertigarzneimitteln mit diesem Wirkstoff beansprucht werden, sind im Jahr 2010 auf Antrag der Niederlande durch die europäische Zulassungsbehörde (EMA 2010) erneut überprüft worden mit folgenden Ergebnissen: „Gemäß den Empfehlungen des CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) für Valproat enthaltende Arzneimittel sollte die Indikation aufgrund der Einschränkungen und Unzulänglichkeiten der Daten aus klinischen Studien folgendermaßen angepasst werden, da die Analyse sich auf relativ alte klinische Studien stützte: Behandlung von manischen Episoden bei einer bipolaren Störung, wenn Lithium kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird. Die weiterführende Behandlung nach einer manischen Episode kann bei Patienten in Erwägung gezogen werden, die auf Valproat bei der Behandlung der akuten Manie angesprochen haben.“ Die Indikation zur Rezidivverhütung von Stimmungsepisoden werde durch die vorgelegten Daten nicht gerechtfertigt. Der Stand der Umsetzung in Deutschland ist nicht erkennbar. Da keine Daten zugänglich sind, anhand derer die Häufigkeit der Nutzung des Anwendungsgebiets „Prophylaxe bipolarer Störungen“ (also nicht im Sinne einer Weiterbehandlung nach einer Manie) abgeschätzt werden könnte, bleiben die praktischen Konsequenzen für die Versorgung im Falle der Umsetzung unklar.

Parkinsonmittel

Die Verordnungen (DDD) sowohl von Levodopa (nahezu ausschließlich in Kombination mit Decarboxylasehemmern) als auch Dopaminagonisten steigen grundsätzlich seit Jahren (Abb. 11), worin sich zumindest teilweise der demographische Wandel widerspiegeln kann. Nachdem für die Ergolinderivate Pergolid und Cabergolin ein deutlich erhöhtes Risiko unter anderem für Herzfibrosen mit Valvulopathien erkannt wurde, ist deren Verordnung massiv zurückgegangen. Zu den Umsatzsteigerungen (Abb. 12) der letzten Jahre tragen ausschließlich die Dopaminagonisten und COMT-Inhibitoren bei. 2011 sind die Umsätze erstmals gesunken, im Wesentlichen weil Pramipexol (Sifrol®) seinen Patentschutz verloren hat und damit Generika verfügbar wurden.

Abb. 11. Verordnungen (DDD) von Parkinsonmitteln zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Abb. 12. Umsätze für Parkinsonmittel zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1995–2012)

Tranquillanzien und Hypnotika

Die Verordnung (DDD) von Tranquillanzien (Abb. 13) und Hypnotika (Abb. 14) zu Lasten der GKV ist seit Jahren rückläufig (Abb. 1) und wird dominiert einerseits von Lorazepam und andererseits Zopiclon und Zolpidem. Da es sich weit überwiegend um niedrigpreisige Generika handelt, bot sich die Verordnung auf Privatrezept an, solange die Zuzahlung höher als der Packungspreis war. Das trifft seit 2004 nicht mehr zu, nachdem der Apothekenabgabepreis eine Beratungspauschale des Apothekers enthält. Dennoch würde angesichts des Risikos von Missbrauch und Abhängigkeit zur Qualitätssicherung beitragen, wenn statistische Informationen zur privaten Verordnung verfügbar wären. Diese könnten derzeit umfassend (also außerhalb von Stichproben) nur die Hersteller selbst liefern.

Abb. 13. Verteilung der Verordnung von Tranquillanzien (DDD) zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1997–2012)

Abb. 14. Verteilung der Verordnung von Hypnotika (DDD) zu Lasten der GKV (Arzneiverordnungs-Report 1997–2012

Regionale Verordnungsgewohnheiten

Die föderale Struktur Deutschlands bietet grundsätzlich die Möglichkeit des Benchmarkings der Versorgung – hier mit Arzneimitteln – als quasi ideales Instrument der Qualitätskontrolle. Solches Benchmarking ist auch geboten, um zu prüfen, inwieweit der gesetzliche Anspruch der gesetzlich Versicherten auf eine gleichmäßig bedarfsgerechte Versorgung (§70 SGB V) eingelöst wird. Die dem AVR zugrunde liegenden Daten enthalten den regionalen Bezug, werden aber bisher vom AVR nicht in diesem Sinne genutzt. Regionalen Bezug (auf jede Kassenärztliche Vereinigung) bieten nur die auf derselben Datenbasis erstellten Berichte des GKV-Arzneimittel-Schnellinformationssystems (GAmSi) des WIdO (Wissenschaftliches Institut der AOK). Diese berichten aber nur über die jeweils 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel, ansonsten nur aggregiert auf Ebene von Indikationsgruppen.

Das GAmSi gibt aggregierte Informationen zu „Psychopharmaka“ und fasst unter diesem Begriff wie der AVR Antidepressiva, Neuroleptika, Tranquillanzien, Phasenprophylaktika (z.B. Lithium) und Psychostimulanzien zusammen. Danach gab es im Jahr 2011 (kumuliert bis 12/2011) wie in den Vorjahren ein Süd-Nord-Gefälle (mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern) mit den höchsten Verordnungsraten in Bayern, Rheinland-Pfalz und im Saarland (Abb. 15 und 16).

Abb. 15. Ausgaben (brutto) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2011) von Psychopharmaka im Vergleich zu allen Arzneimitteln und im Verlauf der Jahre 2009–2011 (GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV, GAmSi)

Abb. 16. Verordnungen (DDD) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2011) von Psychopharmaka im Vergleich zu allen Arzneimitteln und im Verlauf der Jahre 2009–2011 (GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV, GAmSi)

Der Variationskoeffizient (VK) zwischen den Bundesländern war 2011 mit 7,5% für die Tagesdosen je GKV-Versicherten niedriger als in den Vorjahren (10%), für die Bruttoumsätze (Euro) je Versicherten lag er bei 9% (2010: 10%). Da die Verteilung der Verordnungen von Psychopharmaka im Wesentlichen derjenigen in den Vorjahren (Abb. 15 und 16) entspricht, dürfte es sich eher nicht um zufällige regionale Schwankungen handeln. Da das Verteilungsmuster der gesamten Arzneimittelverordnungen eher ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle (Abb. 15 und 16) aufweist, liegt wohl kein generell unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten der Bevölkerung für Arzneimittel zugrunde. Ohne Indikationen- und Wirkstoffbezug müssen tragfähige Deutungsversuche scheitern.

Auch bei den Parkinsonmitteln zeigt sich eine über die Jahre weitgehend stabile, erhebliche Variabilität (VK 17,5%, 2010: 16%) der je GKV-Versicherten verordneten Tagesdosen zwischen den Bundesländern. Es ist jedoch eine gute Übereinstimmung des Verteilungsmusters mit dem des Bevölkerungsanteils der über 64-Jährigen erkennbar (Abb. 17), sodass die Variabilität grundsätzlich medizinisch plausibel ist. Das davon abweichende Verteilungsmuster der damit verbundenen Ausgaben je GKV-Versicherten (Variationskoeffizient 20%) ist dagegen erklärungsbedürftig.

Abb. 17. Verordnungen (DDD) und Ausgaben (brutto) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2011) von Parkinsonmitteln im Vergleich zum Anteil der über 64-Jährigen (GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV, GAmSi, bzw. statistisches Bundesamt)

Ein ähnliches – und mit dem jeweiligen Anteil der über 65-Jährigen vereinbares – Verteilungsmuster weisen die Antidementiva auf. Allerdings gehören die Antidementiva nicht in allen Bundesländern zu den 30 am häufigsten verordneten Arzneimitteln, woran die Auswertung (DDD je GKV-Versicherten) über alle Bundesländer scheitert.

Für die Variabilität der je GKV-Versicherten verordneten Tagesdosen von Antiepileptika und der dafür investierten Ausgaben (Abb. 18; VK 13% bzw. 16%) ist Plausibilität nicht zu erkennen.

Abb. 18. Verordnungen (DDD) und Ausgaben (brutto) je GKV-Versicherten nach Bundesländern (Stand 12/2011) von Antiepileptika (GKV-Arzneimittel-Schnellinformation der GKV, GAmSi)

Wer verordnet was?

Der AVR differenziert die Verordnungen auch nach Fachgebieten, wenn auch nur auf Ebene der dreistelligen ATC-Codes. Dies erlaubt selbstverständlich keine Rückschlüsse auf die behandelten Krankheiten. Der Anteil der von Nervenärzten, Neurologen und Psychiatern verordneten Tagesdosen am Gesamtvolumen ist von 2,78% im Jahr 2007 auf 3,2% gestiegen, womit sie allerdings einen wachsenden Umsatzanteil von inzwischen 10,6% (3,14 Mrd. Euro; 2007: 8,8%, 2,2 Mrd. Euro) beisteuern und damit an 3. Stelle nach Allgemeinärzten (36%) und hausärztlichen Internisten (15%) stehen. Die verordneten Tagesdosen verteilen sich auf vertragsärztliche Nervenärzte (2011: n=2689), Neurologen (n=1544) und Psychiater (n=1987) im Verhältnis 57%, 20% und 23%, die damit verbundenen Umsätze 59%, 22%, 19%. Das Verordnungsspektrum von Nervenärzten und hier insbesondere Neurologen ist also eher hochpreisig. Während im Jahr 2010 33%, 56% bzw. 11% der von neuropsychiatrischen Fachärzten verordneten Tagesdosen mit 63%, 84% bzw. 24% der Umsätze auf neurologische (u.a. nichtpsychiatrische) Indikationen entfielen, lässt sich dies anhand des AVR 2012 für 2011 nicht ausrechnen, weil für bedeutsame Arzneimittelgruppen, insbesondere Immunstimulanzien (ATC L03, u.a. Interferone), die Daten nicht fachgebietsspezifisch präsentiert werden.

Wegen der 2007 erfolgten Umstellung der Berichterstattung auf ATC-Codes sind andere Differenzierungen innerhalb der Psychoanaleptika (Antidepressiva, Psychostimulanzien, Antidementiva) bzw. Psycholeptika (Antipsychotika, Lithium, Anxiolytika, Hypnotika) nicht möglich. Neuropsychiatrische Fachärzte verordneten im Jahr 2011 und ähnlich 2010 41% der definierten Tagesdosen (DDD) von Psychoanaleptika (Allgemeinärzte 35%) bzw. 37% der Psycholeptika (Allgemeinärzte 32%). 63% der DDD von Parkinsonmitteln wurden von neuropsychiatrischen Fachärzten verordnet, immerhin 24% von Allgemeinärzten (Abb. 19). Neuropsychiatrische Fachärzte verordneten 39% der DDD der Muskelrelaxanzien (Allgemeinärzte 28%). Unverändert nur 0,5% der DDD von Antithrombotika wurden nervenärztlich verordnet (Allgemeinärzte 64%), was nahe legt, dass sich Patienten nach ischämischem Hirninfarkt überwiegend nicht in andauernder nervenärztlicher Behandlung befinden.

Abb. 19. Verordnungen (DDD) von Neuropsychopharmaka nach Fachgebieten im Jahr 2011 (Arzneiverordnungs-Report 2012)

Interessenkonflikterklärung.

J. Fritze erhielt in den letzten zwei Jahren Honorare für Vorträge bzw. Beratertätigkeit für Janssen, Lundbeck, Lilly, Pfizer, Roche, Novartis, 3M, Verband der privaten Krankenversicherung e.V.

Literatur

1. EMA 2010: www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/Referrals_document/valproate_31/WC500105843.pdfFritze J. Antidepressiva. In: Nissen G, Fritze J, Trott GE (Hrsg.). Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Urban-Fischer-Verlag, 2004.

2. Fritze J, Schmauß M. Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat. Psychoneuro 2003;29:302–4.

3. Fritze J. Rahmenvorgaben Arzneimittel 2008 der Spitzenverbände der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Psychoneuro 2008;34:49–50.

4. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungs-Report 2008. Psychopharmakotherapie 2009;16:121–33.

5. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungs-Report 2009. Psychopharmakotherapie 2010;17:240–50.

6. Fritze J. Psychopharmaka-Verordnungen – Ergebnisse und Kommentare zum Arzneiverordnungs-Report 2011. Psychopharmakotherapie 2011;18:245–56.

7. Fritze J. Fingolimod (Gilenya®) – Preisfindung auf Basis der frühen Nutzenbewertung. Psychopharmakotherapie 2011;18:127–30.

8. Gaebel W, Zielasek J, Kowitz S, Fritze J. Patienten mit psychischen Störungen: Oft am Spezialisten vorbei. Erste Ergebnisse einer umfassenden Versorgungsstudie bestätigen eine zu erwartende hohe Prävalenz. Dtsch Arztebl 2011;108:A1476–8.

9. LSG 2011: www.lsg.berlin.brandenburg.de/sixcms/media.php/4417/l1kr184-11_er.pdfMöller H-J, Laux G. Die „Nikolaus-Entscheidung“ 2011 des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg in Sachen Cipralex®-Festbetrag – Stärkung der Rechtsposition der Hersteller patentgeschützter Medikamente und damit eines innovativen Arzneimittelwesens in Deutschland. Psychopharmakotherapie 2012;19:135–42.

10. Schlander M. Aktuelle Daten zur medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS in Deutschland – Administrative Prävalenz, beteiligte Arztgruppen und Arzneimitteltherapie. Psychoneuro 2007;33:412–5.

*Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2012. Berlin-Heidelberg: Springer-Verlag 2012.

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de

Prescribing patterns of psychotropic drugs in Germany: Results and comments to the Drug Prescription Report 2012

The Drug Prescription Report 2012 again questions the adequacy of the considerable absolute increase of the prescription of modern antidepressants as well as the increasing share of modern antipsychotics. Generic prescription and sales of antidepressants and neuroleptics are high and correspond to the mean value. Despite increasing prescriptions (DDD) expenditures for neurotherapeutics have declined due to legally inforced discounts and some losses of patent protection. Total prescriptions (DDD) of antidementia drugs have been stable after 2 years of rise since 15 years while the share of modern antidementia drugs is increasing dramatically but covering, however, only about 34% of those in need. Acamprosate stays underutilized where only 5% of those potentially profiting are reached. The growth of methylphenidate is levelling off; the concentration of prescriptions to a minority of physicians is suspect of inadequacy. The growth of antiepileptic prescriptions might fit to the prevalences in relation to extended indications. The growth of antiparkinsonian prescriptions might be due to the aging of the population where the shift to non-ergolide dopamine agonists corresponds to current hope to reduce progression. The medical rational of the heterogeneity of prescribing patterns within Germany is unclear and needs more in depth clarification and explanation which appears possible thanks to the data transparency act.

Key words: psychotropic drugs, neurotherapeutics, pharmacoepidemiology

Psychopharmakotherapie 2013; 20(02)