Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen
Praxisleitlinien wurden entwickelt, um dem behandelnden Arzt eine Orientierungshilfe bei der Diagnose und Therapie zu geben. Sie basieren auf der Evidenzbewertung klinischer Studien und Erfahrungen in Übereinstimmung mit den S3-Standards. Danach werden Analysen randomisierter kontrollierter Studien als höchste Evidenzebene bewertet, gefolgt von nichtrandomisierten kontrollierten Studien und nichtexperimentellen deskriptiven Studien. Fallberichte werden als niedrigste Beweisebene gesehen. Im Hinblick auf die Pharmakotherapie akuter schizophrener Episoden enthalten die Leitlinien [2] folgende Empfehlungen:
- Neuere Antipsychotika sollten den Vorzug vor älteren haben (gleiche Wirksamkeit, aber weniger extrapyramidal-motorische Störungen)
- Antipsychotische Monotherapie sollte die Behandlung der ersten Wahl sein (leichtere Kontrolle, keine Interaktionen)
- Bei geringer Response sollte die Dosis frühestens nach 2 bis 4 Wochen auf den oberen zugelassenen Dosisbereich gesteigert werden
- Bei geringem Erfolg der Dosissteigerung sollte auf ein anderes neueres Antipsychotikum umgestellt werden
- Tritt auch unter dem 2. Antipsychotikum nach mehreren Wochen keine Response ein, wird Clozapin empfohlen
Viele Psychiater vertreten die Auffassung, dass die Leitlinie nur teilweise befolgt wird, und vermuten:
- Bei der stationären Behandlung einer Verschlechterung psychotischer Symptome werden viele Patienten von älteren auf neuere Antipsychotika umgesetzt
- Viele Patienten erhalten eine Kombinationsbehandlung
- Verschiedenartige Kombinationen neuerer und älterer Antipsychotika werden eingesetzt
- Umstellungen werden häufiger und nach kürzerer Zeit vorgenommen als empfohlen
Diese Hypothesen sollten in der vorliegenden Studie überprüft werden. Dazu wurden die Krankenberichte von 819 Schizophrenie-Patienten ausgewertet, die in nordwestdeutschen Kliniken stationär wegen einer psychotischen Exazerbation in Behandlung waren. Bei den Kliniken handelte es sich um drei Universitätskliniken (Münster, Hannover [2 Kliniken]), zwei psychiatrische Abteilungen von Kliniken in kommunaler Trägerschaft (Herford, Lübbecke) und sechs psychiatrische Fachkrankenhäuser (Bethel, Langenhagen, Lengerich, Münster, Telgte und Sehnde).
Patienten und Methoden
Ausgewertet wurden pro Klinik die Akten von 75 aufeinander folgenden Patienten mit der Diagnose einer Schizophrenie (ICD-10: F20), einer akuten vorübergehenden psychotischen Störung (ICD-10: F23) oder einer schizoaffektiven Störung (ICD-10: F25) und einer Aufenthaltsdauer von wenigstens drei Tagen. Die Klinik für Sozialpsychiatrie der Medizinischen Hochschule Hannover behandelte im vorgesehenen Studienzeitraum nur 69 Patienten, so dass insgesamt 819 Krankenakten evaluiert wurden. Dazu wurden demographische Daten (Alter, Geschlecht) und krankheitsspezifische Daten (Aufenthaltsdauer, Diagnose bei Aufnahme und Entlassung, freiwillige oder unfreiwillige Behandlung) ausgewertet sowie die psychopharmakologischen Daten (Medikamente, Tagesdosen) bei der Aufnahme, an den Tagen 3, 8, 15, 22, 29 und bei der Entlassung erfasst.
Ergebnisse
Patienten. Bei 75% der Patienten wurde eine Schizophrenie diagnostiziert, bei 20% eine schizoaffektive Störung und bei 5% eine akute vorübergehende psychotische Störung. Die mittlere Behandlungsdauer betrug 37,1±32,1 Tage, mit Unterschieden auf den verschiedenen Versorgungsebenen (Tab. 1).
Tab. 1. Mittlere Behandlungsdauer (±Standardabweichung) schizophrener Patienten je nach Versorgungsebene [1]
Versorgungsebene |
Behandlungsdauer [Tage] |
Kommunale Kliniken (n=2) |
31,8±23 |
Psychiatrische Fachkliniken (n=6) |
35,2±29,4 |
Universitätskliniken (n=3) |
44,7±40,6* |
* p=0,042 vs. Fachkliniken und kommunale Kliniken
Nach drei Tagen waren noch alle 819 Patienten und nach 29 Tagen noch 424 Patienten (51,8%) in Behandlung.
Medikamente. Bei Aufnahme erhielten 47,1% der Patienten ein neueres Antipsychotikum. Bis zur Entlassung stieg der Anteil auf 62,5% (p<0,0001); der Anteil der Patienten mit einem älteren Antipsychotikum fiel gleichzeitig von 22,7% auf 18,4%. Eine Kombination von beiden erhielten bei der Aufnahme 11,5% und bei der Entlassung 12,9% der Patienten. Der Anteil der Patienten, die kein Antipsychotikum erhielten, verringerte sich von 18,7% auf 6,2%. Die am häufigsten eingenommenen Antipsychotika waren Olanzapin, Haloperidol, Risperidon, Quetiapin und Clozapin. Im Verlauf der Beobachtungszeit stieg der Anteil der Patienten mit Risperidon und Quetiapin, derjenige mit Haloperidol nahm ab.
Monotherapie. Während der gesamten Studienzeit erhielten 52,3% der Patienten eine Antipsychotika-Monotherapie, während 47,7% wenigstens zeitweise mehrere Antipsychotika einnahmen. Mit einer Monotherapie wurden insbesondere Patienten mit einer akuten vorübergehenden psychotischen Störung (F23) und einer schizoaffektiven Störung (F25) behandelt. Dagegen wurde den meisten Patienten mit einer Schizophrenie (F20) eine Kombinationstherapie verordnet. Darüber hinaus gab es unabhängig von der Diagnose Unterschiede in der Behandlung zwischen einzelnen Kliniken. Einige Zentren behandelten hauptsächlich mit einer Monotherapie, in anderen war sie eher die Ausnahme.
Tagesdosen/Dosisänderung. Die mittleren Dosen lagen innerhalb der von der Leitlinie vorgeschlagenen Grenzen. Eine beträchtliche Zahl von Patienten erhielt jedoch eine höhere Tagesdosis. So wurden 15,9% der Olanzapin-Patienten mit Dosen zwischen 25 und 60 mg/Tag (empfohlen: 5 bis 20 mg/Tag) und 42,3% der Quetiapin-Patienten mit Dosen zwischen 900 und 1600 mg/Tag behandelt (empfohlen: 300 bis 750 mg/Tag). Die Dosen aller Substanzen (Ausnahme: Aripiprazol) wurden im Verlauf des Beobachtungszeitraums gesteigert. Bei 60% der Patienten, die durchgängig ein neueres Antipsychotikum einnahmen, wurde eine Dosiserhöhung bereits innerhalb der ersten acht Tage vorgenommen.
Änderung der Medikation. Eine Änderung innerhalb der Gruppe der neueren Antipsychotika wurde bei 159 Patienten (19,3%) vorgenommen – meist zwischen Tag 29 und der Entlassung.
Von den 380 Patienten mit einer Kombinationstherapie wurden 138 auf eine Monotherapie umgestellt.
Clozapin. Der Anteil der Patienten, die mit Clozapin behandelt wurden, stieg leicht von 8,9 auf 12,3%. Eine Monotherapie mit Clozapin erhielten 37,9%, bei den übrigen Patienten (62,1%) wurde Clozapin meist mit neueren (51,2%), aber auch mit älteren Antipsychotika (31,7%) oder beiden (17,1%) kombiniert.
Kombination von Antipsychotika. Insgesamt erhielten 380 Patienten (47,7%) eine Kombinationsbehandlung. Von ihnen wurden 31,8% während der gesamten Aufenthaltsdauer durchgehend mit einer Kombination behandelt, während die übrigen (68,2%) nur zeitweise mehr als ein Antipsychotikum gleichzeitig einnahmen. Die meisten Patienten erhielten zwei (81,3%), jedoch einige (18,7%) auch drei oder vier Substanzen gleichzeitig. Meist wurden neuere mit älteren Antipsychotika kombiniert (56,6%). Eine Kombination neuerer Antipsychotika erhielten 28,9%, eine Kombination älterer Antipsychotika 14,5%.
Die Autoren sind der Meinung, dass die Ergebnisse dieser Studie aufgrund der Anzahl der beteiligten Zentren, ihres sowohl ländlichen wie auch städtischen Umfelds und ihrer unterschiedlichen Struktur repräsentativ für die klinische Versorgung der Patienten in Deutschland sind.
Kommentar
Wenn die Studie auch darauf schließen lässt, dass die Behandlungsleitlinien zum Untersuchungszeitraum noch nicht restlos etabliert waren, sollte man bedenken, dass ihre aktuelle Version (S3) erst 2006 publiziert wurde. Leider geht aus der vorliegenden Arbeit nicht hervor, in welchem Zeitraum die hier publizierten Daten erhoben wurden. Eine erste Version des Manuskripts wurde bereits im August 2009 eingereicht. Man kann also vermuten, dass die Studie die Situation in den Jahren 2007/2008 wiedergibt und dass die Etablierung der Leitlinien inzwischen weitere Fortschritte gemacht hat.
Quellen
1. Stein M, et al. Naturalistic pharmacotherapy of acute episodes of schizophrenic disorders in comparison to treatment guidelines. Pharmacopsychiatry 2012;45:189–95.
2. Gaebel W, et al. Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Darmstadt: Steinkopff, 2006.
Psychopharmakotherapie 2013; 20(01)