Multiple Sklerose

Verringerte Krankheitsaktivität mit Ocrelizumab


Dr. Barbara Ecker-Schlipf, Holzgerlingen

Der monoklonale Antikörper Ocrelizumab konnte in einer Phase-II-Studie bei Patienten mit multipler Sklerose die Krankheitsaktivität, gemessen anhand der Gesamtzahl der aktiven Entzündungsherde im Gehirn und der Krankheitsschübe, signifikant reduzieren. Diese Befunde untermauern die relevante Beteiligung der B-Zellen an der Pathogenese der Immunerkrankung.

Entgegen früherer Annahmen, dass die Entzündung bei multipler Sklerose (MS) ausschließlich durch T-Zellen und somit durch die zellulären Reaktionen des Immunsystems kontrolliert wird, legen neue Erkenntnisse nahe, dass auch die B-Zellen mit Antikörper-abhängigen und -unabhängigen Mechanismen bei der Entstehung und dem Fortschreiten der Immunerkrankung eine wichtige Rolle spielen. So können B-Zellen in Plasmazellen differenzieren und gegen das Zentralnervensystem (ZNS) gerichtete Autoantikörper produzieren, die wiederum zelluläre und Komplement-abhängige zytotoxische Effekte triggern. Auch die Sekretion von pro- und antiinflammatorischen Zytokinen durch B-Zellen scheint bei Patienten mit multipler Sklerose abnorm zu verlaufen. B-Zellen können außerdem ein Reservoir für das Epstein-Barr-Virus bilden, das vermutlich mit einem erhöhten Risiko für multiple Sklerose verknüpft ist.

Ocrelizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der auf der Basis von Rituximab (MabThera®) entwickelt wurde und selektiv gegen CD20-positive B-Zellen gerichtet ist. Im Vergleich mit Rituximab zeigte Ocrelizumab in vitro eine stärkere Antikörper-abhängige zellvermittelte Zytotoxizität und eine verminderte Komplement-abhängige Zytotoxizität. Als humanisiertes Molekül ist Ocrelizumab bei wiederholten Infusionen wahrscheinlich weniger immunogen als Rituximab.

Studienziel und -design

In einer randomisierten, multizentrischen, Plazebo-kontrollierten Phase-II-Studie wurden die Sicherheit und Wirksamkeit von Ocrelizumab bei multipler Sklerose untersucht [1]. Die Studie wurde mit 220 Patienten mit schubförmig remittierender multipler Sklerose im Alter zwischen 18 und 55 Jahren durchgeführt.

Die Patienten hatten in den vergangenen drei Jahren mindestens zwei Schübe, von denen mindestens einer innerhalb des letzten Jahres auftrat. Der Grad der Behinderung auf der EDSS (Expanded disability status scale) betrug 1 bis 6 Punkte und die Patienten hatten eine gewisse Krankheitsaktivität: entweder mindestens sechs Gadolinium-anreichernde Läsionen im Magnetresonanztomogramm (MRT) oder zwei Schübe im vergangen Jahr. Im ersten Behandlungszyklus wurden die Patienten randomisiert im Verhältnis 1:1:1:1 auf vier Therapieschemata aufgeteilt (Tab. 1).

Tab. 1. Studiendesign; die Behandlung mit Ocrelizumab (OCR) oder Plazebo (PBO) erfolgte in vier Zyklen (0, 24, 48, 72 Wochen), Interferon beta-1a (Avonex®; IFN) wurde wöchentlich verabreicht [1]

Randomisierung

Behandlungszyklus

Gruppe

1. Zyklus

2. bis 4. Zyklus

Tag 1

Tag 15

Tag 1

Tag 15

Plazebo

PBO i.v.

PBO i.v.

OCR i.v. 300 mg

OCR i.v. 300 mg

Ocrelizumab 600 mg

OCR i.v. 300 mg

OCR i.v. 300 mg

OCR i.v. 600 mg

PBO i.v.

Ocrelizumab 2000 mg

OCR i.v. 1000 mg

OCR i.v. 1000 mg

OCR i.v. 1000 mg

PBO i.v.

Interferon beta-1a

Interferon beta-1a i.m. 1 x wöchentlich

OCR i.v. 300 mg

OCR i.v. 300 mg

i.v.: intravenös, i.m.: intramuskulär

Der Plazebo- und der Ocrelizumab-Arm waren doppelt verblindet, die Interferon-Behandlung war offen, für die auswertenden Personen aber verblindet. Nach 24 Wochen wurde die Medikation in allen Studienarmen offengelegt.

Um infusionsbedingte Reaktionen zu vermeiden, bekamen die Patienten der Ocrelizumab- und Plazebo-Gruppe jeweils 30 min vor der Infusion 100 mg Methylprednisolon (i.v.). Die Patienten der Interferon-Gruppe erhielten die Methylprednisolon-Infusion während des ersten Behandlungszyklus ebenfalls an den Tagen 1 und 15.

Primärer Endpunkt war die Anzahl der Gadolinium-anreichernden T1-gewichteten Gehirnläsionen, die in den Wochen 12, 16, 20 und 24 im MRT sichtbar wurden.

Studienergebnisse

204 (93%) Patienten verblieben 24 Wochen in der Studie und 196 (89%) Patienten 48 Wochen. Nach 24 Wochen war die Anzahl der Gadolinium-anreichernden Läsionen in der 600-mg-Ocrelizumab-Gruppe signifikant um 89% (95%-Konfidenzintervall [95%-KI] 68–97, p<0,0001) und im 2000-mg-Arm um 96% (95%-KI 89–99, p<0,0001) niedriger als mit Plazebo (Tab. 2). Die Patienten beider Ocrelizumab-Gruppen zeigten auch deutlich bessere Ergebnisse im Hinblick auf die Volumenreduktion der T2-gewichteten Hirnläsionen als die Patienten, die Interferon beta-1a erhielten; der Unterschied war aber nicht signifikant.

Tab. 2. Studienergebnisse (Ausschnitt) [1]

Plazebo
(n=54)

Ocrelizumab 600 mg (n=55)

Ocrelizumab 2000 mg (n=55)

Interferon beta-1a (n=54)

Gadolinium-anreichernde T1-Läsionen zwischen den Wochen 12, 16, 20 und 24

n (%)

54 (100%)

51 (93%)

52 (95%)

52 (96%)

Mittelwert (SD)

5,5 (12,5)

0,6 (1,5)

0,2 (0,7)

6,9 (16,0)

Median (95%-KI)

1,6 (0,8–2,6)

0,0

0,0

1,0 (0,0–2,0)

p-Wert vs. Plazebo

<0,0001

<0,0001

p-Wert vs. Interferon beta-1a

<0,0001

<0,0001

Neue Gadolinium-anreichernde Läsionen zwischen den Wochen
4, 8, 12, 16, 20 und 24 [n]

Mittelwert (SD)

6,6 (14,2)

0,8 (2,0)

0,8 (2,2)

7,2 (16,3)

Median (95%-KI)

2,2 (1,0–4,0)

0,0

0,0

1,0 (0,0–2,0)

p-Wert vs. Plazebo

<0,0001

<0,0001

0,9

Patienten mit Schüben bis Woche 24 [n (%)]

16 (30)

3 (5)

4 (7)

9 (17)

Schübe pro Jahr bis Woche 24
(95%-KI)

0,64
(0,43–0,94)

0,13
(0,05–0,29)

0,17
(0,05–0,35)

0,36
(0,22–0,60)

p-Wert vs. Plazebo

0,0005

0,0014

0,07

p-Wert vs. Interferon beta-1a

0,07

0,03

0,09

SD: Standardabweichung, 95%-KI: 95%-Konfidenzintervall

Auch die Anzahl akuter Krankheitsschübe pro Patient und Jahr verringerte sich mit Ocrelizumab deutlich stärker als unter Plazebo. Nach 24 Wochen hatte sich die Schubrate mit 600 mg Ocrelizumab um 80% (95%-KI 45–99) und in der 2000-mg-Ocrelizumab-Gruppe um 73% (95%-KI 29–97) im Vergleich mit Plazebo reduziert. Es gab keine Hinweise auf eine Dosis-Wirkungs-Beziehung.

Die Verträglichkeit von Ocrelizumab war mit beiden Dosierungen in der Regel gut. Schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen traten in allen Behandlungsgruppen mit einer ähnlichen Häufigkeit auf: zwei von 54 (4%) Patienten in der Plazebo-Gruppe, einer von 55 Patienten (2%) mit 600 mg Ocrelizumab, drei von 55 (6%) Patienten mit 2000 mg Ocrelizumab und zwei von 54 (4%) Patienten in der Interferon-beta-1a-Gruppe.

Die meisten infusionsbedingten unerwünschten Ereignisse während der ersten Infusion waren überwiegend leicht bis moderat. Sie kamen mit Ocrelizumab (35% bzw. 44%) häufiger vor als mit Plazebo (9%). Aber bereits bei der zweiten Infusion waren sie deutlich seltener (4 und 9% in den Ocrelizumab-Gruppen vs. 11% in der Plazebo-Gruppe).

Die Häufigkeit schwerwiegender Infektionen war in allen Studienarmen vergleichbar (jeweils ein Patient in der Plazebo-, 600-mg-Ocrelizumab- und Interferon-beta-1a-Gruppe). Eine progressive multifokale Leukenzephalopathie oder opportunistische Infektionen wurden nicht beobachtet. Eine Patientin, die mit Ocrelizumab behandelt wurde, verstarb in Woche 14 an einem allgemeinen Entzündungssyndrom (systemischen inflammatorischen Response-Syndrom [SIRS]). Ein Zusammenhang mit der Studienmedikation ist unklar.

Fazit

Der humanisierte monoklonale Antikörper Ocrelizumab, der selektiv gegen CD20-positive B-Zellen gerichtet ist, konnte bei Patienten mit schubförmiger multipler Sklerose sowohl die Anzahl der aktiven Entzündungsherde im Gehirn als auch die Krankheitsschübe im Vergleich mit Plazebo und Interferon beta-1a signifikant reduzieren. Das Sicherheitsprofil über den kurzen Behandlungszeitraum war zufriedenstellend. In Phase-III-Studien mit Ocrelizumab bei Patienten mit rheumatoider Arthritis sind jedoch hohe Raten schwerwiegender und opportunistischer Infektionen aufgetreten, was zum Studienabbruch bei dieser Indikation führte. In großen Langzeitstudien muss nun das Nutzen-Risiko-Profil von Ocrelizumab bei multipler Sklerose genauer untersucht werden, damit auch seine Bedeutung im Kreis der zunehmenden Therapieoptionen besser beurteilt werden kann. Auch muss geklärt werden, ob eine frühzeitige Therapie mit Ocrelizumab im Vergleich mit herkömmlichen Therapien die sekundäre Progression der Erkrankung verzögern oder gar verhindern kann [2]. In Phase-III-Studien wird Ocrelizumab zurzeit unter anderem im Vergleich mit subkutan verabreichtem Interferon beta-1a (Rebif®) untersucht [3].

Quellen

1. Kappos L, et al. Ocrelizumab in relapsing-remitting multiple sclerosis: a phase 2, randomised, placebo-controlled, multicentre trial. Lancet 2011;378:1779–87.

2. Chataway J, et al. Multiple scleoris – quenching the flames of inflammation. Lancet 2011; 378:1759–60.

3. www.clinicaltrials.gov (Zugriff am 3. September 2012).

Psychopharmakotherapie 2012; 19(05)