Prof. Dr. Heinz Reichmann, Dresden
Liebe Leserinnen und Leser, ich freue mich, dass wir Ihnen in dieser Ausgabe der Psychopharmakotherapie spannende therapeutische Schwerpunkte der Neurologie vorstellen können. Wir haben das Glück, zu nahezu allen wichtigen Indikationsgebieten herausragende Artikel in diesem Heft anbieten zu können.
Eine spannende Diskussion entfaltet sich über die Wertigkeit von Selegilin und Rasagilin bei der Behandlung des idiopathischen Parkinsonsyndroms. Auf der einen Seite das preiswerte Selegilin, welches wir seit Jahrzehnten kennen, auf der anderen Seite das hochpreisige Rasagilin, das knapp das Ziel verfehlt hat, als krankheitsmodifizierende Substanz von der FDA anerkannt zu werden. Es war somit einmal Zeit, sich über die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Selegilin und Rasagilin ausführlich zu äußern, um vielen interessierten Therapeuten entsprechende Grundlagen vermitteln zu können. Wir haben in unserem Artikel darauf hinweisen können, dass es sich tatsächlich um zwei chemisch unterschiedliche irreversible Monoaminoxidase-B-Hemmer handelt, wobei Selegilin eine etwa 5fach schwächere symptomatische Wirkung hat. Während Selegilin in die etwas problematischen Metaboliten Methamphetamin und Amphetamin abgebaut wird, wird Rasagilin zu Aminoindan abgebaut, das in der Zellkultur neuroprotektive Eigenschaften aufweist. Bei Wertung aller Vor- und Nachteile der beiden MAO-B-Hemmer sind wir zusammenfassend zu dem Schluss gekommen, dass Rasagilin in der Tat zusätzlichen Nutzen bei der Behandlung der Parkinson-Erkrankung bringt.
Ein weiteres komplexes Gebiet der Neurologie ist die Epilepsie und der Umgang mit Antikonvulsiva. Nachdem die Genese von epileptischen Anfällen nach wie vor nicht klar ist und verschiedene Neurotransmitter und Ionenpumpen mit dieser Entäußerung des Gehirns in Verbindung gebracht werden, ist es höchst erfreulich, dass ein neues Wirkprinzip, nämlich der AMPA-Rezeptorantagonist Perampanel, am 27. Juli 2012 zur Zusatzbehandlung von Epilepsien fokalen Ursprungs bei Patienten im Alter von mindestens 12 Jahren zugelassen wurde. B. Steinhoff aus Kehl-Kork, einer der ausgewiesensten Experten für epileptische Erkrankungen in Deutschland, geht in seinem ausführlichen Artikel auf die bisher durchgeführten Studien zu Perampanel ein und weist auch darauf hin, dass die neue Substanz sehr gut verträglich ist und kaum nennenswerte Nebenwirkungen (d.h. Häufigkeit >5%) aufweist. In den klinischen Doppelblindstudien verringerte die Add-on-Therapie mit Perampanel die Anfallshäufigkeit um bis zu 30%, in der offenen Nachbeobachtung wurde nach einem Jahr sogar eine Anfallsreduktion um 49% beobachtet.
Nach Auswertung von Literaturdaten gelang es Rösche und Kollegen aus Rostock, Hinweise darauf zu finden, dass in der Behandlung des Status epilepticus Pregabalin deutlich besser abschneidet als Gabapentin. Die Autoren zeigen aber, dass die Datenlage noch sehr unsicher ist und somit der Einsatz beider Substanzen beim Status epilepticus mit größter Zurückhaltung diskutiert werden muss.
Woitalla et al., Bochum, fassen Literaturdaten und Erfahrungswerte zur Anwendung des Rotigotin-Pflasters in der Therapie der motorischen und nichtmotorischen Störungen des idiopathischen Parkinson-Syndroms zusammen. Dieser einzige Dopaminagonist in Pflasterform ermöglicht durch die kontinuierliche Abgabe von Rotigotin aus der Pflastermatrix eine kontinuierliche Dopamin-Ersatztherapie. Die gleichmäßige Dopaminrezeptoren-Stimulation führt zur Vermeidung von Dyskinesien und Etablierung guter motorischer Beweglichkeit für die Parkinsonpatienten. In der so genannten RECOVER-Studie konnten Trenkwalder und andere zeigen, dass diese kontinuierliche Dopamin-Ersatztherapie auch zu Verbesserungen der Stimmung, der Schmerzen und insbesondere der Schlafparameter führt. Durch die Applikation des Rotigotin-Pflasters konnten nennenswerte Verbesserungen im Einschlaf- und Durchschlafverhalten der Parkinsonpatienten bewirkt werden. Sie mussten nicht mehr so häufig nachts zur Toilette und gaben eine deutlich bessere Erholung durch ihren Schlaf an als ohne Rotigotin. Besonders spannend ist die Substanz auch bei Patienten im perioperativen Umfeld, da durch die Applikation des Pflasters die gute Motorik auch im Operationssaal und postoperativ garantiert werden kann, ohne das von den Anästhesiologen geforderte Nüchternsein des Patienten infrage stellen zu müssen.
Die Therapie der multiplen Sklerose (MS) hat in den letzten Jahren eine deutliche Erweiterung erfahren. Während wir über 10 Jahre meist neben dem altbekannten Azathioprin die Beta-Interferon-Präparate und Glatirameracetat (Copaxone) verwandten, gibt es nun eine Vielzahl neuer MS-Therapeutika, die wegen ihres Nebenwirkungsspektrums allerdings zum Teil den Einsatz in besonderen MS-Zentren verlangen. Über die neue S2-Leitlinie Multiple Sklerose berichten Haghikia und Gold, Bochum. In dieser S2-Leitlinie wurden jüngste Erkenntnisse im Bereich der MS, der Neuromyelitis optica sowie der akuten disseminierten Enzephalomyelitis berücksichtigt. Nachdem die vorangegangene Fassung 2008 publiziert wurde, sind weitere wichtige Kapitel, zum Beispiel zur symptomatischen Therapie von MS-assoziierten Störungen und zum Thema MS und Kinderwunsch, hinzugekommen. Dieser Artikel vermittelt somit sehr übersichtlich und mit einprägsamen Algorithmen eine hervorragende Grundlage für jeden, der MS-Patienten auf hohem wissenschaftlichen und evidenzbasierten Niveau therapieren möchte.
Aus derselben Arbeitsgruppe wird eine kritische und informative Diskussion über Fingolimod nach dessen Zulassung geführt. Neben der guten Wirksamkeit von Fingolimod gibt es interessanterweise Hinweise, dass auch diese Substanz möglicherweise neuroprotektive Effekte hat. Beeindruckend ist die hohe Zahl der inzwischen mit Fingolimod versorgten Patienten, die bei 35 000 liegt, was sicherlich auch daran liegt, dass es sich hierbei um eine orale Immunprophylaxe handelt.
Als weiteres orales Immuntherapeutikum für die MS-Therapie wird zurzeit Teriflunomid untersucht. Ellrichmann und Gold fassen den Stand der klinischen Prüfung zusammen.
Insgesamt sind somit in diesem Heft für Parkinson, Epilepsie und multiple Sklerose die neueste Literatur und die neuesten Arzneistoffe kritisch aufgearbeitet, sodass es damit gelingen sollte, alle Interessierten auf den aktuellen Stand wichtiger neurologischer Krankheitsbilder zu bringen.
Psychopharmakotherapie 2012; 19(05)