Moderate bis schwere Demenz

Systematische Schmerztherapie dämpft Agitation und Aggression


Dr. Barbara Kreutzkamp, Hamburg, Dr. Lutz M. Drach, Schwerin

Bei Patienten mit moderater bis schwerer Demenz können Agitation, Aggression und andere neuropsychologische Störungen durch eine systematische Schmerztherapie deutlich reduziert werden. In einer kontrollierten Cluster-Studie ging der Agitationsscore (Cohen-Mansfield Agitation Inventory, CMAI) in der schmerztherapeutischen Interventionsgruppe signifikant stärker zurück als in der Kontrollgruppe mit üblicher Pflege.
Mit einem Kommentar von Dr. med. Lutz M. Drach, Schwerin

Agitation und Aggression sind häufige Symptome einer Demenz, insbesondere bei Patienten mit moderater und schwerer Demenz in Pflegeheimen. Agitation und Aggression gehören zu den Symptomen demenzieller Erkrankungen, die Patienten, Pflegekräfte und Angehörige am meisten belasten. Mittel der Wahl für die Behandlung dieser Zustände sind Antipsychotika, die bei etwa 40 bis 60% aller Heimbewohner eingesetzt werden. Allerdings haben Antipsychotika bei älteren und dementen Personen teilweise schwere Nebenwirkungen und ihr Einsatz ist mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert. Alternativen für die Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzkranken sind daher gesucht.

Ein Ansatz fokussiert auf die Behandlung von Schmerzen: Viele Demenz-Patienten leiden unter Schmerzen, die sich bei ihnen aufgrund des Verlusts von Gedächtnis, abstraktem Denken und der eingeschränkten Mitteilungsfähigkeit als Agitation manifestieren können. In Leitlinien zur Betreuung von Demenz-Patienten wird bereits auf die Bedeutung von Schmerzen für die Entstehung von psychischen oder Verhaltenssymptomen sowie die Notwendigkeit einer Behandlung etwaiger Schmerzen hingewiesen [1, 2]; doch die Wirksamkeit dieser Intervention wurde in Studien bisher noch wenig untersucht.

Nun liegen die Ergebnisse einer randomisierten Parallelgruppenstudie vor, in der der Einfluss einer systematischen Analgetika-Gabe auf die Agitation bei Heimbewohnern mit moderater bis schwerer Demenz untersucht wurde [3].

Methodik

Die randomisierte einfachblinde Studie wurde an 60 Pflegestationen (Cluster) in insgesamt 18 Altersheimen in Norwegen durchgeführt. Einbezogen waren 352 Bewohner mit einer moderaten bis schweren Demenz und klinisch bedeutsamen Verhaltensauffälligkeiten, definiert als ein Score von 39 oder mehr im Cohen-Mansfield Agitation Inventory (CMAI), gleichbedeutend mit einer klinisch relevanten Agitation über mindestens eine Woche. Das CMAI ist ein Fragebogen, in dem die Häufigkeit von 29 Verhaltensmustern einer Agitation von Pflegekräften auf einer 7-Punkt-Skala (1=nie; 7=mehrmals pro Stunde) angegeben wird; die Skala umfasst Werte zwischen 29 und 203.

Die Patienten erhielten randomisiert über acht Wochen

  • eine Schmerztherapie (Interventionsgruppe, 33 Cluster, n=175) oder
  • die übliche Pflege (Kontrollgruppe, 27 Cluster, n=177).

Die Schmerztherapie in der Interventionsgruppe erfolgte nach einem Stufenprotokoll (Tab. 1): Patienten der Stufe 1 erhielten Paracetamol, bei unzureichendem Ansprechen wurde Morphin, Buprenorphin transdermal oder Pregabalin gegeben. Die Auswahl des Analgetikums war abhängig von der Therapie vor Studienbeginn und vom Gesundheitszustand des Patienten.

Tab. 1. Stufenprotokoll zur Schmerztherapie [3]

Stufe

Vorbehandlung, Zustand des Patienten

Wirkstoff,
Applikationsweg

Dosierung

1

Keine Analgetika oder niedrig dosiertes Paracetamol

Paracetamol, oral

Maximal 3 g/Tag

2

Hoch dosiertes Paracetamol oder niedrig dosiertes Morphin

Morphin, oral

10–20 mg/Tag

3

Niedrig dosiertes Buprenorphin oder Schluckstörungen

Buprenorphin, transdermal

5–10 µg/Stunde

4

Neuropathische Schmerzen

Pregabalin, oral

25–300 mg/Tag

Primäres Studienziel war die Agitation, gemessen mit dem CMAI. Sekundäre Studienziele waren unter anderen die Aggression (gemessen anhand der Nursing Home Version des Neuropsychiatric Inventory [NPI-NH]) und Schmerzen (gemessen anhand der Mobilisation Observation Behavior Intensity Dementia 2 [MOBID-2]).

Ergebnisse

In der Analgetika-Interventionsgruppe ging die Agitation deutlich stärker zurück als in der Kontrollgruppe: Der durchschnittliche Rückgang der Agitationsscores nach acht Wochen betrug in der Interventionsgruppe 17% und in der Kontrollgruppe 6% (p<0,001, Tab. 2). Die Schmerztherapie wirkte sich auch deutlich auf die Schwere der neuropsychiatrischen Symptome und der Schmerzen aus. Bei den Aktivitäten des täglichen Lebens und der Kognition bestanden keine Unterschiede zwischen den Gruppen.

Tab. 2. Ergebnisse (Kovarianzanalyse wiederholter Messungen) [3]

Endpunkt

Kontrollgruppe

[Mittelwert (Standardabweichung)]

Interventionsgruppe

[Mittelwert (Standardabweichung)]

Geschätzter Behandlungseffekt

(95%-KI)

p-Wert

Agitation (CMAI-Score)*

  • Woche 0

56,2 (16,1)

56,5 (15,2)

  • Woche 8

52,8 (16,8)

46,9 (18,7)

–7,0 (–3,7; –10,3)

<0,001

Aggression (NPI-NH-Score)

  • Woche 0

31,4 (21,4)

34,8 (21,9)

  • Woche 8

26,9 (20,7)

21,0 (19,3)

–9,0 (–5,5; –12,6)

<0,001

Schmerzen (MOBID-2)

  • Woche 0

3,7 (2,5)

3,8 (2,7)

  • Woche 8

3,5 (2,6)

2,3 (2,1)

–1,3 (–0,8; –1,7)

<0,001

* Primärer Endpunkt; KI: Konfidenzintervall; CMAI: Cohen-Mansfield Agitation Inventory; NPI-NH: Neuropsychiatric Inventory Nursing Home Version; MOBID-2: Mobilisation Observation Behavior Intensity Dementia 2

Diskussion

Bei Patienten mit moderater bis schwerer Demenz in Pflegeheimen lassen sich durch eine systematische, abgestufte Schmerztherapie Agitation und Aggression deutlich vermindern: Der prozentuale Rückgang der CMAI-Scores gegenüber den Ausgangswerten betrug in der Interventionsgruppe durchschnittlich 17%. In Studien mit Risperidon, in denen zur Beurteilung der Wirksamkeit ebenfalls das CMAI eingesetzt wurde, gingen die Agitationsscores um rund 3%, 13% bzw. 18% zurück, jeweils im Vergleich zu Plazebo. Damit könnte die Analgetika-Gabe zur Behandlung der Agitation bei Demenz eine wirksame Alternative zu Risperidon darstellen. Klinisch relevant ist dieser Befund auch vor dem Hintergrund, dass der Rückgang von Agitation und Aggression parallel zur Schmerzreduktion verlief.

Bei der Interpretation der Ergebnisse sollte ein möglicher sedativer Effekt unter Morphin berücksichtigt werden. Allerdings erhielten nur 25% der Patienten sedative Medikamente und nur drei Patienten wurden wegen Benommenheit und Übelkeit von der Studie ausgeschlossen. Auch die kognitiven Funktionen verschlechterten sich nicht.

Inwieweit die einzelnen Schmerzmittel zu dem Gesamttherapieeffekt beigetragen haben, wurde nicht publiziert. Möglicherweise lassen sich bereits allein mit Paracetamol gute Ergebnisse erreichen, die eventuell durch nichtmedikamentöse Interventionen weiter verbessert werden könnten. Weitere Studien zu diesem Behandlungsansatz stehen noch aus [3, 4].

Fazit

Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, Schmerzen bei Demenz-Patienten so exakt wie möglich zu eruieren und systematisch mit Analgetika zu behandeln. Die Schmerztherapie sollte ein selbstverständlicher Baustein im Management von Patienten mit moderater bis schwerer Demenz sein. Dadurch könnte sich der bei diesen Patienten mit Risiken behaftete Einsatz von Antipsychotika vermindern lassen.

Quellen

1. S3-Leitlinie Demenzen, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. – Selbsthilfe Demenz (www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-013_S3_Demenzen_lang_11-2009_11-2011.pdf, Zugriff am 3.1.2012).

2. Lyketsos CG, et al. Position statement of the American Association for Geriatric Psychiatry regarding principles of care for patients with dementia resulting from Alzheimer disease. Am J Geriatr Psychiatry 2006;14:561–72.

3. Husebo BS, et al. Efficacy of treating pain to reduce behavioural disturbances in residents of nursing homes with dementia: cluster randomised clinical trial. BMJ 2011;343:d4065, doi: 10.1136/bmj.d4065.

4. Rosenberg PB, Lyketsos CG. Treating agitation in dementia. A systematic pain management protocol may help. BMJ 2011;343:164–5.

Kommentar

Die referierte Studie von Husebo et al. (2011) unterstreicht, wie wichtig es ist, bei Unruhe und Aggressivität von Demenzkranken vor einer symptomatischen Psychopharmakotherapie nach möglichen körperlichen Ursachen für die Verhaltensauffälligkeiten zu suchen. Neben Schmerzen sind hier insbesondere auch Obstipation und Harnverhalt häufig.

Schwer demente Patienten haben häufig Schwierigkeiten, verständlich zu äußern, dass sie Schmerzen leiden. Deshalb verwundert es nicht, dass demente Patienten ein erhöhtes Risiko unzureichender Schmerzbehandlung haben. Dies kann die aufmerksame Beobachtung durch Pflegepersonal oder Angehörige entscheidend verbessern, die hierfür geschult werden müssen. Fremdbeurteilungsskalen wie z.B. „Beurteilung von Schmerzen bei Demenz“ (BESD) sind dabei hilfreich. Eine ungezielte analgetische Therapie ist aber nicht unproblematisch, da viele Analgetika und Koanalgetika besonders bei dementen Patienten Delirien erzeugen können. Hier spricht die ausbleibende Verschlechterung der Kognition im Mini-Mental Status (MMST) für Verträglichkeit der in der referierten Studie gewählten Analgetika (Paracetamol, Morphin oral, Buprenorphin transdermal, Pregabalin).

Psychopharmakotherapie 2012; 19(02)