Priv.-Doz. Dr. Dieter Angersbach, Wolfratshausen
In der Behandlung der sozialen Phobie hat sich eine Kombination von Pharmakotherapie und kognitiver Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen. Als Wirkstoffe der ersten Wahl gelten hierfür selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Allerdings begrenzen häufige unerwünschte Wirkungen dieser Substanzen, wie Übelkeit und sexuelle Funktionsstörungen, ihre Anwendung, außerdem sind die Responseraten mit etwa 50% relativ niedrig. Daher sind weitere wirksame Therapien gefragt, insbesondere solche mit einem anderen Wirkungsmechanismus.
Mirtazapin blockiert a2-adrenerge Autorezeptoren und verstärkt so die noradrenerge und serotonerge Neurotransmission; weiterhin ist es ein Antagonist an Serotonin-5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren. In einer früheren 10-wöchigen Doppelblindstudie, an der ausschließlich weibliche Patienten mit sozialer Phobie teilgenommen hatten, war Mirtazapin besser wirksam als Plazebo [1].
Studiendesign
In die nun veröffentlichte Plazebo-kontrollierte Doppelblindstudie über 12 Wochen wurden erwachsene Patienten beiderlei Geschlechts (18–65 Jahre) mit einer generalisierten sozialen Phobie nach DSM-IV eingeschlossen [2]. Ausschlusskriterien waren unter anderen komorbide Achse-I- und -II-Erkrankungen, depressive Störungen entsprechend einem Score auf der Hamilton Depression Rating Scale von mindestens 15 sowie eine medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung der sozialen Phobie innerhalb des letzten Monats. Die Patienten wurden randomisiert einer Behandlung mit Mirtazapin oder Plazebo zugeteilt (jeweils n=30). Die Mirtazapin-Dosis betrug zu Beginn 30 mg/Tag und wurde nach 14 Tagen auf 45 mg/Tag gesteigert.
Primärer Wirksamkeitsparameter war die Änderung des LSAS-Scores vom Einschluss bis zum Studienende. Weitere Endpunkte waren die Änderungen des Scores der Fear of Negative Evaluation Scale (FNES), der Sheehan Disability Scale (SDS) und der Clinical Global Impression Scale, Teil Zustandsänderung (CGI-I). Response war definiert als eine Abnahme des LSAS-Scores um mindestens 40% und eine Beurteilung im CGI-I mit „stark verbessert“ oder „sehr stark verbessert“. Die Patienten wurden beim Einschluss sowie nach 2, 4, 8 und 12 Wochen beurteilt.
Ergebnisse
Von den insgesamt 60 Patienten brachen drei die Studie ab: zwei Patienten der Mirtazapin-Gruppe wegen starker Sedierung und ein Patient in der Plazebo-Gruppe ohne Angabe von Gründen.
Varianzanalysen innerhalb der Gruppen ergaben in beiden Behandlungsgruppen eine signifikante Abnahme der LSAS- , FNES- und SDS-Scores (jeweils p<0,001); es gab jedoch keine signifikanten Unterschiede der Effekte zwischen den beiden Gruppen. Der LSAS-Score sank unter Mirtazapin im Mittel um 13,5±16,9 Punkte (von 68,3 auf 54,8) und unter Plazebo um 11,2±17,8 Punkte (von 73,6 auf 62,4). Die Anzahl der Responder war mit jeweils vier (13%) in beiden Gruppen gleich, auch die CGI-I-Scores unterschieden sich nicht signifikant.
Unerwartete Nebenwirkungen traten nicht auf. Die Patienten in der Mirtazapin-Gruppe nahmen im Verlauf der Studie deutlich an Gewicht zu (im Mittel um 2,8±2,7 kg), dagegen nahmen die Patienten der Plazebo-Gruppe leicht ab (–0,6±1,5 kg; p<0,001).
Einen Unterschied der vorliegenden Untersuchung zu der vorangegangenen Studie sehen die Autoren darin, dass in der neueren Studie Patienten mit depressiven Symptomen und mit einer komorbiden Achse-I- und -II-Erkrankung ausgeschlossen waren. In der älteren Studie wurden beispielsweise depressive Symptome nicht beurteilt, so dass Besserung anderer psychiatrischer Symptome unter Mirtazapin eine Besserung der sozialen Phobie vorgetäuscht haben könnte.
Kommentar
Mirtazapin ist nicht zur Behandlung der sozialen Phobie zugelassen und wird dort auch nicht als Standardtherapie eingesetzt. Da SSRI zwar wirksam, aber nicht besonders erfolgreich sind, wäre es hilfreich, wenn alternative Therpieoptionen zur Verfügung stünden. Ob Mirtazapin als Alternative für die Behandlung der sozialen Phobie infrage kommt, ist angesichts der Ergebnisse der vorliegenden Studie unsicher.
Die Aussagefähigkeit dieser Untersuchung sollte allerdings mit Vorsicht bewertet werden, denn die Wahrscheinlichkeit, signifikante Unterschiede zu entdecken, ist bei einer Kohortenstärke von nur 30 Patienten pro Behandlungsarm nicht besonders groß. Außerdem zeigen die verschiedenen Scores der Beurteilungsskalen, dass die Patienten bei Einschluss nur leicht bis mäßig krank waren und sich nur mäßig durch die Erkrankung behindert fühlten. Teilgenommen hatten also Patienten, bei denen eine Substanz vermutlich weniger bewirken kann als bei schwer erkrankten Patienten.
Quellen
1. Muehlbacher M, et al. Mirtazapine treatment of social phobia in women: a randomized, double-blind, placebo-controlled study. J Clin Psychopharmacol 2005;25:580–3.
2. Schutters SI, et al. Mirtazapine in generalized social anxiety disorder: a randomized, double-blind, placebo-controlled study. Int Clin Psychopharmacol 2010;25:302–4.
Psychopharmakotherapie 2011; 18(03)