Arzneimittelsicherheit

Suizidrisiko unter Antiepileptika abhängig von der Erkrankung


Dr. Barbara Ecker-Schlipf, Holzgerlingen

In einer retrospektiven Kohortenstudie, in der die Daten von mehr als fünf Millionen Patienten aus Allgemeinarztpraxen in Großbritannien ausgewertet wurden, wurde bei Epilepsie-Patienten kein Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antiepileptika und suizidalen Handlungen gefunden. Bei depressiven Patienten sowie bei Personen, die nicht an Epilepsie, Depression oder bipolaren Störungen litten, war jedoch das Risiko für suizidale Ereignisse unter Therapie mit Antiepileptika erhöht.

Patienten mit psychiatrischen Störungen, insbesondere mit affektiven Störungen, haben gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ein höheres Suizidrisiko. Bei Patienten, die an psychiatrischen Erkrankungen leiden, ist das Risiko für einen Suizid noch stärker erhöht, wenn außerdem eine Epilepsie vorliegt. Zugleich ist eine Epilepsie ein Risikofaktor für die Entwicklung einer psychiatrischen Erkrankung (vor allem Depressionen kommen bei Epileptikern häufig vor), und auch bei Epileptikern ohne komorbide psychiatrische Erkrankung kann das Suizidrisiko erhöht sein.

Im Januar 2008 ordnete die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) an, dass Hersteller von Antiepileptika vor einem erhöhten Risiko suizidaler Gedanken und Handlungen unter der Therapie warnen müssen. Vorausgegangen war eine Metaanalyse von Plazebo-kontrollierten Studien zu elf Antiepileptika: Patienten, die mit Antiepileptika behandelt wurden, hatten in diesen Studien ein fast doppelt so hohes Risiko für suizidale Ereignisse wie Patienten, die ein Plazebo erhielten. Das Risiko stieg dabei kurz nach Beginn der Therapie und blieb unabhängig vom Typ des Antiepileptikums und der Indikation erhöht. Die absolute Zahl suizidaler Ereignisse war in diesen Studien allerdings sehr gering, weshalb zwischen den einzelnen Wirkstoffen und den zugrunde liegenden Erkrankungen kein Unterschied festgestellt wurde.

Methoden

In der vorliegenden Kohortenstudie wurde der Zusammenhang zwischen der Anwendung oder Nichtanwendung von Antiepileptika einerseits und suizidalen Ereignissen (Suizide, versuchte Suizide) andererseits bei Patienten mit Epilepsie, Depression oder bipolaren Störungen untersucht. Hierfür wurden Daten der THIN(The health improvement network)-Datenbank ausgewertet. Die Datenbank wird aus den täglichen Berichten von Allgemeinarztpraxen gespeist und liefert anonymisierte demographische und medizinische Informationen über individuelle Patienten und deren Krankengeschichte sowie die verordneten Arzneimittel. Die Daten sind in Großbritannien repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung.

Im ersten Teil der Studie wurden aus diesem Datenpool Patienten mit Epilepsie, Depression oder bipolaren Störungen identifiziert und die Inzidenz suizidaler Ereignisse in diesen Patientengruppen unabhängig von der Medikation bestimmt. Anschließend wurde der Zusammenhang zwischen der Einnahme beziehungsweise der Nicht-Einnahme von Antiepileptika und suizidalen Ereignissen analysiert. Als Referenz diente ein Patientenkollektiv, das weder an Epilepsie, Depressionen oder bipolaren Störungen litt noch Antiepileptika (gegen eine weitere, unbekannte Erkrankung) einnahm. Personen, die in der Vorgeschichte suizidale Ereignisse aufwiesen oder eine familiäre Prädisposition hatten, wurden von der Analyse ausgeschlossen.

Charakteristika der Patienten

Die Studienkohorte umfasste insgesamt 5130795 Patienten, die Nachbeobachtungszeit belief sich insgesamt auf 31527585 Patientenjahre. Die mittlere Nachbeobachtungszeit für alle Studienkohorten lag bei 6,2±5,2 Jahren. 48,6% der Patienten waren Männer, das mittlere Alter betrug 33,7±23,1 Jahre.

Insgesamt 66925 Patienten waren Epileptiker; von diesen litten 16120 Patienten nicht an einer Depression oder bipolaren Störung und erhielten keine Antiepileptika. Auch 435790 Patienten, die nur an einer Depression litten, und 3814 Patienten, die nur eine bipolare Störung hatten, wurden nicht mit Antiepileptika behandelt.

Insgesamt 77319 Patienten bekamen Antiepileptika, hatten aber weder Epilepsie noch eine Depression oder bipolare Störung. Die Indikationen für den Einsatz von Antiepileptika bei diesem Personenkreis waren nicht bekannt. Allerdings waren in den Krankenberichten bei 18,7% dieser Patienten in den 30 Tagen vor Verordnung des Antiepileptikums Schmerzen und mit Schmerzen verbundene Diagnosen (z.B. Herpes zoster) dokumentiert.

Suizidale Ereignisse

Insgesamt unternahmen 8212 Personen einen Suizidversuch, 464 Personen davon begingen Suizid. Dabei korrelierte die zugrunde liegende Erkrankung stärker mit der Häufigkeit suizidaler Ereignisse als die Frage, ob die Patienten Antiepileptika erhielten oder nicht.

In einer Reihe von Analysen wurden die einzelnen Studienkohorten getrennt betrachtet und einflussnehmende Parameter wie Alter, Krankheitsdauer, vorangegangene Therapien mit Antiepileptika, Lithium, Antipsychotika oder Antidepressiva, Alkoholabusus, mentale Störungen sowie chronische Krankheiten berücksichtigt.

Bei Patienten, die Antiepileptika erhielten, ohne dass sie an Epilepsie, Depression oder bipolarer Störung erkrankt waren, war das Risiko für suizidale Ereignisse gegenüber der Referenzgruppe erhöht (Odds-Ratio 2,57; 95%-Konfidenzintervall 1,78–3,71). Auch bei Patienten, die an einer oder mehreren dieser Erkrankungen litten, war das Risiko gegenüber der Referenzgruppe erhöht. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antiepileptika und einem erhöhten Risiko für suizidale Ereignisse bestand allerdings nur bei Patienten mit Depression (ohne Epilepsie oder bipolare Störung). Bei Patienten mit Epilepsie sowie bei Patienten mit bipolarer Störung war die Anwendung von Antiepileptika nicht mit einem signifikant erhöhten Suizidrisiko verbunden (Tab. 1).

Tab. 1. Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antiepileptika und dem Auftreten suizidaler Ereignisse in den einzelnen Studienkohorten

Kohorte

Fallpatienten [n]

Kontrollen* [n]

Adjustiertes Odds-Ratio
(95%-Konfidenzintervall)

p-Wert

Epilepsie (keine Depression oder bipolare Störung)

Keine Antiepileptika

64

282

1,00

Anwendung von Antiepileptika

104

399

0,59 (0,35–0,98)

0,04

Depression (keine Epilepsie oder bipolare Störung)

Keine Antiepileptika

3475

17747

1,00

Anwendung von Antiepileptika

99

157

1,65 (1,24–2,19)

0,001

Bipolare Störung (keine Epilepsie)

Keine Antiepileptika

60

65

1,00

Anwendung von Antiepileptika

17

14

1,13 (0,35–3,61)

0,84

Epilepsie und Depression (keine bipolare Störung)

Keine Antiepileptika

33

64

1,00

Anwendung von Antiepileptika

61

85

1,24 (0,56–2,72)

0,60

Epilepsie und bipolare Störung

Keine Antiepileptika

0

0

1,00

Anwendung von Antiepileptika

1

0

Unendlich (0,00)

Unendlich

* Insgesamt 103 Fallpatienten konnten keinen Kontrollen zugeordnet werden

Fazit

In der vorliegenden Analyse von Daten aus Allgemeinarztpraxen in Großbritannien wird das erhöhte Risiko für suizidale Ereignisse bei Patienten mit Epilepsie, Depression und bipolarer Störung bestätigt. Bei Epilepsie-Patienten wurde jedoch kein Zusammenhang zwischen der Anwendung von Antiepileptika und einem erhöhten Suizidrisiko gefunden. Dagegen wurde bei Patienten mit Depression und bei Patienten ohne Epilepsie, Depression oder bipolare Störung eine Verbindung zwischen der Einnahme von antiepileptischen Wirkstoffen und dem Auftreten suizidaler Ereignisse beobachtet.

Angesichts des geringen absoluten Risikos besteht jedoch kein Anlass, aus Angst vor Suizidalität ganz auf die Einnahme von Antiepileptika zu verzichten. Vielmehr sollten der Nutzen und die Risiken wie bei anderen medikamentösen Therapien sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.

Quelle

Arana A, et al. Suicide-related events in patients treated with antiepileptic drugs. N Engl J Med 2010;363:542–51.

Psychopharmakotherapie 2011; 18(01)