Evidenzbasierte Medizin zwischen Phase-III-Studien und „real world“-Daten


Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München

Dieses Heft enthält wieder eine Reihe von interessanten Beiträgen. Gerade diese Fülle unter verschiedenen Aspekten interessanter Themen, die jedes Heft der PPT charakterisiert, ist wahrscheinlich, neben der praktischen Relevanz der Beiträge, ein Grund für die bekannte hohe Leserakzeptanz unserer Zeitschrift. Ich möchte einige Beiträge herausgreifen.

Im Beitrag von Laux et al. wird über die Ergebnisse einer sehr großen Anwendungsbeobachtung zur Therapie mit Agomelatin in der Facharztpraxis berichtet. Diese Anwendungsbeobachtungsstudien werden heute mit großem wissenschaftlichem Anspruch durchgeführt und sind deshalb auch viel aussagekräftiger als frühere Anwendungsbeobachtungsstudien, die häufig vorrangig Marketingzwecken dienten. Aus dem Blickwinkel der evidenzbasierten Medizin genügt es nicht, die Therapieentscheidungen im klinischen Alltag nur auf die Resultate aus Phase-III-Studien an hochselektierten Patienten zu basieren, sondern man muss auch Ergebnisse von Untersuchungen berücksichtigen, die dem Versorgungsalltag näher sind. Dies können randomisierte „real world“-Studien sein, aber durchaus auch Anwendungsbeobachtungen ohne Kontrollgruppe, die noch geringere Selektionsanforderungen stellen.

Ein Problem im Behandlungsalltag, vor allem bei geriatrischen Patienten, ist die Polypharmazie. Hewer & Eckermann liefern mit ihrer Übersicht reichlich Anlass, bedenkliche Arzneimittelkombinationen bei diesen in besonderem Maße zu bedenken, um bedeutsame Risiken zu vermeiden. Es stellt sich die Frage, ob man Polypharmazie ohne Interaktionscheck überhaupt noch verantworten kann. Die Thematik ist so brisant, dass sie Gegenstand des Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit 2008/2009 des Bundesministeriums für Gesundheit war, woraus die PRISCUS-Liste (Holt et al., Dtsch Arztebl Int 2010;107:543–51) erwachsen ist.

Wiedemann schildert detailliert die Ergebnisse der klinischen Studien zu Aripiprazol mit besonderem Fokus auf das Symptom Agitiertheit und leitet aus einer Diskussion der besonderen Pharmakodynamik und Pharmakokinetik von Aripiprazol Empfehlungen für die praktische Handhabung ab.

Das Diskussionsforum „Widersprüchliche Evidenz auf höchster Ebene“ widmet sich der schwierigen Problematik, auf welche Daten man sich bei der Evidenzgraduierung beziehen soll und wie es zu „widersprüchlichen Evidenzen“ kommen kann. Dies ist eine höchst aktuelle und bei weitem nicht triviale Problematik. Die evidenzbasierte Medizin behandelt den Begriff „Evidenz“ fast wie einen „Wahrheitsbegriff“, obwohl zum Beispiel in den verschiedenen Leitlinien die Evidenzdefinition/Evidenzgraduierung sehr unterschiedlich sein kann und obwohl durch unterschiedliche Bewertungen von Studien unterschiedliche Schlussfolgerungen in Hinblick auf „Evidenz“ gezogen werden können. Häufig wird in der evidenzbasierten Medizin davon ausgegangen, dass die Heterogenität der Studienresultate durch metaanalytische Auswertung zu einem eindeutigen und nicht widerlegbaren Ergebnis geführt werden kann. Metaanalytische Ergebnisse sind aber bei weitem nicht so eindeutig und konsistent, sondern hängen unter anderem von der Art der angewandten metaanalytischen Methodik ab. Dies wurde im letzten Jahr besonders deutlich gezeigt an den Reanalysen der von Kirsch et al. 2008 [3] vorgelegten Metaanalyse zur Wirksamkeit von Antidepressiva, die zu erheblich anderen, und zwar positiveren Ergebnissen in Hinblick auf die Antidepressivawirksamkeit führten [2].

Zunehmend spielen pharmakoökonomische Überlegungen in unserem Gesundheitssystem eine große Rolle. Auch oder gerade die Psychopharmakotherapie ist davon betroffen. Deshalb ist der Beitrag von Zerth zur „Rolle der Arzneimittelkosten in der Depressionsbehandlung aus Sicht deutscher Krankenkassen“ von hoher Relevanz und die Ausführungen von Fritze in der Sektion Gesundheitsökonomie zu Neuregelungen im Arzneimittelmarkt sind hoch informativ. Hier schließt sich auch wieder der Bogen zur evidenzbasierten Medizin, da diese – das ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden – bei weitem nicht nur die Basis abgibt für eine im Sinne der vorliegenden empirischen Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit adäquatere/optimierte Therapie, sondern auch immer mehr in pharmakoökonomische Konsequenzen umgesetzt wird. Ein unrühmliches Beispiel ist die sogenannte Netzwerkmetaanalyse zu den modernen Antidepressiva von Cipriani et al. [1], in der nicht nur Aussagen über das optimale Antidepressivum über den methodisch nicht von allen Seiten akzeptierten Ansatz der indirekten Metaanalyse gemacht wurden, sondern die Ergebnisse dann auch in einer naiven Weise in Geldwerte umgerechnet wurden.

1. Cipriani A, et al. Lancet 2009;373:746–58.

2. Fountoulakis KN, Moller HJ. Int J Neuropsychopharmacol 2010:1–8.

3. Kirsch I, et al. PLoS Med 2008;5:260–8.

Psychopharmakotherapie 2011; 18(01)