Dr. med. Mirjam Tessmer, Stuttgart
Das Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS), eine der schwersten Formen der Epilepsie, manifestiert sich in der Regel zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr. In etwa 30% der Fälle ist die Ursache nicht auszumachen, ungefähr 70% der Fälle sind auf eine Enzephalopathie prä-, peri- oder postnataler Genese zurückzuführen. In 20–40% der Fälle entwickelt sich das Lennox-Gastaut- aus einem West-Syndrom. Die Erkrankung geht mit einer hohen Anfallsfrequenz einher und ist durch das Auftreten unterschiedlicher Anfallstypen gekennzeichnet. Charakteristisch sind Sturzanfälle (myoklonische, atonische, myoklonisch-atonische oder tonisch-klonische Anfälle), etwa zwei Drittel der Patienten zeigen zudem atypische Absencen. Die Prognose ist ungünstig. Bei einem Großteil der Betroffenen treten Entwicklungsstörungen wie geistige Behinderung, Lernschwächen, Verhaltens- oder Persönlichkeitsstörungen auf, weshalb die Patienten in der Regel lebenslang betreut werden müssen. Aufgrund der Schwere der Krankheit und der niedrigen Prävalenz hat das Lennox-Gastaut-Syndrom den Status einer „Orphan disease“.
Seit 2007 ist Rufinamid (Inovelon®) als Zusatztherapie bei Lennox-Gastaut-Syndrom für Erwachsene und Kinder ab dem 4. Lebensjahr zugelassen. In der zulassungsrelevanten Studie wurden Kinder und junge Erwachsene behandelt; das mittlere Alter lag bei etwa 14 Jahren. Inzwischen gibt es auch Erfahrungen mit der Anwendung bei älteren Erwachsenen.
Studiendesign
Zwischen Juli 2007 und Januar 2010 wurden in der Epilepsieklinik Tabor in Bernau bei Berlin 85 Patienten (54 Männer und 31 Frauen) zwischen 18 und 68 Jahren (Mittel: 33,4 Jahre) stationär und ambulant mit Rufinamid behandelt. Bei 52 der Patienten lag ein Lennox-Gastaut-Syndrom vor, die übrigen 33 litten unter (multi-)fokalen Epilepsien. 31 Patienten hatten täglich Anfälle, bei fast allen Patienten lag eine geistige Behinderung oder ein kognitives Defizit vor. Pharmakoresistenz bestand bei allen Patienten, 81 Patienten erhielten eine Polytherapie mit 2 bis 4 Antiepileptika. Bei 26 Patienten waren bereits Therapieversuche mit Vagusnerv-Stimulation erfolgt.
Rufinamid wurde langsam aufdosiert (+200 mg/Tag alle 3 bis 7 Tage). Als Zieldosis wurden maximal 3400 mg/Tag festgelegt, im Median lag die maximale Tagesdosis bei 1800 mg. In die Beurteilung der Wirksamkeit gingen nur die Daten derjenigen Patienten ein, die mindestens 6 Monate lang mit Rufinamid behandelt wurden (Follow-up 6 bis 30 Monate). Verglichen wurde die Anfallssituation in den letzten drei Monaten vor Beginn der Rufinamid-Therapie mit den letzten drei Behandlungsmonaten vor Ende der jeweiligen Beobachtungszeit.
Ergebnisse
Bei 6 Patienten umfasste der Beobachtungszeitraum weniger als 6 Monate, bei 7 Patienten musste die Therapie aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen werden. Die Daten von 72 der ursprünglich 85 Patienten gingen in die Auswertung zur Wirksamkeit von Rufinamid ein. Bei 26 dieser Patienten (36,1%) wurde eine mehr als 50%ige Reduktion der Gesamtanfallsfrequenz festgestellt, 11 Patienten (15,3%) hatten mehr als 75% weniger Anfälle als vor Behandlungsbeginn. Anfallsfreiheit wurde in keinem Fall erreicht, allerdings waren in einzelnen Fällen beeindruckende Erfolge zu verzeichnen – beispielsweise konnte bei einer Patientin die Anfallsfrequenz von 11 Anfällen pro Tag auf einen Anfall in zwei Monaten reduziert werden. 63,9% der Patienten waren Non-Responder, bei einem der Patienten nahm die Anfallshäufigkeit zu.
Bei den LGS-Patienten nahm die Frequenz der Sturzanfälle (tonische/atonische Anfälle) im Median um 41,1% ab, die Gesamtanfallsfrequenz wurde im Median um 26,9% gesenkt. In Tabelle 1 sind die Ergebnisse zur Wirksamkeit von Rufinamid für die gesamte Gruppe sowie in Abhängigkeit von der Epilepsieform zusammengefasst.
Tab. 1. Wirksamkeit von Rufinamid in der Zusatztherapie bei erwachsenen Patienten mit Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) oder (multi-)fokalen Anfällen
Kriterium |
Insgesamt auswertbare Patienten (N=72) [n (%)] |
Patienten mit LGS (N=44) [n (%)] |
Patienten ohne LGS (N=28) [n (%)] |
Responder >50% |
26 (36,1) |
15 (34,1) |
12 (42,8) |
Responder >75% |
11 (15,3) |
4 (9,1) |
6 (21,4) |
Keine Anfallsfreiheit |
72 (100) |
44 (100) |
28 (100) |
Non-Responder |
46 (63,9) |
28 (63,6) |
16 (57,2) |
Zunahme der Anfallsfrequenz |
1 (1,4) |
1 (2,3) |
Keine |
In die Auswertung zur Verträglichkeit wurden die Daten aller 85 Patienten eingeschlossen. Bei 14 Patienten (16,4%) traten unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf (Tab. 2). Bei 7 dieser Patienten konnten die Nebenwirkungen durch Dosisreduktion der Basismedikation oder von Rufinamid beseitigt werden, bei den übrigen 7 Patienten kam es zum Therapieabbruch.
Tab. 2. Verträglichkeit
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen |
n/N (%) |
Gesamt |
14/85 (16,4) |
Übelkeit/Inappetenz |
7/85 (8,2) |
Sedierung |
5/85 (5,9) |
Ataxie |
2/85 (2,4) |
Steigerung der Anfallsfrequenz |
1/85 (1,2) |
Verhaltensauffälligkeiten |
Keine |
Von den 52 im ersten Jahr behandelten Patienten nahmen 44% nach einer Beobachtungszeit von 18 Monaten weiterhin Rufinamid ein.
Fazit
Im Vergleich zu vorangegangenen Studien mit kürzeren Titrationsphasen traten im hier vorgestellten Patientenkollektiv weniger unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf. Durch das langsame Aufdosieren ist es offenbar eher möglich, die individuelle Nebenwirkungsschwelle nicht zu „überrennen“, auftretende Nebenwirkungen durch Dosistitration der Basis- oder Rufinamid-Medikation unter Kontrolle zu bringen und dadurch bis dahin erzielte nennenswerte Teilerfolge zu erhalten. Aus den Erfahrungen bei diesem Patientenkollektiv resultiert folgende Dosierungsempfehlung:
– Startdosis: 1 bis 2×200 mg/Tag
– Titrationsphase: +200 mg alle 3 bis 7 Tage
– Höchstdosis: 3200 mg/Tag
– Bei Nebenwirkungen: Basismedikation reduzieren
Quelle
Prof. Dr. Hans-Beatus Straub, Bernau bei Berlin, Vortrag „Erfahrungen mit Rufinamid im Erwachsenenalter“, 4. Valentinssymposium®, Berlin, 12.–13. Februar 2010, veranstaltet von Eisai.
Psychopharmakotherapie 2010; 17(05)