Tobias Renner, Morna Scheifele, Andreas Warnke und Marcel Romanos, Würzburg
Bei der psychopharmakologischen Behandlung psychiatrischer Notfälle bei Kindern und Jugendlichen sind verschiedene Aspekte und Besonderheiten zu berücksichtigen. Dem Wunsch, in einer Krisensituation rasch Entlastung zu erfahren, stehen oft prinzipielle Vorbehalte gegenüber zentralnervöser Medikation entgegen, und bei Patienten wie Sorgeberechtigten kann oftmals aus Angst vor unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) eine ablehnende Haltung gegenüber der Therapie bestehen.
Fehlen Kooperationsbereitschaft und Krankheitseinsicht, ist in der Regel auch keine Einsicht in die Notwendigkeit oder auch nur in die Sinnhaftigkeit einer Medikation gegeben. In einigen Notfallsituationen mit akuter Eigen- und/oder Fremdgefährdung erfolgt der Behandlungsauftrag daher im Rahmen einer richterlichen Unterbringung.
Zwar gilt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Grundsatz, dass vor einer Therapie eine umfassende Diagnostik erfolgen muss, in einigen Notfällen – insbesondere in Extremfällen von Fremdaggressivität oder akuter psychotischer Symptomatik – kann dies jedoch nicht immer vollständig realisiert werden. Aufgrund der unmittelbaren Behandlungsindikation kann die Erstbehandlung in solchen Fällen nicht diagnosespezifisch, sondern übergangsweise nur symptomorientiert erfolgen.
Wenn in einer Notfallsituation aufgrund der Befindlichkeit des Patienten, beispielsweise bei fehlender Krankheitseinsicht, akuten Erregungszuständen oder akuter Suizidalität, keine Einwilligung eingeholt und der Patient nicht regelrecht über die Therapiemaßnahme aufgeklärt werden kann, ist die Überwachung des Patienten (Beobachtung von Wirkung und möglichen UAW) mit umfassender Dokumentation besonders anspruchsvoll. Aufklärung und Einholen der Einwilligung müssen baldmöglichst nachgeholt und entsprechend dokumentiert werden.
Neben der Psychopharmakotherapie sind Psychoedukation und -therapie wichtiger Teil des Gesamtkonzepts der Notfallbehandlung, denn das ärztliche Gespräch in den ersten Minuten der Begegnung kann beispielsweise die Behandlungseinsicht des akut hilfebedürftigen Patienten und seine Bereitschaft zur Medikamenteneinnahme wesentlich beeinflussen.
Wenn der Patient nicht für sich sprechen kann, kommt der Fremdanamnese besondere Bedeutung zu.
Liegen eine mutmaßliche Einwilligung oder der rechtfertigende Notstand (§34 StGB) vor, ist eine ärztliche Behandlungsmaßnahme straffrei möglich. Das Behandlungsvorgehen muss sorgfältig dokumentiert werden [3], wobei folgende Punkte berücksichtigt werden sollten:
- Angaben zum Notfallgeschehen (Ausgangssituation, Vorgang der Benachrichtigung)
- Psychopathologischer Befund
- Körperlicher/neurologischer Befund
- Eventuell Laborbefunde
- Eigen- und Fremdanamnese, soweit möglich
- Verdachtsdiagnose
- Angaben zum therapeutischen Vorgehen
- Planung rechtlicher Schritte (Unterbringung, Einschaltung des Richters)
- Anschrift von Bezugspersonen
Bei der individuellen Auswahl des Medikaments sollte darauf geachtet werden, dass es sich um Präparate handelt, deren Dosierung, Wirkung, UAW und Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen dem behandelnden Arzt vertraut sind. Zudem sollten die Arzneistoffe zur oralen sowie parenteralen Applikation verfügbar sein und einen raschen Wirkungseintritt sicherstellen. In der Regel genügt es, jeweils ein hoch- und ein niederpotentes Neuroleptikum, ein Benzodiazepin und ein Antiepileptikum zur Verfügung zu haben.
Es werden insbesondere Anxiolytika oder sedierende Psychopharmaka, beispielsweise Lorazepam oder niederpotente Antipsychotika wie Pipamperon oder Melperon, angewendet [2]. Benzodiazepine wie Lorazepam haben den Vorteil, dass sie sehr schnell wirken und auch bei Vorerkrankungen und Polypharmakotherapie vergleichsweise gut verträglich sind. Sie sollten jedoch möglichst innerhalb von vier Wochen wieder abgesetzt werden, um Gewöhnung und Suchtentwicklung zu vermeiden. Da Benzodiazepine in hoher Dosierung und bei i.v. Gabe zu einer Atemdepression führen können, sollte die i.v. Applikation sehr langsam erfolgen und die Vitalparameter, insbesondere die Atmung, sind zu kontrollieren. In Tabelle 1 sind Empfehlungen zur medikamentösen Therapie verschiedener psychiatrischer Notfälle im Kindes- und Jugendalter zusammengefasst. Auf Suizidalität, Erregungszustände und Bewusstseinsstörungen wird in den nachfolgenden Abschnitten näher eingegangen.
Tab. 1. Medikamentöse Akutbehandlung psychiatrischer Notfälle [mod. nach 4] Cave: Die in der Tabelle angegebenen Dosierungen sind Richtwerte, die für jeden Patienten individuell anzupassen sind. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die meisten Substanzen für die jeweiligen Indikationen im Off-Label-Use eingesetzt werden.
Akute Symptomatik |
Empfohlene Medikation |
Wiederholbarkeit pro Tag |
Maximale Tagesdosis* |
Suizidalität |
Benzodiazepine: |
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Selbstverletzendes Verhalten, Schneidedruck |
Mittel-/niedrigpotente Antipsychotika: |
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Leicht- bis mittelgradige Erregungszustände mit Aggressivität, leichten oder keinen psychotischen Symptomen |
Mittel-/niedrigpotente Antipsychotika: |
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Schwere Erregungszustände mit ausgeprägter Aggressivität, Unruhe oder ausgeprägten psychotischen Symptomen |
– Haloperidol 10 mg i.v. plus Lorazepam 2 mg i.v. (Krampfschutz, langsam [2 mg/min] injizieren!) (Cave: UAW, insbesondere extrapyramidal-motorische Störungen) – Risperidon Schmelztabletten (Risperdal® Quicklet®) 0,5/1 mg |
2–3
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Haloperidol: 30(–60) mg
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Erregungszustände mit ausgeprägter Angstreaktion |
Benzodiazepine: |
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Bewusstseinsstörungen |
– Zunächst somatische Abklärung, außer bei schwerem Erregungszustand (siehe dort) |
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Halluzination und Wahn |
Akut: |
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6 mg |
Synkope/Tetanie infolge Hyperventilation |
– Rückatmung in Hände oder Tüte – Diazepam 5–10 mg p.o. oder i.v. |
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Frühdyskinesien |
– 1 bis 2 Ampullen Biperiden i.m. oder i.v. langsam applizieren (Cave: delirante Zustände bei Kombination mit anderen anticholinergen Substanzen) |
1–2 |
2–8 mg |
Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS) |
Cave: vitale Gefährdung Therapie: sofortiges Absetzen des Antipsychotikums, Kühlung, parenterale Flüssigkeitszufuhr; Überweisung in internistische Intensivtherapie |
*Empfehlungen der maximalen Tagesdosis für Kinder <14 Jahre (Quelle: Rote Liste bzw. Fachinformationen; die Empfehlungen sind als Richtwerte zu verstehen; es muss eine individuelle Anpassung erfolgen): Haloperidol: ab 3 Jahre p.o. 0,025 mg/kg Körpergewicht (KG)/Tag (d) bis max. 0,2 mg/kg KG/d; Chlorprothixen: ab 3 Jahre 0,5–1 mg/kg KG/d, Steigerung bis auf 6 mg/kg KG/d möglich; Pipamperon: 1 mg/kg KG; Lorazepam: 0,05 mg/kg KG/d; i. m.: intramuskulär; i.v.: intravenös; p.o.: peroral; UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Suizidalität
Suizidalidät ist immer als Notfall zu behandeln, auch wenn eine suizidale Handlung als „appellativ“ oder „demonstrativ“ eingeschätzt wird. Die Bandbreite der Ursachen und Auslöser von Suizidalität ist groß. Bei Suizidalität sollte stets geprüft werden, ob eine medikamentöse Intervention indiziert ist.
Ist eine Therapie mit Neuro-Psychopharmaka aufgrund akuter Suizidalität oder mangelnder Distanzierung von selbstverletzendem Verhalten notwendig, kommen insbesondere Benzodiazepine, vor allem Lorazepam, als anxiolytische oder dämpfende Psychopharmaka zur Anwendung – wegen möglicher Suchtentwicklung allerdings möglichst nicht länger als vier Wochen. Auch niederpotente Antipsychotika wie Melperon oder Pipamperon werden eingesetzt, insbesondere bei rezidivierenden suizidalen Krisen oder chronischem selbstverletzendem Verhalten bei Persönlichkeitsstörungen. Die Langzeitbehandlung richtet sich nach der Grunderkrankung. Wichtig ist es, keine Verschreibung eines Präparats in Menge und Art vorzunehmen, die für einen erneuten Suizidversuch geeignet ist.
Erregungszustände
Erregungszustände sind durch Enthemmung, Antriebssteigerung und Kontrollverlust gekennzeichnet. Letzteres führt häufig zu Fremdaggressivität. Im Kindes- und Jugendalter treten Erregungszustände besonders häufig bei hyperkinetischer Störung des Sozialverhaltens, einfacher Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, gestörtem Sozialverhalten, Impulskontrollstörungen, hirnorganischem Psychosyndrom nach Alkohol-/Drogenkonsum oder im Rahmen von akuten psychotischen Episoden auf.
Bei akuten Erregungszuständen und unklarer Anamnese empfiehlt es sich, einen Drogenschnelltest durchzuführen, bevor Medikamente verabreicht werden, da je nach Art der akuten Intoxikation Kontraindikationen vorliegen könnten.
Bei der Behandlung von Erregungszuständen haben sich dämpfende, niederpotente Antipsychotika wie Pipamperon oder Levomepromazin bewährt. Auch atypische Antipsychotika wie Ziprasidon und Olanzapin eignen sich für die Therapie akuter Erregungszustände bei Kindern und Jugendlichen [1]. Nur selten ist in extremen Fällen die Gabe hochpotenter Antipsychotika (z.B. Haloperidol) notwendig.
UAW wie orthostatische Dysregulation mit Kollapsneigung und kardiovaskuläre Nebenwirkungen wie Tachykardien erfordern die Kontrolle und Dokumentation der Vitalparameter (Blutdruck/Puls) vor Erstanwendung sowie in regelmäßigen Abständen nach Medikamentengabe.
Bei Erregungszuständen im Rahmen schizophrener Psychosen ist die Gabe von hochpotenten Antipsychotika, beispielsweise von Haloperidol, möglich. Allerdings treten unter einer Therapie mit klassischen Antipsychotika im Kindes- und Jugendalter häufig extrapyramidal-motorische Störungen auf. In seltenen Fällen kann es auch zur Entwicklung eines potenziell lebensbedrohlichen malignen neuroleptischen Syndroms kommen. Daher bietet sich die Gabe atypischer Antipsychotika wie Olanzapin zur schnellen Beherrschung von Agitationszuständen an, beispielsweise als Schmelztablette (Zyprexa Velotab) oder als Pulver zur Herstellung einer i.m. Injektionslösung (Zyprexa 10 mg Pulver) [1]. Auch in diesem Fall sind UAW zu beachten – es können beispielsweise Bradykardien mit oder ohne Hypotonie auftreten –, weshalb die Patienten kontinuierlich klinisch überwacht werden müssen. Weitere atypische Antipsychotika wie Quetiapin, Ziprasidon, Aripiprazol oder Risperidon kommen ebenfalls zum Einsatz [5]. Das atypische Neuroleptikum Clozapin darf erst verordnet werden, wenn zwei andere Antipsychotika nicht ausreichend wirksam waren oder wegen schwerwiegender UAW abgesetzt werden mussten, und ist in der Notfalltherapie somit nicht Mittel der ersten Wahl.
Sind die Erregungszustände stark angstbetont, bietet sich die Gabe von Benzodiazepinen, beispielsweise Lorazepam, als alleinige Medikation oder zusätzlich zu Antipsychotika an [6]. Bei einer Basismedikation mit Clozapin dürfen Benzodiazepine wegen der Gefahr einer Atemdepression bis hin zum Atemstillstand nicht verabreicht werden, insbesondere bei der i.v. Gabe von Benzodiazepinen.
Bewusstseinsstörungen
Bei gestörter Bewusstseinslage (Benommenheit, Somnolenz, Sopor oder Koma) muss zunächst von einer vitalen Bedrohung ausgegangen werden. Nach erfolgter Notfallbehandlung (z.B. antiepileptische Behandlung bei Status epilepticus) ist ohne Zeitverlust eine umgehende Diagnostik in einer entsprechenden somatischen Fachklinik anzustreben. Weitere psychopharmakologische Therapiemaßnahmen sind nachrangig.
Qualitative Veränderungen des Bewusstseins kommen beispielsweise bei Dämmerzuständen im Rahmen einer epileptischen Erkrankung oder bei der katatonen Schizophrenie auch im Kindes- und Jugendalter vor, sind allerdings selten. Bei starker Erregung oder Verwirrtheit können Benzodiazepine oder Haloperidol indiziert sein [3].
Literatur
1. Khan SS, Mican LM. A naturalistic evaluation of intramuscular ziprasidone versus intramuscular olanzapine for the management of acute agitation and aggression in children and adolescents. J Child Adolesc Psychopharmacol 2006;16:671–7.
2. Laux G, Berzewski H. Notfallpsychiatrie. In: Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg.). Psychiatrie und Psychotherapie. Band 2. 3. Auflage. Wien: Springer, 2008:1307–36.
3. Pinhard K, Müller-Spahn F. Phamakotherapie neuropsychiatrischer Notfall- und Akutsituationen. In: Riederer P, Laux G (Hrsg.). Neuro-Psychopharmaka. Band 6: Notfalltherapie, Antiepileptika, Psychostimulantien, Suchttherapeutika und sonstige Psychopharmaka. 2. Auflage. Wien, New York: Springer Verlag, 2006:1–25.
4. Scheifele M, Warnke A, Romanos M. Psychopharmakologische Behandlung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Notfallsituation. In: Gerlach M, Mehler-Wex C, Walitza S, Warnke A, Wewetzer C (Hrsg.). Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen und Therapie. 2. Auflage. Wien, New York: Springer, 2009:103–9.
5. Thomas P, Alpetkin K, Gheorghe M, Mauri M, et al. Management of patients with acute psychotic episodes of schizophrenia. CNS Drugs 2009;23:193–21.
6. Wilhelm S, Schacht A, Wagner T. Use of antipsychotics and benzodiazepines in patients with psychiatric emergencies: results of an observational trial. BMC Psychiatry 2008:22:61.
Dr. med. Tobias Renner, Dr. med. Morna Scheifele, Prof. Dr. med. Andreas Warnke, Dr. med. Marcel Romanos, Universitätsklinikum Würzburg, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Füchsleinstraße 15, 97080, E-Mail: renner@kjp.uni-wuerzburg.de
Psychopharmacological intervention in child and adolescent psychiatric emergencies
In the treatment of child and adolescent psychiatric emergencies, medication is frequently necessary to avert acute hazard and to build the grounds for subsequent therapeutic efforts. Acute agitation, psychosis or suicidality often necessitate emergency medication. The choice of substance depends on the prevalent symptoms. A limited number of drugs, well known to the prescriber, is sufficient to encounter psychiatric emergencies. In child and adolescent psychiatric emergencies typical as well as atypical antipsychotics and benzodiazepines are used most frequently. Basic medication and acute intoxications with psychoactive substances should be considered due to potentially lethal drug interactions. Although in emergency situations immediate medical treatment is required, thorough documentation is necessary. Furthermore, during the acute emergency treatment close surveillance of the patient is mandatory.
Key words: Suicidality, children, adolescents, agitation, intoxication, self-harm, expansive behaviour, antipsychotics, benzodiazepines, drug interaction
Psychopharmakotherapie 2010; 17(04)