Prof. Dr. Manfred Gerlach, Würzburg, Prof. Dr. Claudia Mehler-Wex, Ulm, Prof. Dr. Andreas Warnke, Würzburg
Die Therapie mit Psychopharmaka ist bei speziellen Symptomen und psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter Teil eines mehrere Ebenen umfassenden Behandlungskonzepts, das auch begleitende psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen einschließt. Für einen effektiven Einsatz von Psychopharmaka ist eine besonders gründliche Kenntnis ihrer Wirkungsweise, ihrer Dosierung und der erwünschten und unerwünschten Wirkungen erforderlich. Diese Kenntnis stützt sich bis heute vor allem auf Forschungsergebnisse an Erwachsenen. Während für sie durch das Arzneimittelgesetz schon seit langem klinische Prüfungen vorgeschrieben sind, um die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch zu gewährleisten, liegen solche Studien für Kinder und Jugendliche bislang nur in sehr begrenztem Umfang vor. Erst seit Anfang 2007 müssen in Europa alle Arzneimittel (Ausnahme: das Arzneimittel ist für die Anwendung an Kindern und Jugendlichen nicht geeignet), für die eine Zulassung beantragt wird, auch in klinischen Studien an Kindern getestet worden sein.
Da Kindern und Jugendlichen eine medikamentöse Therapie nicht vorenthalten werden kann, werden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie häufig Psychopharmaka außerhalb des zugelassenen Altersbereichs und zum Teil auch außerhalb der zugelassenen Behandlung eines bestimmten Symptoms oder einer bestimmten Störung verabreicht (so genannte „Off label“- oder „Unlicensed“-Anwendung). Diese Anwendung ist im Rahmen eines individuellen Heilversuchs unter bestimmten Voraussetzungen möglich, zum Beispiel wenn die grundsätzliche Wirksamkeit und ein diesbezüglicher Einsatz des Arzneistoffs bereits bekannt sind. Ethisch und medizinrechtlich ist es nicht zu vertreten, sich „sicherheitshalber“ auf den Zulassungsstatus bei der Verordnung von Psychopharmaka im Kindesalter zurückzuziehen [1]. Beispielsweise wären bei schizophrenen Psychosen von Minderjährigen, am Zulassungsstatus orientiert, vornehmlich klassische Neuroleptika einzusetzen, mit den bekannten Risiken für das Auftreten von Nebenwirkungen, etwa der stigmatisierenden extrapyramidal-motorischen Störungen, gegebenenfalls auch Spätdyskinesien [2]. So ist Haloperidol (Haldol®), obwohl es keine Studien an Kindern und Jugendlichen gibt, nach der Fachinformation ab 3 Jahren zugelassen. Die Verwendung dieses Arzneimittels ist gerade bei einem frühen Erkrankungsbeginn, etwa in Kindheit oder Pubertät und bei langfristiger Behandlungsnotwendigkeit, bei Vorliegen nebenwirkungsärmerer Alternativen ethisch nicht vertretbar (siehe Beitrag von Mehler-Wex et al.). Diese prinzipiellen ethischen Güterabwägungen werden gestützt vom sogenannten Aciclovir-Urteil des OLG Köln (30. 5. 1990 – 27 U 169/87), das den aktuellen internationalen Erkenntnisstand und nicht die deutsche Zulassung zum entscheidenden Kriterium erhob.
Bei der Verordnung von Psychopharmaka gilt es, eine Fülle von Fragen zu beantworten. Besteht für die vorliegende psychische Störung eine psychopharmakologische Behandlungsindikation? Wenn ja, welche Substanzen stehen zur Verfügung? Nach welchen Kriterien ist die Auswahl des Präparats zu treffen? Inwieweit ist das Wirksamkeitsprofil eines Psychopharmakons empirisch gesichert? Welche Anforderungen sind an Aufklärung und Compliance vorauszusetzen? Wie ist zu dosieren, wie lange und wann ist mit der erwünschten Wirkung und den unerwünschten Wirkungen zu rechnen? Wie sollen Therapieerfolg und unerwünschte Wirkungen systematisch, umfassend und regelmäßig erfasst werden? Welche medikamentösen Wechselwirkungen sind bei Kombinationsbehandlungen zu beachten? Inwieweit sind die Kontrollen von Wirkung und unerwünschten Wirkungen auch bei ambulanter Therapie gesichert? Ist die Medikation in der akuten Krankheitsphase anders als im weiteren Verlauf der Erkrankung? Wann besteht die Indikation zur Umstellung des Medikaments und wie ist diese durchzuführen? Wann ist das Absetzen des Medikaments angezeigt und wie ist es zu handhaben? Welche Laborkontrollen sind bei Aufdosierung und bei Dauermedikation erforderlich? Wie ist die Medikation in das Gesamtkonzept der Behandlung integriert? Welche rechtlichen und ethischen Aspekte gilt es zu beachten? Und im Speziellen in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen: Welche altersspezifischen Aspekte sind zu berücksichtigen, welche empirischen Grundlagen für diese Altersgruppe gibt es, welche Maßnahmen können einen größtmöglichen Therapieerfolg unter Gewährleistung der Patientensicherheit unterstützen?
Zu diesen Fragen will das vorliegende Schwerpunktheft Antwort geben. In den Beiträgen von Taurines et al., Mehler-Wex et al. sowie Gerlach und Warnke wird die Therapie mit den Psychopharmakon-Klassen Antidepressiva, Neuroleptika und Stimmungsstabilisatoren, deren klassischer Vertreter Lithiumsalze sind, im Kindes- und Jugendalter behandelt. Am Beispiel der Antidepressiva wird deutlich, dass die ursprüngliche Einteilung der Psychopharmaka anhand der Beeinflussung der psychopathologischen Symptome der Revision bedarf. So werden diese Substanzen nicht nur bei Patienten mit depressiven Störungen eingesetzt, sondern auch bei Zwangs-, Angst-, Panik- und Ess-Störungen, mutistischen Verhaltensweisen, Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Enuresis, Schlafstörungen, zur Behandlung neuropathischer Schmerzen und der posttraumatischen Belastungsstörung. Dies wird auch in dem Beitrag von Seifert et al. deutlich. So finden bei der Therapie von Angststörungen und Phobien nicht die klassische Vertreter der Anxiolytika, die Benzodiazepine bzw. Barbiturate, Verwendung, sondern vorwiegend Antidepressiva mit serotonerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente, niedrigpotente Neuroleptika und Betablocker.
In der Behandlung von kinder- und jugendpsychiatrischen Notfallsituationen ist häufig eine medikamentöse Intervention notwendig, um eine akute Gefährdung abzuwenden und nachfolgende Therapieansätze zu ermöglichen. Akute Erregungszustände, psychotisches Erleben oder akute Suizidalität können eine notfallmäßige Medikation erfordern. Deren Wahl erfolgt symptomorientiert, wobei in der Notfallversorgung nur eine begrenzte Zahl von gut eingeführten Vertretern jeweiliger Stoffklassen zum Einsatz kommt (Renner et al.).
Bei der Psychopharmakotherapie von Kindern und Jugendlichen ist das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen oder ineffektive Behandlung aufgrund von alters- und entwicklungsabhängigen Besonderheiten in der Verstoffwechselung und Wirkungsweise der Medikamente erhöht. Da zudem bei der Off-Label-Anwendung bereits zugelassener Psychopharmaka die aufgrund der Zulassungsstudien garantierten Sicherheits- und Wirksamkeitskriterien nicht gegeben sind, ist ein standardisiertes therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) dringend indiziert. Diese Methode und das zur Betreibung eines multizentrischen internetbasierten Patientenregisters gegründete deutsch- österreichisch-schweizerische „Kompetenznetz TDM“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (www.tdm-kjp.de) werden im Beitrag von Klampfl et al. vorgestellt.
Literatur
Fegert JM, Kölch M, Lippert HD, Oehler KU und die Mitglieder der Kommission Entwicklungspsychopharmakologie. Stellungnahme der Kommission Entwicklungspsychopharmakologie zum Off-label use. DGKJP, 19. September 2008 (www.dgkjp.de/de_stellungnahmen_12.html).
Mehler-Wex C, Wewetzer Ch, Gerlach M. Neuroleptika. In: Gerlach M, Mehler-Wex C, Walitza S, Warnke A, Wewetzer C (Hrsg) Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen und Therapie, 2. Auflage. Wien New York: Springer, 2009:255-88.
Psychopharmakotherapie 2010; 17(04)