Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine seltene progressive neurologische Erkrankung mit Befall des ersten und zweiten motorischen Neurons, die mit rasch progredienten Paresen, Muskelatrophien, Schluckstörungen und letztendlich Ateminsuffizienz einhergeht. Die einzige therapeutische Maßnahme, die bisher zu einer Verlangsamung der Erkrankung führt, ist die Behandlung mit dem Glutamat-Antagonisten Riluzol (Rilutek®). In Zellkultur- und Tierexperimenten zeigte auch Lithium eine Schutzwirkung bei exzitatorischen Einflüssen (z.B. NMDA-Rezeptor-vermittelte Glutamat-Toxizität). Eine Pilotstudie hatte zudem auf eine Wirkung von Lithium bei Patienten mit ALS hingewiesen. Deshalb wurde nun zur Prüfung der Wirksamkeit eine prospektive Plazebo-kontrollierte Doppelblindstudie durchgeführt.
Alle Patienten waren mit Riluzol in stabiler Dosierung vorbehandelt und erhielten es weiterhin. Eine Hälfte der Patienten erhielt Lithiumcarbonat in Kapseln à 150 mg und wurde auf einen Lithium-Serumspiegel zwischen 0,4 und 0,8 mEq/l eingestellt. Die andere Hälfte der Patienten erhielt ein entsprechendes Plazebo.
Der primäre Endpunkt war der Zeitraum bis zu einer Verschlechterung der ALS-Funktionsskala (ALSFRS-R) um mindestens 6 Punkte oder Tod. Die 12 Items der ALSFRS-R betreffen bulbäre Symptome, Fein- und Grobmotorik sowie Atmung; bei normaler Funktion in allen Items werden 48 Punkte erreicht. Die Ausgangwerte in der vorliegenden Studie betrugen 38,4 Punkte in der Lithium-Gruppe und 36,5 Punkte in der Plazebo-Gruppe.
Nach Einschluss von 84 Patienten (oder nach 55 Endpunkten) sollte eine Interimsanalyse durchgeführt werden. Bei der ersten Interimsanalyse hatten 22 der 40 Patienten der Lithium-Gruppe und 20 von 44 Patienten in der Plazebo-Gruppe den Endpunkt erreicht. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant. Die Differenz der Abnahme des Punktwerts auf der ALSFRS-R zwischen Lithium und Plazebo betrug 0,15. Die Studie wurde beendet, da die weitere statistische Analyse ergab, dass kein therapeutischer Effekt zu erwarten sei, wenn die Studie fortgeführt würde. Es gab keine schwerwiegenden Nebenwirkungen. Stürze und Rückenschmerzen waren häufiger in der Lithium-Gruppe als in der Plazebo-Gruppe.
Kommentar
Diese Studie zeigt, dass die Ergebnisse, die aus Tierexperimenten gewonnen wurden, nämlich dass Lithium am NMDA-Rezeptor wirksam ist, nicht auf klinische Wirkungen beim Menschen extrapoliert werden können. Die Studie war so angelegt, dass sie im Falle einer Unwirksamkeit von Lithium rechtzeitig abgebrochen werden konnte, um nicht zu viele Patienten der aktiven Therapie auszusetzen.
Nach wie vor steht für die Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose nur Riluzol zur Verfügung. Eine kausale Therapie ist weiterhin nicht verfügbar.
Quelle
Aggarwal SP, et al.; and the Northeast and Canadian Amyotrophic Lateral Sclerosis consortia. Safety and efficacy of lithium in combination with riluzole for treatment of amyotrophic lateral sclerosis: a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2010;9:481–8.
Psychopharmakotherapie 2010; 17(04)