Ortwin Pfeiffer, Kassel, Detlef Degner, Göttingen, und Michael Franz, Bad Emstal
Kasuistik
Vorgeschichte
Die Patientin wurde aus der neuropsychiatrischen Ambulanz der eigenen Klinik, wo sie seit einem zwölf Monate zurückliegenden ersten stationären psychiatrischen Aufenthalt in Behandlung war, wegen Verdacht auf depressive Pseudodemenz bei Klagen über massive Verschlechterung von Neugedächtnis- und Auffassungsstörungen, abendlichen Verwirrtheitszuständen und Schlafstörungen eingewiesen.
Bei der vorangegangenen stationären psychiatrischen Behandlung waren auch die Differenzialdiagnosen „komplex fokale Anfälle“ und „dissoziative Störung“ diskutiert, aber inzwischen von den damals behandelnden neuropsychiatrischen Kollegen verworfen worden. An Befunden wurde damals das Fehlen von fokal neurologischen Symptomen in der klinischen Untersuchung, diskrete Eiweißerhöhung bei ansonsten unauffälligem Liquorbefund (inklusive negativem Protein 14–3–3) und ein links frontotemporaler Herdbefund im EEG mit „steileren Abläufen“ berichtet; im kranialen Magnetresonanztomogramm fanden sich außer multiplen White-matter-lesions im Marklager im Sinne einer mittelgradigen Mikroangiopathie und einer 3 x 1,5 Zentimeter großen Arachnoidalzyste links temporopolar keine Auffälligkeiten.
Internistischerseits gab es außer arterieller Hypertonie und Zustand nach Thyreoidektomie keine anamnestischen Besonderheiten.
Bei der erneuten Aufnahme fanden sich somatoanamnestisch keine neuen Gesichtspunkte. Die Medikation wurde bei Wiederaufnahme angegeben mit: Pregabalin 150 mg/Tag, Olanzapin 5 mg/Tag, Valproinsäure 900 mg/Tag, Ramipril 5–0–5 mg/Tag, Bisoprolol 5–0–0 mg/Tag, Hydrochlorothiazid 12,5 mg/Tag.
Verlauf
Da die Differenzialdiagnose komplex-fokaler Anfälle verworfen worden war, wurden nach Aufnahme zunächst die Antiepileptika sukzessive abgesetzt. Ebenfalls abgesetzt wurde Olanzapin aufgrund seiner anticholinergen und damit die Kognition bei alterndem Gehirn verschlechternden und potenziell delirogenen Wirkkomponente.
Neu angesetzt wurden Citalopram wegen der depressiven Verstimmung und Donepezil wegen kognitiver Defizite, die mit der Vorstellung einer depressiven Pseudodemenz schwer in Einklang zu bringen waren (z.B. schwerste visuokonstruktive Defizite im Uhrentest).
Die antihypertensive Vormedikation übernahmen wir zunächst unverändert.
Nach den Umstellungen der Psychopharmakotherapie war die Patientin noch mäßig depressiv verstimmt, aber insgesamt psychisch so deutlich gebessert, dass die Entlassung gegen Ende der dritten Behandlungswoche ins Auge gefasst wurde.
Allerdings gab es Blutdruckspitzen bis 260/110 mmHg, die wir zunächst bedarfsweise mit Bayotensin® akut (5 mg Nitrendipin) und nach internistischem Konsil ab dem 16. stationären Behandlungstag mit zusätzlicher Gabe von 5 mg Amlodipin morgens behandelten (Abb. 1).
Abb. 1. Gemessene systolische Blutdruckwerte am Tag und in den Nachtstunden sowie Medikation und Zeitpunkte von Ereignissen (siehe Text)
Eine Woche nach Beginn der Amlodipin-Gabe (am 25. Tag) wurden abends gegen 22 Uhr Blutdruckwerte von 60/40 mmHg gemessen, nachdem die Patientin durch verwaschene Sprache aufgefallen war; wenige Minuten später erlitt sie eine konvulsive Synkope. Daraufhin wurden zunächst alle Antihypertensiva abgesetzt. Dennoch kam es 48 Stunden später (am 27. Tag), nachdem Ramipril und Bisoprolol – in gegenüber der Vormedikation auf die Hälfte reduzierter morgendlicher Einmaldosis – wieder gegeben worden waren, zu einem Sturz der Patientin gegen 22 Uhr. Anlässlich dessen wurde der Blutdruck gemessen, der erneut nur 70/40 mmHg betrug.
Die daraufhin vorgenommene Analyse der im Rahmen der internistischen Konsile durchgeführten beiden Langzeit-Blutdruckmessungen vom 14. und 20. Tag (Abb. 2), also vor und nach Amlodipin-Zugabe, zeigte übereinstimmend einen nächtlichen Abfall der Einzel- wie auch der Stundenmittelwerte um 70 bis 90 mmHg in der Zeit zwischen 21 und 22 Uhr bei nach Amlodipin-Gabe um durchschnittlich etwa 15 mmHg abgesenktem Gesamtniveau.
Abb. 2. Ergebnisse der Langzeit-Blutdruckmessung vom 20. Behandlungstag. Dargestellt ist der Verlauf der systolischen und diastolischen Werte sowie der Mittelwerte.
Da dieser Abfall zeitlich mit dem zu erwartenden Plasmaspiegel-Anstieg des um 20 Uhr gegebenen Prothipendyls korrelierte, wurde Prothipendyl abgesetzt. Im Nachhinein vermuten wir auch für einen Sturz in den Morgenstunden des 21. Tages als Ursache eine Prothipendyl-assoziierte nächtliche Hypotonie (Abb. 3). Nach Absetzen des Prothipendyls traten keine Hypotonie-korrelierten klinischen Ereignisse mehr auf. Soweit Blutdruck-Werte nach 20 Uhr gemessen wurden, lagen diese im normo- oder hypertensiven Bereich.
Abb. 3. Aufgrund von Messungen, Medikation und Ereignissen vermuteter Verlauf des systolischen Blutdrucks (siehe Text; vgl. Abb. 1)
Amlodipin wurde wegen erneut sehr hoher Tages-Blutdruckwerte ab dem 36. Tag mit 5 mg wieder angesetzt. Es resultierte zuletzt eine tolerable Blutdruckeinstellung am Tag mit systolischen Werten bis 160 mmHg, ohne dass es zu nächtlichen Hypotonien und Verwirrtheitszuständen kam.
Die nach Absetzen von Prothipendyl wieder aufgetretenen Schlafstörungen besserten sich unter zugegebenen 75 mg Melperon (ab dem 28. Tag) ohne erkennbaren Einfluss auf die Blutdrucklage zufriedenstellend.
Diskussion
Dieser im Rahmen des AMSP-Projekts (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie [12]) erfasste und im Rahmen der AMSP-Fallkonferenz im Februar 2010 analysierte Fall einer schweren Hypotonie unter Prothipendyl-Medikation beleuchtet die pharmakologische Beeinflussung von Schlaf- und Wachrhythmusstörungen im Alter als einen Brennpunkt der gerontopsychiatrischen Pharmakotherapie. Die Behandlung solcher Störungen stellt einen häufigen Grund für gerontopsychiatrische Krankenhauseinweisungen dementer Patienten dar, wobei die Schwere der zirkadianen Rhythmusstörung in gewisser Weise mit dem Fortschritt des Demenzstadiums korreliert zu sein scheint [7]. Regelmäßig hängt die weitere Tragbarkeit eines Patienten in einer häuslichen Pflegesituation vom Behandlungserfolg ab. Auch in Pflegeheimen entstehen teilweise massive Belastungen von Personal und Mitbewohnern. Obwohl nichtpharmakologischen Interventionen ein hoher Stellenwert einzuräumen ist [1, 3, 5], bleibt die Pharmakotherapie ein unverzichtbarer Teil der Behandlung bei schweren Wachrhythmusstörungen.
Dem gegenüber steht ein Mangel an gesicherten Erkenntnissen zur pharmakologischen Beeinflussung dieser Störungen im Kontext von Demenzerkrankungen. Die Empfehlungen zur Pharmakotherapie von Schlafstörungen [1–3, 5, 9, 11] bei nicht dementen Patienten sind auf diese Problematik nur begrenzt übertragbar; die neue S3-Leitlinie zu Demenzen [4] stellt fest: „Es liegen keine RCTs [Randomized controlled trials] zum Einsatz von Hypnotika bei Demenzkranken vor […] Für die in der Praxis häufige Anwendung von Antipsychotika oder Antidepressiva zur Schlafinduktion liegt keine höhergradige Evidenz vor.“
Das hier verwendete Prothipendyl (Dominal®) wird seit fünf Jahrzehnten zur Behandlung von Störungen des Wachrhythmus bei alten Patienten eingesetzt; Hypotonie als adrenolytische Nebenwirkung mit der potenziellen Folge zerebrovaskulärer Perfusionsstörungen war bereits Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts bekannt [6].
Die Substanz zählt wegen der in der klinischen Praxis augenfälligen Wirksamkeit nach wie vor zu den in der Gerontopsychiatrie regelmäßig in hypnotischer Indikation benutzten Psychopharmaka, obwohl Daten zur Pharmakodynamik und Pharmakokinetik nur unvollständig verfügbar sind – so ist Prothipendyl beispielsweise bisher nicht in der PDSP-Ki-Database (Psychoactive Drug Screening Program, Affinity-Database) [10] gelistet – und kontrollierte Studien zum Nutzen-Risiko-Profil nicht vorliegen. Für den Einsatz in der Gerontopsychiatrie spricht aufgrund klinischer Alltagserfahrung neben der stark schlafinduzierenden Wirkung infolge des Histamin-H1-Antagonismus die insgesamt gute Verträglichkeit bei alten Patienten mit geringer Neigung zum morgendlichen Überhang bei kurzer Halbwertszeit und fehlender Kumulationsneigung. Extrapyramidal-motorische und anticholinerge Nebenwirkungen sind im therapeutischen Dosisbereich praktisch nicht zu erwarten.
Dennoch gibt dieser Fall Anlass, die Risiken des Einsatzes von Prothipendyl zur Schlafinduktion kritisch zu überdenken. Der Zusammenhang der nächtlichen Hypotonie mit der Prothipendyl-Gabe ist vor dem Hintergrund der pharmakokinetischen Daten der beteiligten Substanzen (Tab. 1) und der im vorliegenden Fall vergleichsweise guten Messdatenlage sehr plausibel.
Tab. 1. Pharmakokinetik der beteiligten Substanzen [Quelle: Fachinformationen der Hersteller]
Wirkstoff |
Zeit bis zum Erreichen der Plasmaspitzenkonzentration tmax [h] |
Eliminationshalbwertszeit t1/2 [h] |
Zeit bis zum Erreichen der Steady-State-Konzentration tss [d] |
Prothipendyl |
1–1,5 |
2–3 |
? |
Amlodipin |
6–12 |
35–50 |
7–8 |
Bisoprolol |
1–3 |
10–17 |
? |
Ramipril |
2–4 |
13–17 |
4 |
Hydrochlorothiazid |
2–5 |
2,5 |
? |
Trotz mehrmals täglicher Blutdruckmessungen sind die nächtlichen Hypotonien erst aufgefallen, als bereits vital bedrohliche Blutdruckbereiche erreicht wurden, da im Zeitfenster der wirksamen Prothipendylplasmaspiegel keine Routinekontrollen durchgeführt wurden. Routinemäßig verstärkte nächtliche Blutdruckkontrollen würden demgegenüber dem beabsichtigten Nutzen der Substanz – der Schlafinduktion – entgegenwirken. Aus diesem Grund ist auch ein „under-reporting“ von Hypotonien unter Prothipendyl zu befürchten, auch wenn nach der klinischen Erfahrung schwere Hypotonien unter Prothipendyl selten aufzutreten scheinen. Pragmatisch umsetzbare Vorgehensweisen zur Identifizierung gefährdeter Patienten sind noch nicht gefunden worden.
Die instabile und schwer einstellbare Hypertonie der betroffenen Patientin ist hier aber sicher als besonders ungünstige Konstellation zu sehen, die in Zukunft Anlass geben soll, in ähnlich gelagerten Fällen kein Prothipendyl einzusetzen. Ob das Nutzen-Risiko-Profil von Prothipendyl gegenüber den anderen zur Verfügung stehenden Substanzen insgesamt schlechter ist, können wir mangels entsprechender randomisierter kontrollierter Studien bisher nicht sicher beurteilen. Im Rahmen des AMSP-Projekts [12] wird versucht werden, aus den eingehenden Meldungen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Psychopharmakotherapie dahingehende Anhaltspunkte zu gewinnen.
Literatur
1. Ancoli-Israel S, Ayalon L. Diagnosis and treatment of sleep disorders in older adults. Am J Geriatr Psychiatry 2006;14:95–103.
2. Benkert O, Hippius H (Hrsg.). Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie. 5. Auflage. Heidelberg: Springer-Verlag, 2005.
3. Bloom HG, Ahmed I, Alessi CA, Ancoli-Israel S (editors). Evidence-based recommendations for the assessment and management of sleep disorders in older persons. J Am Geriatr Soc 2009;57:761–89.
4. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) (Hrsg.). S3-Leitlinie „Demenzen“. Bonn, 2009.
5. Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) (Hrsg.). S3-Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“. Somnologie 2009;13:4–160.
6. Fleetwood JF. The treatment of mental symptoms in the aged with prothipendyl (Tolnate). J Coll Gen Pract 1964;8:262–6.
7. Gehrman P, Marler M, Martin JL, Shochat T, et al. The relationship between dementia severity and rest/activity circadian rhythms. Neuropsychiatr Dis Treat 2005;1:155–63.
8. Jeste DV, Blazer D, Casey D, Meeks T, et al. ACNP White Paper: Update on use of antipsychotic drugs in elderly persons with dementia. Neuropsychopharmacol 2008;33:957–70.
9. Lautenschlager MM, Lautenschlager NT, Förstl H. Psychopharmaka im Alter. In: Holsboer F, Gründer G, Benkert O (Hrsg.). Handbuch der Psychopharmakotherapie. Heidelberg: Springer-Verlag, 2008:1081–91.
10. PDSP Ki Database [Internet]. Version: kidb100215. Bethesda (MD, USA): The National Institute of Mental Health‘s Psychoactive Drug Screening Program. Erhältlich unter http://pdsp.med.unc.edu/downloadKi.html
11. Pollmächer T, Wetter TC. Schlafstörungen. In: Holsboer F, Gründer G, Benkert O (Hrsg.). Handbuch der Psychopharmakotherapie. Heidelberg: Springer-Verlag, 2008:977–93.
12. www.amsp.de (Letzter Zugriff: 15.4.2010)
Ortwin Pfeiffer, Priv.-Doz. Dr. med. Michael Franz, vitos Klinikum Kurhessen, 34306 Bad Emstal, E-Mail: Ortwin.Pfeiffer@vitos-kurhessen.de Dr. med. Detlef Degner, Psychiatrische Klinik der Universität, Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen
Severe nightly hypotension with combination of antihypertensive medication and prothipendyl
A 77 year old demented female with known arterial hypertension received 80 mg prothipendyl at 8 p.m. for sleep cycle regulation from the day of admission to a geriatric psychiatric ward. At first there seemed to be no adverse reactions. One week after adding amlodipine to the antihypertensive medication of ramipril, bisoprolol and hydrochlorothiazide because of arterial pressure of up to 260 mmHg, she showed symptoms of disturbed cerebral perfusion with severe arterial hypotension of 60/40 mmHg at 10 p.m., although daytime blood pressure measurements still yielded mostly hypertensive results. Satisfactory blood pressure regulation could only be achieved after prothipendyl was replaced by melperone.
This case was registered by the AMSP (Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie – Drug Safety in Psychiatry) project and sheds light on the special problems of treating disorders of the sleep-wake-cycle with substances that have potential hypotensive side effects. Circadian sleep disorder of the irregular type is a frequent indication for geriatric psychiatric inpatient treatment of demented patients.
Key words: Prothipendyl, combination therapy, adverse drug reaction, hypotonia, AMSP
Psychopharmakotherapie 2010; 17(03)