Behandlung von Patienten mit unipolarer Depression


Zusammenfassung der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“*

Barbara Kreutzkamp, Hamburg

Depressive Störungen gehören zu den häufigsten Erkrankungen in der ambulanten und stationären Versorgung. Das Wissen um die Behandlungsmöglichkeiten depressiver Erkrankungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. In einer S3-Leitlinie, die gleichzeitig als nationale Versorgungsleitlinie erarbeitet wurde, werden Diagnostik und Therapieverfahren dargestellt und bewertet. Im Folgenden werden vor allem die Empfehlungen zur medikamentösen Therapie zusammengefasst.
Psychopharmakotherapie 2010;17:137–46.

Eine Leitlinie ist keine Richtlinie im juristischen Sinne, es handelt sich also nicht um Regeln für das Handeln oder Unterlassen. Leitlinien mit ihren Empfehlungen sind vielmehr auf der Methodenbasis der evidenzbasierten Medizin entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten, die eine dem Einzelfall angemessene Versorgung ermöglichen sollen. Vorrangiges Ziel von Leitlinien ist die Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung hinsichtlich Mortalität, Morbidität und Lebensqualität.

Die vorliegende S3-Leitlinie wurde zusätzlich als nationale Versorgungsleitlinie (NAV) konzipiert. Deshalb wurden auch die Schnittstellen zwischen der haus-, fachärztlichen und stationären Versorgung berücksichtigt. Die jetzt vorliegende Langfassung der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie wurde in einem umfangreichen Konsensusverfahren im Oktober 2009 fertig gestellt und im November 2009 publiziert. Eine vierteljährliche Überarbeitung wird angestrebt. Im Folgenden werden die Inhalte der Leitlinie in der Version 1.0 referiert, Schwerpunkt ist dabei die medikamentöse Versorgung der Patienten.

Evidenz und Empfehlungsgrade

Leitlinien enthalten Empfehlungen, die auf Basis der bestverfügbaren Evidenz und im Konsens aller an der Erstellung Beteiligten formuliert wurden. Evidenzbasiertes Vorgehen bedeutet, die verfügbare Evidenz zu ermitteln und nach methodischen Kriterien zu klassifizieren. Für die Bewertung der Wirksamkeit unter kontrollierten Bedingungen (efficacy) liefern randomisierte klinische Studien die zuverlässigsten Ergebnisse. (Allerdings wird die Aussagekraft randomisierter kontrollierter Studien insbesondere zum Wirksamkeitsnachweis psychotherapeutischer Verfahren in Deutschland kontrovers beurteilt, da vor allem die Übertragbarkeit für den klinischen Versorgungsalltag [effectiveness] nicht klar erkennbar wird.)

Ein Fehlen von randomisierten kontrollierten Studien belegt allerdings nicht die Unwirksamkeit eines Behandlungsverfahrens. Deshalb werden auch nicht kontrollierte Untersuchungen, beispielsweise Beobachtungsstudien oder Fallserien, herangezogen. Die Studienmethodik gibt den Ausschlag für die Einordnung des Therapieverfahrens in die Evidenzebenen Ia (Metaanalyse von mindestens drei randomisierten kontrollierten Studien) bis IV (Expertenmeinung, klinische Erfahrungen). Dabei gilt: Je höher die Evidenzebene, desto stärker die Empfehlung. Grundlage der Evidenzdarlegung in der vorliegenden Leit- und Versorgungsleitlinie zu unipolaren Depressionen waren die Evidenzkategorien des britischen NICE in der Modifikation, die in der benutzten Quell-Leitlinie verwendet wurde.

Bei der Vergabe von Empfehlungsgraden werden neben der Evidenz auch weitere ergänzende klinische Faktoren berücksichtigt, insbesondere

  • ethische Verpflichtungen
  • klinische Relevanz der Effektivitätsmaße der Studien
  • Anwendbarkeit der Studienergebnisse auf die Patientenzielgruppe
  • Präferenzen der Patienten
  • Umsetzbarkeit im Alltag, insbesondere in den verschiedenen Versorgungsbereichen

Entsprechend dieser Konsensusaspekte konnte eine Auf- oder Abwertung des Empfehlungsgrades gegenüber dem Evidenzgrad erfolgen.

Zusätzlich zu den Empfehlungen wurden von der Konsensusrunde auch Statements verabschiedet. Statements wurden dann aufgenommen, wenn es für praktisch wichtige Behandlungs- und Vorgehensweisen keine Evidenzen gab, obwohl sie aus Sicht von Experten und Konsensusrunde plausibel waren. In manchen Fällen wird dadurch auch auf zusätzlichen Forschungsbedarf hingewiesen. Über die Aussage der in der S3-Leitlinie verwendeten Empfehlungsgrade siehe Infokasten 1.

Infokasten 1: Empfehlungsgrade

A

„Soll“-Empfehlung (starke Empfehlung): Mindestens eine randomisierte kontrollierte Studie von guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia und Ib)

B

„Sollte“-Empfehlung (Empfehlung): Gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls Bezug zur spezifischen Fragestellung fehlt.

0

„Kann“-Empfehlung (Empfehlung offen): Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III. Diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren.

KKP

„Klinischer Konsenspunkt“ (gute klinische Praxis): Empfohlen als gute klinische Praxis („good clinical practice point“) im Konsens und aufgrund der klinischen Erfahrung der Mitglieder der Leitliniengruppe als ein Standard in der Behandlung, bei dem keine experimentelle wissenschaftliche Erforschung möglich oder angestrebt ist.

Anwendungsbereich

Der Geltungsbereich der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie umfasst unipolare depressive Störungen. Im Einzelnen sind dies: depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störungen (F33), anhaltende affektive Störungen (nur Dysthymie, F34.1) und sonstige affektive Störungen (nur rezidivierende kurze depressive Störungen, F38.1). Es werden nur Empfehlungen für Patienten über 18 Jahre ausgesprochen.

Diagnostik

Im ICD-10 werden depressive Störungen als psychopathologische Syndrome von bestimmter Dauer innerhalb der diagnostischen Kategorie der affektiven Störungen definiert. In den jeweiligen Hauptkategorien müssen mindestens zwei, bei schweren Störungen drei Hauptsymptome über zwei Wochen anhalten. Wird die Diagnose Depression in ihrer jeweiligen Subtypisierung gestellt, sollte zusätzlich auf psychische und somatische Komorbiditäten geachtet werden; diese sollten gegebenenfalls mitbetreut oder durch Überweisung versorgt werden.

In der Differenzialdiagnostik sollte beachtet werden, dass Symptome wie Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Traurigkeit, Selbstzweifel und Resignation auch bei vielen anderen psychischen Störungen vorliegen können und nicht zwangsläufig auf eine Depression hinweisen. Eine Suizidalität muss unbedingt abgeklärt und es muss entsprechend interveniert werden.

In der behandlungsbegleitenden Verlaufsdiagnostik ist besonders während der Akutbehandlung eine regelmäßige Kontrolle des Behandlungserfolgs notwendig. Als Instrumente für die Einschätzung der depressiven Symptomatik stehen verschiedene Selbsteinschätzungsskalen (z.B. Beck-Depressionsinventar BDI) sowie Fremdeinschätzungsinstrumente (z.B. Hamilton Depression Rating Scale, HDRS) zur Verfügung.

Stellt sich drei bis vier Wochen nach Behandlungsbeginn keine positive Entwicklung im Sinne der Zielvorgaben ein, sollte das bisherige Vorgehen nicht unverändert fortgesetzt werden (Empfehlungsgrad 0).

Die Definitionen von Symptomveränderungen im Verlauf und nach Abschluss der Behandlung sind im Infokasten 2 wiedergegeben.


Infokasten 2: Definition von Symptomveränderungen

Ansprechen („Response“)

Rückgang der depressiven Symptomatik in einschlägigen Skalen um 50% des Ausgangswerts zu Behandlungsbeginn

Remission

Vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Funktionszustands oder ein weitgehend symptomfreier Zustand nach der Akuttherapie

Rückfall („Relapse“)

Wiederauftreten einer depressiven Episode während der Erhaltungstherapie

Vollständige Genesung

Symptomfreie Zeit für etwa 6 Monate nach Remission

Rezidiv

Wiederauftreten einer depressiven Episode nach vollständiger Genesung

Therapie

Behandlungsstrategien und Behandlungsziele

Es stehen vier Behandlungsstrategien zur Verfügung, deren Einsatz von klinischen Faktoren wie beispielsweise der Krankheitsschwere und dem Krankheitsstadium abhängt. Für den Einsatz ebenfalls mitentscheidend ist die Patientenpräferenz. Die aktiv-abwartende Begleitung („watchful waiting“) ist primär Einsatzgebiet einer leichten depressiven Episode. In der Akut-, Erhaltungs- sowie Langzeit- bzw. Rezidivprophylaxe kann auf eine medikamentöse Behandlung, eine psychotherapeutische Behandlung oder eine Kombinationstherapie zurückgegriffen werden.

Daneben kommen die Elektrokrampftherapie, Lichttherapie, Wachtherapie, Sport- und Bewegungstherapie bzw. Ergotherapie sowie künstlerische Verfahren zum Einsatz.

Vorrangige Behandlungsziele sind vor allem, die Symptome der depressiven Störung zu vermindern und letztlich eine vollständige Remission zu erreichen bzw. die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall oder ein Rezidiv zu reduzieren.

Behandlungsphasen

Die Depressionsbehandlung wird in drei Phasen aufgegliedert: die Akuttherapie, die Erhaltungstherapie (bei alleiniger Pharmakotherapie vier bis neun Monate nach Remission, bei alleiniger Psychotherapie acht bis zwölf Monate nach Remission) und die Langzeit- bzw. Rezidivprophylaxe. Eine Rezidivprophylaxe ist bei Patienten indiziert, die ein erhöhtes Risiko für ein Wiederauftreten der Depression haben, bei denen ungünstige, die Störung unterhaltende Einflussfaktoren oder verminderte Krankheitsbewältigungsressourcen vorliegen.

Versorgungskoordination und Schnittstellen

Nach einer lege artis durchgeführten somatischen, psychopathologischen und psychologischen Diagnostik können leichte bis mittelschwere depressive Störungen durch alleinige ambulante Therapie von allen relevanten Behandlergruppen betreut werden. Dazu gehören Hausärzte und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder Nervenärzte, Ärzte mit Zusatztitel Psychotherapie und Psychoanalyse oder psychologische Psychotherapeuten.

Bei hausärztlicher Behandlung ist nach spätestens sechs Wochen bei nicht ausreichender Besserung die Konsultation bei einem Facharzt oder einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten zu erwägen. Bei psychotherapeutischer Behandlung ist bei fehlender Besserung nach spätestens drei Monaten die Konsultation eines Facharztes zu empfehlen. Die Überweisung an einen Facharzt ist außerdem zu empfehlen, wenn weitere Komplikationen vorliegen wie unklare Differenzialdiagnostik, schwere Symptomatik, Therapieresistenz oder andere Probleme bei der Behandlung, Selbst- oder Fremdgefährdung sowie psychotische Symptome oder depressiver Stupor.

Wird eine Behandlung durch ein multiprofessionelles Team erforderlich, soll eine Überweisung zu einer psychiatrischen Institutsambulanz mit dem Angebot komplexer Behandlungsprogramme geprüft werden.

Eine Notfallindikation zur stationären Behandlung besteht vor allem bei akuter suizidaler Gefährdung oder Fremdgefährdung mit fehlender oder eingeschränkter Absprachefähigkeit sowie deutlichen psychotischen Symptomen.

Eine Indikation zur psychiatrisch-psychotherapeutischen stationären Behandlung besteht unter anderem bei der Gefahr von depressionsbedingter Isolation, den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen, Therapieresistenz und der starken Gefahr einer (weiteren) Chronifizierung.

Gemäß SGB IX ist eine Indikation für eine stationäre Rehabilitationsbehandlung insbesondere bei folgenden Therapiezielen gegeben: Festigung von Behandlungserfolgen, Behandlung von Krankheitsfolgen, Verbesserung des Umgangs mit der (chronischen oder chronifizierten) Erkrankung oder Verbesserung oder Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit.

Pharmakotherapie

Substanzgruppen und Indikationen. Eine Übersicht über die wichtigsten Substanzgruppen sowie Einzelsubstanzen und deren Standard-Eingangs- und Erhaltungsdosen ist in Tabelle 1 wiedergegeben. Außer den dort aufgeführten Substanzen werden in der Depressionsbehandlung Lithiumsalze eingesetzt. Die Dosierung richtet sich bei dieser Substanz ausschließlich nach den erreichten Plasmaspiegeln. Die übliche Anfangdosis beträgt 8 bis 12 mmol/Tag, der Zielwert der Plasmakonzentraion in der Fortsetzungsbehandlung 0,6 bis 0,8 mmol/l.

Tab. 1. Verfügbare Antidepressiva gegliedert nach Wirkstoffgruppen

Wirkstoffgruppe/Wirkstoff

Anfangsdosis

Standard-Tagesdosis

[mg/Tag]

[mg/Tag]

Tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TZA) und nichtselektive Monoamin-Wiederaufnahmehemmer (NSMRI)

Amitriptylin

25–50

100–300

Amitriptylinoxid

30–60

100–300

Clomipramin

25–50

100–250

Desipramin

25–50

100–250

Doxepin

25–50

100–300

Imipramin

25–50

100–300

Maprotilin

25–50

100–225

Nortriptylin

25–50

50–200

Trimipramin

25–50

100–300

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

Citalopram

20

20–40

Escitalopram

10

10–20

Fluoxetin

20

20–40

Fluvoxamin

50

100–250

Paroxetin

20

20–40

Sertralin

50

50–100

Monoaminoxidase-Inhibitoren (MAO-Hemmer)

Moclobemid

150

300–600

Tranylcypromin

10

20–40

Selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI)

Venlafaxin

37,5–75

75–225

Duloxetin

30–60

60

Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)

Reboxetin

4–8

10–100

Alpha2-Rezeptor-Antagonisten

Mianserin

30

60–120

Mirtazapin

15

15–45

Selektive Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer

Bupropion

150

150–300

Melatonin-Rezeptorantagonisten und Serotonin-5-HT2C-Rezeptorantagonisten

Agomelatin

25

25–50

Nichtklassifizierte Antidepressiva

Trazodon

50–100

200–400

Darüber hinaus steht als antidepressiv wirksames Phytopharmakon Johanniskraut zur Verfügung. Benzodiazepine und Antipsychotika sind wie Lithiumsalze im engeren Sinn keine Antidepressiva, werden aber in spezifischen Situationen auch bei Depressionspatienten eingesetzt.

In der Behandlung von leichten Depressionen ist der Unterschied zwischen Antidepressiva und Plazebo in klinischen Studien gering („statistisch nicht nachweisbar“). Es dürften daher nur wenige Patienten mit einer leichten Depression von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren. In der Erstbehandlung einer leichten depressiven Episode sollten Antidepressiva daher unter kritischer Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses verordnet werden (Empfehlungsgrad B). Für den Einsatz sprechen zum Beispiel der ausdrückliche Wunsch des Patienten oder Episoden mittelgradiger oder schwerer Depression in der Anamnese (Empfehlungsgrad Statement). Wenn anzunehmen ist, dass die Symptomatik auch ohne spezifische Behandlung abklingt, kann bei einer leichten depressiven Episode zunächst auch abgewartet werden; hält die Symptomatik nach spätestens 14 Tagen noch an oder hat sich gar verschlechtert, soll über die Einleitung einer spezifischen Therapie entschieden werden (Empfehlungsgrad 0).

Bei mittelschweren bis schweren Depressionen ist der Wirkunterschied zwischen Antidepressiva und Plazebo in klinischen Studien ausgeprägter. Bei den schwersten Formen profitieren bis zu 30% der behandelten Patienten über die Plazeborate hinaus von Antidepressiva. Mittelgradige und schwere depressive Episoden sind daher die Hauptindikationen für Antidepressiva. Patienten mit dieser Krankheitsschwere soll eine Behandlung mit Antidepressiva angeboten werden (Empfehlungsgrad A). Bei akuten schweren Depressionen soll eine Kombinationsbehandlung von medikamentöser Therapie und Psychotherapie angeboten werden (Empfehlungsgrad A). Patienten, die Johanniskraut einnehmen, sollten über die unterschiedliche Wirkstärke der Zubereitungen und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten informiert werden. Auch über das Interaktionsrisiko beispielsweise mit oralen Kontrazeptiva und Antiepileptika sollten die Patienten aufgeklärt werden (Empfehlungsgrad B).

Die wichtigsten Auswahlkriterien eines geeigneten Arzneimittels für die antidepressive Behandlung sind in Infokasten 3 aufgeführt. Beachtet werden sollten bei der Antidepressiva-Verordnung vor allem die Überdosierungssicherheit und die Nebenwirkungen der Substanzen. Rund die Hälfte der behandelten Patienten klagt unter Antidepressiva über unerwünschte Effekte. Auch das Interaktionspotenzial sollte berücksichtigt werden.


Infokasten 3: Kriterien für die Auswahl eines Antidepressivums

Verträglichkeit

– Unterschiedliches Nebenwirkungsprofil von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva (TZA), vor allem im ambulanten Bereich zu beobachten

– Mehr gravierende Komplikationen unter TZA wie Delir, kardiale Blockbildungen/Rhythmusstörungen oder Harnverhalt

– Bei Verschreibung von Imipramin bei Frauen berücksichtigen, dass weibliches Geschlecht für eine geringere Toleranz gegenüber diesem Antidepressivum prädestiniert

Überdosierungssicherheit

– Einnahme einer Wochenration von TZA kann bei suizidalen Patienten letal sein, im ambulanten Bereich daher nur Verschreibung kleiner Packungsgrößen

Ansprechen in einer früheren Krankheitsepisode

– Wirksamkeit und Verträglichkeit einer früheren Antidepressivabehandlung sollte in die erneute Indikationsstellung einbezogen werden.

Handhabbarkeit

– TZA verlangen eher eine individuelle Eintitrierung und Kontrolle als die SSRI oder neuere Antidepressiva

– Schrittweises Aufdosieren ist aber auch bei SSRI und neueren Antidepressiva wie Venlafaxin und Mirtazapin sinnvoll

Anwendungserfahrung

– Anwendungserfahrung des Arztes mit einzelnen Antidepressiva ist für die Wirkstoffauswahl bedeutsam

Möglichkeiten bei Nichtansprechen

– Bei TZA ist eine Serumspiegelbestimmung sinnvoll, da für die meisten dieser Antidepressiva ein therapeutischer Serumspiegelbereich etabliert ist.

Komorbidität

– Bei Komorbidität mit Zwangsstörung: SSRI oder Clomipramin

– Bei Komorbidität mit ADHS: Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

– Bei älteren Patienten: siehe Kapitel „ältere Patienten“

Patientenpräferenzen

– Patienten reagieren physisch und psychisch unterschiedlich hinsichtlich Wirkung und Nebenwirkung von Antidepressiva, weswegen die individuelle Gewichtung der unerwünschten Wirkungen bei der Wirkstoffauswahl eine Rolle spielt.

Antidepressiva führen nicht zu einer schnelleren Besserung als Plazebo, stoßen aber den Heilungsprozess wesentlich häufiger an (zusätzlich bei 10 bis 30% der Patienten unter Verum). Bei adäquater Dosierung tritt bei Therapierespondern die Wirkung innerhalb der ersten beiden Wochen nach Behandlungsbeginn ein. Wird in den ersten beiden Behandlungswochen keine Besserung erzielt, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Ansprechens auf unter 15%. Spätestens nach drei Wochen sollte bei Nichtansprechen die Dosis modifiziert, mit einem anderen Präparat augmentiert oder das Präparat gewechselt werden.

Behandlungsverlauf der Akuttherapie. Der Beginn der Behandlung sollte mit einer niedrigen, in Tabelle 1 mit „Anfangsdosis“ bezeichneten Tagesdosis erfolgen. Bei älteren Patienten ist es sinnvoll, bei Trizyklika (TZA) diese Anfangsdosis zu halbieren und gegebenenfalls langsam aufzudosieren (Statement). Dabei sind bei trizyklischen Antidepressiva deren anticholinerge und chinidinartigen Nebenwirkungen zu beachten. Ein erhöhtes Behandlungsrisiko besteht daher in der TZA-Behandlung von Patienten beispielsweise mit einer kardiovaskulären Erkrankung, Engwinkelglaukom, Prostatahypertrophie oder bei Verwirrtheitszuständen/Delir (Statement).

Bei der Behandlung mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sollten insbesondere zu Behandlungsbeginn geachtet werden auf Hinweise auf ein Serotoninsyndrom (Verwirrtheit, Delir, Zittern/Frösteln, Schwitzen, Blutdruckveränderungen), Blutungsneigung bei gleichzeitiger Gabe mit nichtsteroidalen Antirheumatika, Hyponatriämie vor allem bei älteren Patienten, Diarrhö, Suizidgedanken, erhebliche Zunahme von motorischer Unruhe, Angst und Agitiertheit. Die Patienten sollten auf die Möglichkeit des Auftretens der Symptome zu Behandlungsbeginn hingewiesen werden mit der Bitte, sich im Falle von Nebenwirkungen umgehend in ärztliche Behandlung zu begeben (Empfehlungsgrad B).

In den ersten vier Behandlungswochen ist eine intensive Aufklärung und engmaschige Betreuung in wöchentlichem Abstand zu empfehlen, um die Mitarbeit des Patienten zu fördern (gute klinische Praxis). Wichtige Punkte des Aufklärungsgesprächs sind unter anderen Bedenken gegenüber Antidepressiva, Wirklatenz und Nebenwirkungen (Statement).

Nach dem zunächst wöchentlichen Monitoring im ersten Behandlungsmonat wird ein Untersuchungsintervall von zwei bis vier Wochen für die Behandlungsmonate 2 und 3 und danach eine Umstellung auf noch längere Behandlungsintervalle empfohlen. Dabei ist spätestens nach drei bis vier Wochen eine genaue Überprüfung der Therapieresponse zu überprüfen. Ist keine Verbesserung erkennbar, sollten die Mitarbeit des Patienten und bei dafür in Frage kommenden Medikamenten (vor allem tri- und tetrazyklische Antidepressiva) der Plasmaspiegel überprüft werden. Gewichtskontrollen sind vor allem bei der Verordnung von Mirtazapin und den meisten Trizyklika (z.B. Trimipramin und Amitriptylin) sowie Lithiumsalzen wichtig. Bei den trizyklischen Antidepressiva sind wegen der chinidinartigen Effekte mit der Gefahr von Blockbildungen und Arrhythmien regelmäßige EKG-Kontrollen notwendig.

Das Absetzen der Antidepressiva erfolgt schrittweise über einen Zeitraum von vier Wochen oder eventuell länger (Statement). Aufgrund seiner sehr langen Halbwertszeit kann Fluoxetin auch über einen kürzeren Zeitraum abgesetzt werden.

Erhaltungstherapie. Antidepressiva sollten mindestens vier bis neun Monate über die Remission einer depressiven Episode hinaus eingenommen werden, weil sich dadurch das Rückfallrisiko erheblich vermindert. Die Dosis der Erhaltungstherapie sollte gegenüber der Akutphase nicht verändert werden (Empfehlungsgrad A). Eine Dosisreduktion impliziert ein erhöhtes Rückfallrisiko.

Rezidivprophylaxe. Patienten mit zwei oder mehr depressiven Episoden mit bedeutsamen funktionellen Einschränkungen in der jüngeren Vergangenheit sollten dazu angehalten werden, das Antidepressivum mindestens zwei Jahre lang zur Rezidivprophylaxe einzunehmen (Empfehlungsgrad B). Zur Vorbeugung eines Rezidivs sollte die gleiche Dosierung eingesetzt werden, die in der Akuttherapie wirksam war (Empfehlungsgrad 0). Bei suizidgefährdeten Patienten soll in der Rezidivprophylaxe eine Lithium-Therapie erwogen werden (Empfehlungsgrad A).

Maßnahmen bei Nichtansprechen. Unterschiede in der Enzymaktivität und damit in der Metabolisierung der Arzneimittel bei dem individuellen Patienten können dazu führen, dass trotz bestimmungsgemäßer Arzneimitteleinnahme keine therapeutisch wirksamen Serumkonzentrationen erreicht werden. Bei Nichtansprechen auf ein Antidepressivum sollte deshalb der Serumspiegel überprüft werden. Weitere Gründe für ein Nichtansprechen ist eine mangelnde Mitarbeit des Patienten (Empfehlungsgrad 0). Bei zahlreichen Antidepressiva (z.B. TZA, Venlafaxin, Tranylcypromin) kann bei Non-Response die Substanz weiter aufdosiert werden. Dies gilt nicht für SSRI (Empfehlungsgrad 0).

Falls ein Aufdosieren der Substanz allein nicht ausreichen sollte, können weitere Strategien erwogen werden: Bei der Augmentation wird zusätzlich zum Antidepressivum eine Substanz gegeben, die selbst kein Antidepressivum ist. Eine Augmentation mit Lithium sollte von einem erfahrenen Arzt durchgeführt werden (Empfehlungsgrad B). Bei Patienten, die gut auf die Lithium-Augmentation ansprechen, sollte die Behandlung über mindestens sechs Monate fortgeführt werden (Empfehlungsgrad B). Die Augmentation von Antidepressiva durch Carbamazepin, Lamotrigin, Pindolol, Dopaminagonisten oder Psychostimulanzien wird im Routineeinsatz bei therapieresistenter Depression nicht empfohlen (Statement 0).

Switching bedeutet die Umstellung auf ein anderes Antidepressivum. Es wird empfohlen, beim Wechsel der Substanz auch die Substanzgruppe zu wechseln. Die Wirksamkeit dieser Strategie ist in Studien aber nicht gut belegt. Um etwaige Wechselwirkungen zu vermeiden, sollte das alte Antidepressivum schrittweise ausgeschlichen und das neue aufdosiert werden (Empfehlungsgrad B).

Bei der Kombination wird zusätzlich zum nicht ausreichenden Antidepressivum eine weitere antidepressiv wirksame Substanz gegeben. Dabei muss der Patient bereit sein, mögliche weitere Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen. Für den therapeutischen Nutzen der Verordnung von mehr als zwei verschiedenen Antidepressiva gibt es keine Evidenz. Daher wird als Statement empfohlen: Bei einem Patienten, der auf eine Antidepressivum-Monotherapie nicht ausreichend angesprochen hat, kann zusätzlich zu Mianserin (unter Berücksichtigung des Agranulozytose-Risikos) oder Mirtazapin ein SSRI oder ein TZA gegeben werden. Nur für diese Kombination liegen mehrere positive randomisierte Doppelblind-Studien vor.

Pharmakotherapie chronischer Depressionen. Bei Dysthymie oder Double Depression (Dysthymie plus akute Depression) soll die Indikation für eine pharmakologische Behandlung geprüft werden (Empfehlungsgrad A), bei einer chronischen (mehr als zwei Jahre persistierenden depressiven Episode sollte eine pharmakologische Behandlung erwogen werden (Empfehlungsgrad B).

Pharmakotherapie bei besonderen Patientengruppen. Ältere Patienten können wie jüngere Patienten mit Antidepressiva behandelt werden. Beachtet werden müssen allerdings verstärkt die Nebenwirkungen der Antidepressiva. Unter Lithiumsalzen treten bei Älteren mehr neurotoxische Reaktionen auf. Wirksamkeitsunterschiede zwischen den beiden großen Antidepressivagruppen TZA und SSRI, aber auch anderen bzw. neueren Antidepressiva (Moclobemid, Venlafaxin, Mirtazapin) wurden bislang nicht nachgewiesen. Bei älteren Patienten sollte eine Behandlung mit TZA in einer erniedrigten Anfangsdosis begonnen werden (Statement).

Für die Behandlung von Depressionen bei Patienten mit einer Demenz liegen nur sehr wenige Studien vor, die eine Überlegenheit von Antidepressiva gegenüber Plazebo zeigen. Grundsätzlich können aber ältere Patienten mit hirnorganischen Erkrankungen und gleichzeitiger Depression in gleicher Weise wie ältere Patienten ohne hirnorganische Erkrankungen behandelt werden. Wird antidepressiv behandelt, muss vor allem auf die anticholinerge Komponente und die sedierende Komponente mancher Antidepressiva geachtet werden (Empfehlungsgrad 0). Sind früher schon einmal schwere Depressionen aufgetreten, erscheint eine Behandlung gerechtfertigt. Es sollte dann möglichst das Präparat gegeben werden, das bei dem Patienten bereits in den früheren Episoden gewirkt hat.

Bei einer (geplanten) Schwangerschaft und vorbestehender rezidivierender Depression muss eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorgenommen werden. Bei hohem Rezidivrisiko ist eine niedrig dosierte antidepressive Behandlung sinnvoll. Als Alternative kann eine Psychotherapie in Erwägung gezogen werden. Während der Schwangerschaft und während des Stillens sollte bei entsprechender Indikation ein Antidepressivum gewählt werden, das nicht teratogen ist und das nicht in der Muttermilch nachweisbar ist bzw. dem Kind nicht schadet. Gegebenenfalls sollten die Mütter in einer Klinik mit angeschlossener Neonatologie entbinden, um etwaige Entzugserscheinungen bei dem Kind engmaschig überwachen zu können.

Bei Patienten mit psychotischer Depression, bei denen Wahnideen oder Halluzinationen auftreten, sollte die Kombination eines Antidepressivums mit einem Antipsychotikum erwogen werden. Die optimale Dosierung und Anwendungsdauer bei diesen Patienten sind unbekannt (Empfehlungsgrad B).

Psychotherapie

Bei den verschiedenen Behandlungsmethoden der Psychotherapie werden überwiegend psychologische Mittel als Therapeutika eingesetzt. Auch bei diesen Behandlungsmethoden müssen unerwünschte und schädliche Wirkungen beachtet werden. Dazu gehören falsche Indikationsstellung, mangelnde „Passung“ zwischen Patienten- und Therapeutenpersönlichkeit sowie ein unethisches Verhalten des Therapeuten.

Als psychologische Verfahren, die von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden („Richtlinien-Verfahren“), stehen für die ambulante Behandlung von Patienten mit Depressionen Verhaltenstherapie sowie die tiefenpsychologische fundierte und analytische Psychotherapie zur Verfügung. Andere Verfahren wie die interpersonelle Psychotherapie (IPT) oder die Gesprächspsychotherapie werden in der ambulanten Versorgung nicht erstattet.

Akuttherapie. Die meisten Belege für eine psychotherapeutische Monotherapie liegen für leichte bis mittelgradige Depressionen vor. In diesen Situationen, also bei leichten und mittleren Depressionen, soll dem Patienten eine Psychotherapie angeboten werden (Empfehlungsgrad A), bei akuten schweren Depressionen eine Kombinationsbehandlung von medikamentöser Therapie mit Psychotherapie (Empfehlungsgrad A). Wird ein alleiniges Behandlungsverfahren in Betracht gezogen, soll bei ambulant behandelbaren Patienten mit akuten mittelschweren bis schweren depressiven Episoden eine alleinige Psychotherapie gleichwertig zu einer alleinigen medikamentösen Therapie angeboten werden (Empfehlungsgrad A).

Depressive Patienten mit psychotischen Symptomen sollten in jedem Fall eine medikamentöse Behandlung erhalten (Statement). Bei Dysthymie, Double Depression und chronischer Depression soll der Arzt darüber informieren, dass die Kombination von psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen einer Monotherapie mit jeweils einer der Maßnahmen überlegen ist (Empfehlungsgrad A). Studien liefern darüber hinaus Hinweise, dass die Medikamenten-Compliance der Patienten durch eine gleichzeitige Psychotherapie erhöht ist (Statement).

Erhaltungstherapie. In der Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe ist eine psychotherapeutische Nachbehandlung mit stützenden Elementen indiziert (Empfehlungsgrad A). Bei therapieresistenter Depression sollte dem Patienten eine angemessene Psychotherapie angeboten werden (Empfehlungsgrad B).

Nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren

Die heute zur Verfügung stehenden nichtmedikamentösen somatischen Therapieverfahren sind im Infokasten 4 zusammengefasst.

Infokasten 4: Nichtmedikamentöse somatische Therapien

Elektrokonvulsive Therapie

Bei der elektrokonvulsiven Therapie (Elektrokrampftherapie=EKT) wird in Narkose und unter Muskelrelaxation das Gehirn durch kurze elektrische Reize zu einem Krampfanfall angeregt. Das Verfahren ist sicher, innerhalb von sechs Monaten erleiden aber zwischen 50 und 95% der Patienten einen Rückfall.

Indiziert ist die EKT bei schweren therapieresistenten Depressionen als Alternative zu anderen Optionen (Empfehlungsgrad A).

Wachtherapie (Schlafentzugstherapie)

Beim partiellen Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte bzw. beim vollständigen Schlafentzug sind positive Wirkungen schon am darauf folgenden Tag zu erwarten. Die Behandlung ist aufgrund der leichten Durchführbarkeit als stützende Maßnahme geeignet.

Die Wachtherapie ist eine ergänzende Maßnahme zur leitliniengerechten antidepressiven Therapie, wenn eine rasche, wenn auch nur kurz anhaltende Response gewünscht wird (Empfehlungsgrad B).

Lichttherapie

Bei der Lichttherapie exponiert sich der Patient einer Lichtquelle mit mindestens 2000 Lux. Die Lichtquelle sollte das Spektrum sichtbaren Lichts aufweisen, die Sitzungen müssen regelmäßig jeden Tag wiederholt werden.

Die Lichttherapie ist eine Behandlungsform für Patienten mit leicht- bis mittelgradigen Episoden rezidivierender depressiver Störungen, die einem saisonalen Muster folgen (Empfehlungsgrad A). Mit Lichttherapie behandelte Patienten mit saisonal abhängiger depressiver Episode, die auf diese Therapieform ansprechen, kann die Lichttherapie den gesamten Winter über fortgesetzt werden (Empfehlungsgrad 0).

Körperliches Training

Körperliches Training kann aus klinischer Erfahrung heraus empfohlen werden. Das Training kann das Wohlbefinden steigern und depressive Symptome lindern (klinischer Konsens).

Repetitive transkranielle Magnetstimulation

Bei der repetitiven transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) werden durch nichtinvasive magnetische Induktion kortikale Neurone stimuliert. Dabei wird wiederholt (über zwei Wochen hinweg täglich) der linke oder rechte präfrontale Kortex durch ein kurzes, hochintensives magnetisches Feld stimuliert.

Für die rTMS liegt derzeit noch zu wenig Evidenz vor, um Empfehlungen für ihre allgemeine Nützlichkeit und Anwendbarkeit aussprechen zu können (Statement).

Bei den unterstützenden Therapieverfahren bieten sich drei Verfahren an:

Die Ergotherapie zielt auf die Wiederherstellung und den Erhalt von Handlungsfähigkeit, Teilhabe und Lebensqualität in den für den Einzelnen wichtigen Lebensbereichen ab.

Die Soziotherapie bietet eine Unterstützung und Handlungsanleitung für chronisch psychisch kranke Menschen, Ziel ist die Überwindung krankheitsspezifischer Defizite und daraus entstehender Beeinträchtigung im sozialen Umfeld. Bei Depressiven beinhaltet das beispielsweise die Anleitung, ärztliche Hilfe und andere Leistungen, die sie in Anspruch nehmen können, tatsächlich auch – gegen den krankheitsspezifischen Widerstand – anzufordern und durchzuhalten.

Die häusliche psychiatrische Krankenpflege (KHP) ist ein gemeindeorientiertes Versorgungsangebot. Sie soll dazu beitragen, dass psychisch kranke Menschen ein würdiges, eigenständiges Leben in ihrem gewohnten Lebenszusammenhang führen können. Auch sollen damit häufige Krankenhauseinweisungen durch rechtzeitige ambulante Interventionen verhindert werden.

Therapie bei Komorbidität

Komorbide psychische Störungen. Gleichzeitig vorliegende komorbide psychische Erkrankungen können den Krankheitsverlauf einer Depression erschweren und/oder zu einer Therapieresistenz führen.

Bei gleichzeitigem Vorliegen von Angst- und Zwangsstörungen ist mit einer erhöhten Symptomstärke, Chronizität und stärkeren funktionellen Einschränkungen zu rechnen. Die Response auf Antidepressiva und Psychotherapie kann eingeschränkt sein, die Suizidrate ist erhöht. Wirksame Behandlungsmethoden bei Vorliegen von depressiven Episoden und komorbiden Angststörungen sind sowohl Psychotherapie (empirische Belege liegen vor für kognitive Verhaltenstherapie und interpersonelle Therapie) als auch Pharmakotherapie (empirische Belege liegen vor für SSRI und Venlafaxin) (Statement).

Etwa ein Drittel der Patienten mit affektiven Störungen entwickeln im Laufe ihres Lebens einen Substanzmissbrauch wie beispielsweise eine Alkoholabhängigkeit. Bei etwa einem Viertel aller alkoholkranken Männer und der Hälfte aller alkoholkranken Frauen treten Depressionen auf. Bei Komorbidität von Alkoholabhängigkeit und depressiver Störung reduziert eine Pharmakotherapie mit Antidepressiva sowohl die depressive Symptomatik als auch die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Alkoholmissbrauch, empirische Belege liegen vor für Fluoxetin, Desipramin und Mirtazapin (Statement). Dies gilt auch für eine antidepressive Psychotherapie – sowohl als alleiniges Verfahren als auch in Kombination mit einem Antidepressivum (Statement).

Unabhängig von einer möglichen Krisenintervention sollte eine antidepressive Behandlung aus differenzialtherapeutischen Überlegungen heraus erst nach einer zwei- bis vierwöchigen Alkoholabstinenz begonnen werden (Empfehlungsgrad B).

Die Lebenszeitprävalenz einer komorbiden Depression bei Essstörungen liegt einigen Studien zufolge bei 75%. Für die Psychotherapie der komorbiden Depression bei Essstörungen existieren keine systematischen Untersuchungen, so dass über die störungsbezogenen Empfehlungen zu beiden Erkrankungen keine weiteren Empfehlungen gegeben werden können. Zur Verbesserung der Symptomatik einer depressiven Episode im Rahmen einer Bulimia nervosa kann Fluoxetin gegeben werden. Insgesamt sollten bei der Pharmakotherapie einer Depression bei Essstörungen substanzspezifische Effekte auf die jeweilige Essstörung beachtet werden, beispielsweise Gewichtszunahme unter Mirtazapin, Mianserin und sedierenden Trizyklika, Übelkeit und Appetitreduktion unter SSRI. Eine Reduktion von Essattacken ist für Fluoxetin belegt (Statement). Die Wirkung von Antidepressiva kann insbesondere bei schlechtem Ernährungszustand und niedrigem Gewicht herabgesetzt sein.

Zwischen depressiven Störungen und Persönlichkeitsstörungen besteht nach den Daten klinischer Stichprobenuntersuchungen eine Komorbidität von 30 bis 40%. Die häufigsten komorbiden Persönlichkeitsstörungen sind die ängstlich-vermeidende, die Borderline- und die paranoide Persönlichkeitsstörung. Für die Wirksamkeit einer Pharmakotherapie mit einem SSRI oder einem MAO-Hemmer oder einem atypischen Antipsychotikum mit einer Komorbidität von depressiver Störung und Borderline-Persönlichkeitsstörung liegen empirische Belege vor (Statement). Psychotherapeutische Verfahren können als Monotherapie oder in Kombination mit Antidepressiva gegeben werden. Empirische Hinweise existieren für die kognitive Verhaltenstherapie, die interpersonelle Therapie und die psychodynamische Kurzzeitpsychotherapie. Darüber hinaus liegen Hinweise vor, dass bei Komorbidität Depression und Borderline-Persönlichkeitsstörung die Kombination Psychotherapie/Pharmakotherapie besser wirkt als eine alleinige Pharmakotherapie (Statement).

Eine Komorbidität von Depressionen mit somatoformen Störungen besteht den Daten von klinischen Stichprobenuntersuchungen zufolge bei rund 50 bis 90% der somatoform gestörten Patienten. Trotz der hohen Komorbidität ist die Studienlage zur Psycho- oder Pharmakotherapie bei dieser Komorbiditätskonstellation unzureichend. Die Behandlung folgt den Leitlinien der jeweiligen Einzelstörung.

Komorbide somatische Erkrankungen. Die Lebenszeitprävalenz für eine depressive oder ein Angststörung bei somatisch Kranken liegt bei 40%. Neurologische, endokrine und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie onkologische Erkrankungen werden häufig durch depressive Störungen kompliziert. Allerdings ist die Studienlage zur Behandlung dieser Komorbiditäten unzureichend, so dass nur sehr eingeschränkt spezifische Empfehlungen ausgesprochen werden können. So reduzieren Antidepressiva die depressiven Symptome bei einer Komorbidität von Depression und Angst, belegt auf empirischer Ebene für SSRI und TZA (Statement).

Depressionen gelten als Risikofaktoren sowohl für die Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit (KHK) als auch für die KHK-Mortalität. Bei der antidepressiven Behandlung sollte die kardiale Verträglichkeit der Antidepressiva berücksichtigt werden. Bei koronarer Herzkrankheit und komorbider mittelgradiger bis schwerer depressiver Störung soll eine Pharmakotherapie vorzugsweise mit Sertralin oder Citalopram angeboten werden (Empfehlungsgrad A). Aufgrund ihrer kardialen Nebenwirkungen sollen TZA bei komorbider KHK nicht verordnet werden (Empfehlungsgrad A). Hinsichtlich psychotherapeutischer Interventionen bei depressiver Störung und KHK kann zurzeit keine eindeutige Empfehlung ausgesprochen werden (Statement). Patienten mit einer Depression nach Schlaganfall sollte unter Beachtung von anticholinergen Nebenwirkungen ein Antidepressivum angeboten werden, empirische Hinweise für eine Wirksamkeit bei diesen Patienten liegen vor für Fluoxetin, Citalopram und Nortriptylin (Empfehlungsgrad B).

In Abhängigkeit von Versorgungsbereich, Tumorentität, Schweregrad und Geschlecht haben 30 bis 40% von Patienten mit onkologischen Erkrankungen eine komorbide psychische Störung in einem Zeitraum von 12 Monaten. Bei einer Komorbidität von mittelgradiger bis depressiver Störung und einer Tumorerkrankung kann eine Pharmakotherapie mit einem Antidepressivum, insbesondere einem SSRI angeboten werden (Empfehlungsgrad 0). Für die Psychotherapie können zurzeit keine spezifischen Hinweise bei dieser Komorbidität gegeben werden (Statement).

Bei Patienten mit einem Diabetes mellitus liegt die Prävalenz für die Entwicklung einer Depression bei bis zu 30%. Bis zu 75% der Diabetespatienten mit Depression entwickeln dabei chronische Verläufe mit rezidivierenden depressiven Episoden. Eine Depression geht bei diesen Patienten einher mit einer schlechteren Stoffwechseleinstellung und diabetischen Komplikationen.

Bei der Pharmakotherapie bei entsprechend komorbiden Patienten sollten substanzspezifische Effekte auf die diabetische Stoffwechsellage und das Körpergewicht der Patienten beachtet werden. Dazu gehören beispielsweise ein reduzierter Insulinbedarf bei SSRI sowie eine Gewichtszunahme unter Mirtazapin, Mianserin und sedierenden trizyklischen Antidepressiva (Empfehlungsgrad B). Sollte bei diesen Patienten eine Pharmakotherapie vorgesehen sein, ist SSRI der Vorzug zu geben (Empfehlungsgrad B).

Bei Patienten mit sensomotorischer schmerzhafter Neuropathie und depressiver Störung kann eine Pharmakotherapie mit einem trizyklischen Antidepressivum oder Duloxetin angeboten werden, da diese Medikamente zusätzlich eine analgetische Wirkkomponente haben. Gegen einen Nutzen dieser Behandlung muss allerdings das Risiko von TZA für eine Gewichtszunahme und eine Verschlechterung der glykämischen Kontrolle abgewogen werden (Empfehlungsgrad 0).

Bei einer Komorbidität von Diabetes mellitus und depressiver Störung sollte eine Psychotherapie zur Verringerung der Depressivität und zur Verbesserung des allgemeinen Funktionsniveaus angeboten werden (Empfehlungsgrad B).

Patienten mit chronischen Schmerzen haben in bis zu 70% eine komorbide depressive Störung. Die Schwere und Dauer des chronischen Schmerzes sind linear abhängig von der Schwere der Depression. Bei dieser Komorbidität sollten in der Pharmakotherapie bevorzugt Antidepressiva mit analgetischen Eigenschaften eingesetzt werden, also vor allem trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin, Imipramin, Desipramin und Clomipramin (Empfehlungsgrad B). Zur Reduzierung der depressiven Symptomatik kann bei Patienten mit einer Komorbidität chronische Schmerzen/Depression eine Psychotherapie angeboten werden, empirische Belege liegen vor für die kognitive Verhaltenstherapie und die interpersonelle Therapie (Empfehlungsgrad 0).

Die Angaben für die Häufigkeit einer Komorbidität von Demenz und Depressionen schwanken stark. Gefährdet sind vor allem Patienten, die anamnestisch oder familiär mit Depressionen vorbelastet sind. Mit einer Prävalenz von rund 50% häufig ist die Vergesellschaftung von Depressionen bei vaskulären und neurodegenerativen Hirnerkrankungen, die subkortikale Funktionskreise beinträchtigen. Die Studienlage zur Unterstützung von spezifischen Empfehlungen zur Behandlung der Komorbidität Demenz und Depression ist nicht hinreichend (Statement). Wird eine Pharmakotherapie eingeleitet, sollte das anticholinerge Nebenwirkungspotenzial berücksichtigt werden, da dadurch ein Delir oder eine weitere Verschlechterung der kognitiven Funktionen einhergehen kann (Empfehlungsgrad B).

Management bei Suizidgefahr

Die Hauptaspekte der Suizidprävention umfassen das Anbieten eines Gesprächs- und Beziehungsangebots, die Diagnostik von Suizidalität, Klärung und Regelung der aktuellen Situation und die Therapieplanung unter Berücksichtigung der Suizidgefahr. In der akuten Gefahrensituation steht naturgemäß das Gespräch im Vordergrund. Nach der Akutsituation muss sich die Therapieplanung auf eine (möglicherweise) zugrunde liegende Depression konzentrieren (siehe Infokasten 5).

Infokasten 5: Therapieplanung nach suizidaler Akutsituation

Für die Therapieplanung einer depressiven Störung nach einer Suizid-Krisenintervention sollten folgende Punkte berücksichtigt werden:

– Klärung und Besprechung der weiteren Therapie (ambulant oder stationär)

– Behandlung der Grundstörung (hier Depression) nach den allgemeinen Regeln für Psychopharmakotherapie, Psychotherapie und psychotherapeutische Basisbehandlung

– Planung und Beginn von Psychopharmakotherapie und/oder Psychotherapie unter Berücksichtigung der Suizidalität

Pharmakotherapie. Eine spezifische suizidalitätsmindernde Wirkung konnte für Antidepressiva bisher nicht gesichert werden. Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollten Antidepressiva deshalb nicht eingesetzt werden (Empfehlungsgrad B). In der Behandlung von suizidalen depressiven Patienten können Antidepressiva allerdings unter Beachtung der allgemeinen Empfehlungen zur Milderung der depressiven Symptomatik eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 0). Als Besonderheit muss bei diesen Patienten eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung hinsichtlich der Letalität hoher Dosen eines Antidepressivums und einer Agitationssteigerung in der Frühphase vorgenommen werden (gute klinische Praxis).

Die Evidenz für Lithiumsalze bei depressiven suizidalen Patienten ist besser als die für Antidepressiva: In der Rezidivprophylaxe von suizidgefährdeten Patienten soll zur Reduzierung suizidaler Handlungen eine Behandlung mit Lithium in Betracht gezogen werden (Empfehlungsgrad A).

Da eine eventuell suizidalitätsfördernde Wirkung von Antidepressiva (insbesondere der SSRI) in erster Linie auf vermehrte Unruhe, Akathisie und exzitatorische Wirkungen zurückzuführen ist, werden zumindest in der akuten Phase bis zum Eintritt der eigentlichen antidepressiven Wirkung Kombinationen mit einem Anxiolytikum und Hypnotikum eingesetzt. Benzodiazepine wirken dabei kurzfristig entspannend, beruhigend, angstlösend, schlafinduzierend und emotional distanzierend, wodurch das depressive und psychotische Erleben gedämpft wird. Eine Akutbehandlung mit einem Benzodiazepin kann deshalb bei akut suizidgefährdeten Patienten in Betracht gezogen werden, die Behandlungszeit sollte hier unter 14 Tagen liegen (Empfehlungsgrad 0). Bei suizidgefährdeten Patienten mit einer depressiven Episode mit psychotischen Merkmalen sollte die antidepressive Medikation mit einem Antipsychotikum ergänzt werden (Empfehlungsgrad B).

Krisenintervention und spezifische Psychotherapien. Die Hauptstrategie bei akuter Suizidalität liegt meist auf einem stützenden und entlastenden Behandlungsmodus. Ist die Selbstgefährdung abgeklungen, wird eine weitere, mehr ursachenbezogene Behandlung eingeleitet. Eine tragfähige therapeutische Beziehung kann bei suizidgefährdeten Patienten per se suizidpräventiv wirken (Statement). Bei suizidgefährdeten Patienten mit einer depressiven Episode sollte eine Psychotherapie erwogen werden, die zunächst auf die Suizidalität fokussiert (Empfehlungsgrad B).

Die Leitlinie wurde von den folgenden Institutionen herausgegeben: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) (federführend), Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), Bundespsychotherapeutenkammer (beratend) (BPtK), Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK), Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAGSHG), Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM), Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) Weitere 19 Institutionen waren am Konsensprozess beteiligt und tragen das Ergebnis mit.

*DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression-Kurzfassung, 1. Auflage 2009. DGPPN, ÄZQ, AWMF – Berlin, Düsseldorf 2009. www.depression.versorgungsleitlinie.de

Referat: Dr. Barbara Kreutzkamp, Nagelshof 15, 22559 Hamburg

Psychopharmakotherapie 2010; 17(03)