Stellungnahme der Hirnliga e.V. zum Abschlussbericht A05-19C des IQWiG: Memantin bei Alzheimer-Demenz*


Für die Hirnliga, Prof. Dr. Ralf Ihl, Krefeld

Am 10. September 2009 wurde der Abschlussbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zum Projekt A05-19C, „Memantin bei Alzheimer Demenz“ veröffentlicht. Die Hirnliga e.V. reagierte am 6. Oktober 2009 mit der folgenden Stellung-nahme:

Die Hirnliga e.V. bedauert, dass wesentliche Hinweise zur Optimierung der Methodik nicht berücksichtigt wurden und verweist auf ihre zahlreichen Stellungnahmen sowie Wortbeiträge in den wissenschaftlichen Anhörungen des Institutes.

Aus Sicht der Hirnliga e.V. gilt es jedoch, im Abschlussbericht zu Memantin folgende Punkte hervorzuheben und zu kommentieren:

Cohens d

Erstmals wird Cohens d zur Wirksamkeitsbeurteilung verwendet. Nun ist es nicht so, dass nicht genügend Parameter zur Wirksamkeitsbeurteilung erhoben würden, es geht hier eher um das Schaffen einer Voraussetzung für einen ursprungsunabhängigen Vergleich.

Cohens d errechnet eine Zahl als Ausmaß einer Veränderung unabhängig vom Ausgangsparameter. Soweit ist das Vorgehen durchaus nachvollziehbar. Es bleibt aber völlig außer Acht, wie valide die erhobenen Grundparameter sind. Cohens d berücksichtigt ebenso wenig die Ausprägung des gemessenen Parameters in der Untersuchungspopulation.

Schwierig wird es auch, wenn der Größe von Cohens d a priori unterschiedliche Aussagen zur Effektgröße zugeordnet werden und daraus Aussagen zur fehlenden Wirksamkeit abgeleitet werden.

Bedenklich ist hierbei insbesondere der Ansatz, sich an der tiefsten Intervallgrenze von Cohens d zu orientieren, also an der sehr unwahrscheinlichen minimalen Wirksamkeit. Das Festlegen der Grenzen bleibt willkürlich.

Heterogenität der Alzheimerkrankheit

Die Heterogenität der Symptomatik der Alzheimerkrankheit in unterschiedlichen Stadien führt auch zu einer hohen Varianz möglicher Therapieantworten. Diese hohe Varianz kann das Signal maskieren.

Existieren zum Beispiel Responder und Non-Responder, kann sich das Signal im ungünstigsten Fall aufheben. Gerade hier wird besonders deutlich, dass möglichen Respondern durch die generalisierte Betrachtung eine Therapieoption genommen wird.

Das Responderproblem kann nicht dadurch gelöst werden, dass fehlende Daten zu Respondern als Argument gegen eine Substanz verwendet werden.

Invalide Messinstrumente

Die Validität der Messinstrumente wird nicht hinreichend thematisiert. Beim, wissenschaftlich umfassend publiziert, methodisch falschen Einsatz des MMST als Instrument zur Schweregradbestimmung kann nicht als Argument angeführt werden, dass auch andere Organisationen wie NICE den gleichen Fehler begehen.

Es ist hinlänglich bekannt, dass die Testergebnisse selbst im Laufe eines Tages um 5 Punkte schwanken können. Valide Grenzen auf dieser Basis festzulegen, ist definitiv nicht möglich.

Alle Aussagen zu Schweregraden im IQWiG-Bericht sind damit wissenschaftlich nicht zu halten.

Patientenselektionseffekte ausgeblendet

Das Problem der Patientenselektion wird unzureichend beleuchtet. Selektionseffekte können zum Beispiel durch Einschluss von Menschen in Staaten mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen entstehen. In Staaten ohne generelle Gesundheitsabsicherung ist die Wahrscheinlichkeit hoch, primär Menschen ohne Versicherung einzuschließen. Die Gruppe ist damit nicht repräsentativ. In Staaten mit einem hohen Versorgungsniveau kann die Rate von Vorbehandlungen so hoch sein, dass erneut eine Sondergruppe von Patienten selektiert wird, die keinen Rückschluss auf die Allgemeinheit zulässt. Ist die Versorgung auf niedrigem Niveau angesiedelt, wird eine dritte völlig unterschiedliche Gruppe untersucht. Nun kann versucht werden, solche Heterogenität durch Tests zu fassen.

Es muss aber festgehalten werden, dass eine hohe Heterogenität nicht gegen eine Substanz spricht, sondern lediglich auf Versorgungsunterschiede der untersuchten Populationen hinweist.

Fazit

Vor diesem Hintergrund ist aus Sicht der Hirnliga e.V. die Nutzenbewertung des IQWiG als wissenschaftlich fragwürdig und umstritten zu bezeichnen.

Schlusskommentar aus ärztlicher Sicht

Die Hirnliga e.V. und ihre Mitglieder haben sich in den vergangen 23 Jahren nicht nur als Alzheimerforscher für ein einwandfreies wissenschaftliches Vorgehen in ganz unterschiedlichen Bereichen engagiert, sondern gerade auch als Ärzte, die die Situation der Patienten und der sie versorgenden Angehörigen im Blick haben, für ein nachhaltige Verbesserung in Diagnostik, Therapie und Pflege eingesetzt.

Vor diesem Hintergrund macht die Hirnliga e.V. darauf aufmerksam, dass derzeit keine neuen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten der Demenz in den nächsten Jahren zu erwarten sind – auch wenn immer wieder positive Publikationen über die mögliche Einflussnahme auf die Amyloidkaskade erscheinen.

Sollte im weiteren Verfahren Memantin für Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr erstattet werden, so würde dies für die Patienten und die sie behandelnden Ärzte gravierende Folgen haben.

Wie Rychlik (Gesundh ökon Qual manag 2009, 14) vor kurzem mit Patienten-Daten der Barmer Ersatzkasse nachweisen konnte, ist die Behandlung mit Memantin bei der Betrachtung aller Kosten insgesamt günstiger als eine Behandlung ohne Memantin.

Vor diesem Hintergrund hat die Substanz zusammengefasst folgende Bedeutung für die Therapie:

  • Memantin ist das einzige in der Indikation schwere Demenz ausdrücklich zugelassene Antidementivum. Sein Wegfall würde bedeuten, dass Patienten mit schwerer Demenz eine wichtige Therapieoption entfällt.
  • Das Nebenwirkungsspektrum von Memantin ist grundsätzlich anders als das der anderen Antidementiva. Unter diesem Aspekt ist Memantin im Hinblick auf Vulnerabilitätsaspekte eine wichtige Alternative und Bereicherung im Armamentarium der medikamentösen Demenzbehandlungsmöglichkeiten.
  • Memantin bietet wegen eines eigenständigen Wirkungsmechanismus im Vergleich zu anderen eine wichtige Chance für die Patienten, die auf andere Antidementiva nicht ansprechen. Diese Chance bezieht sich sowohl auf einen sequenziellen Therapieansatz wie auch auf die Add-on-Therapie.

*www.hirnliga.de/docs/Iqwig/IQWiG_Mem_HLStell_final.pdf (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Hirnliga)

Psychopharmakotherapie 2010; 17(01)