Dirk K. Wolter, Wasserburg a. Inn
Die Anwendung von Antipsychotika (AP) bei alten Menschen, speziell bei Demenzkranken, gerät zunehmend in die Kritik (Tab. 1). Gleichzeitig nimmt ihre Verordnung zu, und zwar allein aufgrund eines erheblichen Zuwachses bei den neuen Substanzen, wohingegen die Verordung der älteren Substanzen eher rückläufig ist. In Deutschland steigt die Pro-Kopf-Verordnung bis zu einem ersten Gipfel in der Kohorte 50 bis 54 Jahre und fällt dann wieder ab, um nach dem 75. Lebensjahr erneut anzusteigen und ihren zweiten und höheren Gipfel bei den über 90-Jährigen zu erreichen [63]. Dass die älteren Patienten dabei keineswegs nur Pipamperon oder Melperon erhalten, zeigt die Aufschlüsselung nach Substanzen (Abb. 1).
Tab. 1. Antipsychotika-Risiken bei älteren Patienten in der Diskussion – Chronologie
November 2002 |
Erster Bericht über erhöhte Gefahr zerebrovaskulärer Ereignisse unter Risperidon im Journal der Canadian Medical Association |
März 2004 |
Entsprechende Rote-Hand-Briefe zu Risperdal® und Zyprexa® sowie behördliche Warnungen in Großbritannien |
November 2004 |
Die Alterspsychiatrische Sektion des britischen Royal College of Psychiatrists warnt vor Überreaktionen (massenhaftes abruptes Absetzen oder Umstellung auf riskantere Medikation) |
April 2005 |
Warnung der amerikanischen FDA vor dem Einsatz von neuen Antipsychotika bei Demenz aufgrund eines erhöhten Mortalitätsrisikos, verbunden mit dem Hinweis, dass keine der Substanzen hierfür über eine Zulassung verfügt |
Mai 2005 |
AGATE-Warnung vor der Anwendung von Antipsychotika bei älteren Menschen. Es wird ausdrücklich davor gewarnt, kritiklos auf ältere Antipsychotika ausweichen; auch niederpotente Antipsychotika sind nicht unbedenklich. Das Fehlen von Studien bedeutet nicht, dass keine Risiken bestehen. |
Juni 2008 |
Die FDA bezieht die älteren Antipsychotika in ihre Warnung ein |
September 2008 |
Erhebliche Einschränkung der Zulassung von Risperdal® für den Einsatz bei aggressivem Verhalten bei Alzheimer-Demenz |
November 2008 |
Die europäische Zulassungsbehörde EMEA schließt sich der FDA-Warnung vor dem Einsatz aller Antipsychotika zur Behandlung von herausforderndem Verhalten bei Demenz an |
Januar 2009 |
Zwei Studien zur langfristig erhöhten Mortalität von Demenzkranken bzw. zum erhöhten Risiko für plötzlichen Herztod unter Antipsychotika stoßen auf öffentliches Interesse |
AGATE: Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen
Abb. 1. Antipsychotika-(AP-)Verordnungen 2007 [63]
Im Verlauf von Demenzerkrankungen können neben dem sogenannten kognitiven Kernsyndrom verschiedene psychopathologische Symptome auftreten, die für Angehörige und Pflegepersonen häufig eine größere Belastung darstellen als die kognitiven Beeinträchtigungen. Während im deutschen Sprachraum von „Verhaltensstörungen“ oder „nichtkognitiven Symptomen“ gesprochen wird, hat sich in der englischsprachigen Literatur die Bezeichnung „Behavioural and psychological symptoms of dementia (BPSD)“ eingebürgert. Die Schwäche dieses Konzepts besteht darin, dass es so verschiedenartige Symptome wie Apathie, Depressivität, Angst, Unruhe, Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, Aggressivität, Wahn und Halluzinationen umfasst. In letzter Zeit wird häufig die nicht klar definierte Bezeichnung „herausforderndes Verhalten“ („challenging behaviour“) verwendet, die eher an Unruhe, Aggressivität und psychotische Symptome denken lässt. Hier liegt in der Praxis der hauptsächliche Anwendungsbereich von Antipsychotika bei Demenzkranken.
Seit 2004 wurden mehr als 40 Studien zu Antipsychotika-Risiken im Alter beziehungsweise bei Demenz veröffentlicht (Tab. 2). Eine ausführliche Darstellung von der FDA-Warnung 2005 bis Januar 2009 findet sich bei Wolter [76] (dieses Review steht auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie als pdf-Datei zur Verfügung: www.dggpp.de). Einige erst später veröffentlichte Studien sind dort noch nicht berücksichtigt [12, 13, 18, 35, 48, 57, 66].
Tab. 2. Studien zu Risiken von Antipsychotika im Alter/bei Demenz – Übersicht; AP: Antipsychotika; 1GAP: Erstgenerations-Antipsychotika; 2GAP: Zweitgenerations-Antipsychotika; Sortierung der Studien gemäß Reihenfolge im Text
Autoren (Jahr) |
Region/Periode |
Durchschnittsalter |
Stichprobe gesamt [n] |
Davon mit |
Davon mit |
Ergebnisse, besondere Gesichtspunkte |
Simoni-Wastila 2009 [66] |
USA, Medicare 1999–2002 |
17,3% <65 Jahre, |
2363 |
456 |
194 |
Kein erhöhtes Risiko für Krankenhauseinweisungen oder Mortalität unter AP, Trend zu niedrigerem Mortalitätsrisiko unter AP |
Ballard 2009 [4] |
Großbritannien |
84,8/84,9 Jahre |
128 |
115/101 |
?/43 |
Mortalität: während der 12-monatigen randomisierten Phase unter AP erhöht, im weiteren Verlauf noch stärker erhöht Zerebrovaskuläre Ereignisse: kein erhöhtes Risiko |
Rochon 2008 [54] |
Kanada, Ontario, |
81,6/84,9 Jahre (Gemeinde/Heim) |
20682 matched pairs |
6894/6853 |
6894/6853 |
Mortalität: erhöht unter allen AP, deutlich stärker unter 1GAP, v. a. in Gemeindekohorte. Krankenhauseinweisungen: erhöht unter allen AP, v. a. in Gemeindekohorte; kein deutlicher Unterschied 1GAP/2GAP |
Gill 2007 [22] |
Kanada, Ontario, |
81,5/85 Jahre (Gemeinde/Heim) |
27259 matched pairs |
13136 |
14123 |
Mortalität: geringe aber signifikante Erhöhung unter 2GAP vs. ohne AP (bei Heimbewohnern deutlicher), unter 1GAP stärker als unter 2GAP (in Gemeindekohorte) |
Schneeweiss 2007 [58] |
Kanada, Brit. Columbia, |
80 Jahre |
37241 |
24359 |
12882 |
Mortalität: erhöht unter 1GAP vs. 2GAP, dosisabhängig und v. a. bei Behandlungsbeginn. Kein Unterschied Demenz/Non-Demenz |
Kales 2007 [34] |
USA, |
79,0 Jahre |
10615/12821 |
4181 |
535 |
Mortalität: unter AP höher als ohne, kein Unterschied 1GAP/2GAP. Vergleichbar unter Antikonvulsiva, niedriger unter allen anderen Psychopharmaka |
Trifiro 2007 [72] |
Niederlande, |
85 Jahre |
2385 |
141 |
743 |
Mortalität: unter allen AP dosisabhängig erhöht, kein Unterschied 1GAP/2GAP |
Raivio 2007 [52] |
Finnland, |
85,4/75,9 Jahre (dement/nicht dement) |
254/170 |
28 |
100 |
Mortalität: ohne AP am höchsten, mit 2GAP am geringsten. |
Hollis 2007a [31] |
Australien, |
83,5 Jahre |
6602 |
2416 |
3025 |
Mortalitätsrisiko, unter Haloperidol und Chlorpromazin vs. alle anderen erhöht. |
Hollis 2007b [32] |
Australien, |
91,8% >74 Jahre |
16634/9831* |
4280 |
6521 |
Mortalitätsrisiko, Olanzapin als Referenz: Haloperidol erhöht (v. a. hohe Dosen), Risperidon und Chlorpromazin verringert |
Hollis 2006 [30] |
Australien, |
81,5 Jahre |
3284 |
1104 |
1382 |
Mortalität unter AP erhöht, unter Haloperidol sehr deutlich, v. a. initial |
Barnett 2006 [6] |
USA, |
69,2 Jahre |
14057 |
1242 |
343 |
Mortalität (AP-Einnahme mindestens 30 Tage innerhalb 120 Tage Aufnahme): unter 2GAP=trizyklischen AD nicht signifikant erhöht, unter 1GAP signifikant erhöht, unter anderen Psychopharmaka nicht erhöht |
Nonino 2006 [50] |
Italien, |
83 Jahre |
294/2020 |
294 |
Keine |
Kein Mortalitätsunterschied mit/ohne 2GAP |
Wang 2005 [74] |
USA, Pennsylvania, |
83,2 Jahre |
22890 |
13748 |
9142 |
Mortalität: erhöht unter 1GAP vs. 2GAP, dosisabhängig und v. a. bei Behandlungsbeginn. Kein Unterschied Demenz/Non-Demenz |
Hartikainen 2005 [26] |
Finnland, |
84 Jahre |
601 |
2 |
64 |
Mortalität: unter AP erhöht gegenüber ohne AP, Risiko größer als unter anderen Psychopahrmaka |
Suh 2005 [70] |
Korea, |
79,5 Jahre |
273 |
90,8% Risperidon oder Haloperidol |
90,8% Risperidon oder Haloperidol |
Mortalität: erhöht bei Patienten ohne AP |
Ray 2009 [53] |
USA, Tennessee |
45,7 Jahre |
44 218 1GAP/ |
79589 Pat.-Jahre |
86735 Pat.-Jahre |
Mortalität durch plötzlichen ambulanten Herztod ohne andere Ursache: unter 1GAP und 2GAP erhöht, statistisch nicht signifikant unterschiedlich, Trend zuungunsten 2GAP. Deutliche Dosisabhängigkeit. |
Setoguchi 2008 [64] |
Kanada, Brit. Columbia, |
80 Jahre |
37241 |
24359 |
12882 |
Mortalität unter 1GAP höher als unter 2GAP, v. a. kardiovaskuläre und respiratorische Todesursachen unter 1GAP häufiger |
Wang 2007 [75] |
USA, Pennsylvania, |
83,2 Jahre |
22890 |
13748 |
9142 |
Morbidität: Rhythmusstörungen nach 30 Tagen, zerebrovaskuläre Ereignisse nach 60 und 120 Tagen unter 1GAP häufiger als unter 2GAP |
Liperoti 2005a [44] |
USA, |
Ca. 75% >75 Jahre |
649/2962** |
314 |
305 |
Risiko für Klinikaufnahmen wegen Herzrhythmusstörungen/Herzstillstand: unter 1GAP erhöht, unter 2GAP nicht, gleichgültig ob kardiale Vorerkrankung oder nicht |
Straus 2004 [69] |
Niederlande, |
71/74 Jahre |
554/2657 |
2/7 |
16/28 |
Mortalität plötzlicher Herztod: unter Butyrophenonen dosisabhängig und initial deutlich erhöht, für gesicherte Fälle deutlicher |
Chan 2009 [12] |
China, Hongkong |
79,9–81,5 Jahre |
1089 |
72 |
654 |
Keine statistisch signifikante Risikodifferenz zwischen Non-User, 2GAP und 1GAP |
Sacchetti 2009 [57] |
Siehe Sacchetti 2008 |
Siehe Sacchetti 2008 |
Siehe Sacchetti 2008 |
Siehe Sacchetti 2008 |
Siehe Sacchetti 2008 |
Siehe Sacchetti 2008, Risikoerhöhung für Schlaganfall besonders initial |
Douglas 2008 [16] |
Großbritannien, |
80 Jahre |
6790 |
905 |
6334 |
Stroke-Risiko: für alle AP erhöht, für 2GAP deutlich stärker, v. a. bei Demenz |
Kleijer 2008 [36] |
Niederlande |
76 Jahre |
26157 |
24/134 |
494/1896 |
Risiko zerebrovaskulärer Ereignisse: erhöht unter allen AP, unter 1GAP stärker als unter 2GAP; besonders erhöht initial |
Sacchetti 2008 [56] |
Italien, |
Ab 65 Jahre |
4223/69939 |
2567 |
1656 |
Schlaganfallrisiko: signifikant erhöht 2GAP <Butyrophenone <Phenothiazine; subst. Benzamide nur grenzwertig |
Barnett 2007 [7] |
USA, |
77,5 Jahre |
14029 |
1585 |
187 |
Risiko zerebrovaskulärer Ereignisse: insgesamt kein Unterschied ohne AP/2GAP/1GAP. Erhöhtes Risiko bei vaskulärer Demenz. |
Gill 2005 [21] |
Kanada, Ontario, |
82,5 Jahre |
17845+14865 |
17845 |
14865 |
Schlaganfallrisiko unter 2GAP vergleichbar dem unter 1GAP |
Layton 2005 [41] |
Großbritannien, |
35–48 Jahre |
18236 |
18236 |
Keine |
Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse: kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Substanzen |
Percudani 2005 [51] |
Italien, Lombardei, |
60,5% >75 Jahre |
35604/36075/892*** |
307 |
585 |
Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse unter 2GAP vs. Haloperidol signifikant erhöht |
Liperoti 2005b [45] |
USA, 6 Bundesstaaten |
88,6% >74 Jahre |
1130/3658 |
823 |
600 |
Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse: weder unter 1GAP noch 2GAP signifikant erhöht |
Finkel 2005 [19] |
USA, |
78–82 Jahre |
18987 |
7775 |
1575 |
Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse: unter Risperidon, Olanzapin, Quetiapin vergleichbar, gering höheres Risiko Haloperidol, deutlich höheres Risiko BZD |
Herrmann 2004 [29] |
Kanada, Ontario, |
81,1/82,9/ |
11400 |
10385 |
1015 |
Schlaganfallrisiko unter 2GAP vergleichbar dem unter 1GAP |
Lacut 2007 [39] |
Frankreich |
67,9/68,0 Jahre |
677/677 |
10/4 |
46/15 |
Risiko für venöse Thrombose unter AP erhöht, unter Antidepressiva nicht |
Liperoti 2005c [46] |
USA, 5 |
84% >74 Jahre |
19940/112078 |
11613 |
7652 |
Risiko für venöse Thrombose/Lungenembolie: nur für 2GAP erhöht, nicht für 1GAP. Risiko besonders hoch bei AP-Kombination |
Lipscombe 2009 [48] |
Kanada, Ontario, |
75,8–77,5 Jahre |
13817 |
7606 |
1743 |
Risiko für Klinikaufnahme wegen Hyperglykämie bei bestehendem Diabetes mellitus unter neu begonnener AP-Medikation für alle AP erhöht, besonders initial. Bei vorbestehender AP-Medikation Risiko nur für 2GAP erhöht |
Elie 2009 [18] |
Kanada, Montreal |
84,7/84,8 Jahre |
62/2373 |
80% Risperidon |
10% Haloperidol |
Mortalitätsrisiko bei Delirbehandlung mit AP 1,53- bis 1,61-fach erhöht gegenüber Delirbehandlung ohne AP; Risikoerhöhung durch Komorbidität 1,15-fach. |
Kisely 2009 [35] |
Kanada |
32,2/32,1% >80 Jahre |
1215 |
102 |
90 |
Nach 6 Monaten Olanzapin signifikant mit Diabetes mellitus assoziiert |
Ciranni 2009 [13] |
USA, Kalifornien |
18–65 Jahre |
1975 |
1568 |
407 |
Mono-Substanz-Intoxikationen. Höhere Rate an schweren Komplikationen unter 2GAP (9,1 vs. 5,7%), Todesfälle nur unter Quetiapin |
Knol 2008 [38] |
Niederlande |
75% >74 Jahre |
22944/543/2163**** |
42 |
206 |
Pneumonierisiko: zu Behandlungsbeginn erhöht, keine Dosisabhängigkeit, unter 2GAP höher als unter 1GAP |
Barak 2007 [5] |
Israel, |
73,9 Jahre |
3111 |
1402 |
1181 |
Wahrscheinlichkeit der Verlegung in die Somatik/Tod wegen kardialer/zerebrovaskulärer Ursache: kein Unterschied mit/ohne AP, 1GAP/2GAP |
Lee 2005 [42] |
Kanada, Ontario |
83,0/83,3 Jahre |
21835 |
9790 |
12045 |
EPS/Spätdyskinesien 1 Jahr nach neu begonnener AP-Behandlung bei Demenz gleich häufig unter 1GAP und 2GAP |
Schneider 2006 [61] |
15 RCTs |
3353/1757 |
3353 |
Keine |
Zerebrovaskuläre Ereignisse: alle, v. a. Risperidon |
|
Schneider 2005 [60] |
15 RCTs |
3353/1757 |
3353 |
Keine |
Mortalität: unter 2GAP vs. Plazebo leicht erhöht, nur bei gepoolter Auswertung statistisch signifikant |
|
Haupt 2006 [27] |
6 RCTs |
1009/712 |
1009 |
Keine |
Mortalität: unter Risperidon Trend zu Erhöhung, nicht signifikant |
*Neu angesetzte/fortgesetzte Medikation
**Klinikaufnahme wegen Herzrhythmusstörungen/Kontrollen, ***Zerebrovaskuläre Ereignisse (ZVE)/Pat. mit AP/ZVE bei AP
****mit AP/AP und Klinik wegen Pneumonie/Kontrollen = AP ohne Pneumonie
Die wesentlichen Ergebnisse dieser Studien werden im Folgenden dargestellt. Weil die Polarisierung in „typische“ vs. „atypische“ Substanzen zunehmend fragwürdiger wird [23], werden analog der in der angloamerikanischen Literatur häufigen Unterscheidung in „first generation antipsychotics (FGA)“ und „second generation antipsychotics (SGA)“ die Bezeichnungen Antipsychotika der ersten Generation (1GAP) beziehungsweise der zweiten Generation (2GAP) verwendet, obwohl auch diese Begriffe zum Beispiel historisch im Hinblick auf die Einordnung von Clozapin fragwürdig sind.
Methodische Aspekte
Studienart/-design und Datenquellen
Abgesehen von drei Metaanalysen sind die referierten Untersuchungen fast ausschließlich Beobachtungsstudien (Fall-Kontroll- und Kohortenstudien). Lediglich bei der Arbeit von Ballard et al. [4] handelt es sich um eine kontrollierte randomisierte Studie, und zwar eine Absetzstudie, in der die mit Antipsychotika vorbehandelten demenzkranken Heimbewohner randomisiert für 12 Monate entweder weiterbehandelt wurden oder Plazebo erhielten; daran schloss sich eine bis 54 Monate dauernde offene Beobachtungsphase (Follow-up) an.
Ein großer Teil der referierten Studien wertet mehr oder weniger umfassend verknüpfte Sozialversicherungsdaten aus, wodurch es möglich wird, nicht nur soziodemographische Variablen zu erfassen, sondern auch Komorbidität, Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten oder Komedikation. Dies trifft vor allem für die methodisch sehr ausgefeilten Untersuchungen der Arbeitsgruppen aus Boston und Toronto [21, 22, 29, 54, 58, 64, 74, 75] sowie die von Lipscombe et al. [48] und Ray et al. [53] zu. Liperoti et al. [44–47] verwenden zusätzlich zentrale Daten US-amerikanischer Altenheime.
Diesen Kohorten- bzw. Fall-Kontroll-Studien stehen einige Arbeiten mit deutlich kleinerer Stichprobe und/oder selektionierter Klientel [5, 12, 18, 50, 52, 66, 70] gegenüber; diese Studien sowie einige weitere [26, 41] weisen teilweise erhebliche methodische Mängel auf.
Bemerkenswert ist das methodische Vorgehen von Douglas und Smeeth [16]: Sie stellen bei jedem Patienten ihrer Stichprobe Zeiträume mit AP-Exposition solchen ohne gegenüber und ermitteln für beide die Schlaganfallhäufigkeit. Dadurch werden die methodischen Schwächen von Kohortenstudien umgangen. Jeder Patient stellt gewissermaßen seine eigene Kontrolle dar („self controlled case series/within person case series“), etwaige Risikofaktoren sind cum grano salis in beiden Perioden (Zeiträume mit AP-Exposition und solche ohne) dieselben und die AP-Medikation die einzige unabhängige Variable. Datenquelle ist eine große englische Hausarztdatenbank, die bereits vielen Untersuchungen als Grundlage gedient hat und deren Zuverlässigkeit als belegt gilt.
Studienpopulation
Vier Arbeiten umfassen das gesamte Erwachsenenalter [13, 41, 53, 69]. Die übrigen fokussieren auf ältere Menschen, das Durchschnittsalter liegt sehr hoch zwischen fast 70 und deutlich über 80 Jahren.
In einigen Studien besteht die Stichprobe ausschließlich aus Demenzkranken [7, 21, 22, 34, 42, 45, 50, 54, 72]. Nur selten erfolgen Differenzierungen nach Art der Demenz [7, 26, 50, 70, 72], Ausmaß der kognitiven Beeinträchtigungen [45, 50, 70], Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten (ADL) [45, 50, 52, 70] oder vor allem nach Art und Intensität des herausfordernden Verhaltens [45, 50, 70]. Kales et al. [34] unterscheiden nach Dauer der Demenz-Anamnese.
Die Bostoner Gruppe vergleicht in allen vier Arbeiten [58, 64, 74, 75] Personen in Privathaushalten (Gemeindekohorte) mit Heimbewohnern (intramurale Kohorte), dasselbe gilt für zwei Arbeiten der Toronto-Gruppe [22, 54], in der dritten Studie [21] werden lediglich Daten für Heimbewohner separat dargestellt ohne Vergleich mit der Gemeindekohorte.
Untersuchte Substanzen
In einigen Studien werden nur Zweitgenerations- mit Erstgenerations-Antipsychotika verglichen [21, 29, 58, 64, 74, 75]. Überwiegend werden jedoch Personen, die Antipsychotika einnehmen, Personen ohne Antipsychotika-Exposition gegenübergestellt, teilweise werden dabei alle Antipsychotika zusammengefasst [26, 70], überwiegend wird aber zusätzlich differenziert in Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika [4, 6, 7, 16, 22, 34, 36, 38, 44–46, 51–54, 56, 72]. In den meisten Arbeiten werden Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika als Gruppen zusammengefasst, wobei die Zusammensetzung beider Gruppen erhebliche Unterschiede aufweist. So liegen einerseits für die Zweitgenerations-Antipsychotika Amisulprid und Aripiprazol nur spärliche, für Ziprasidon, Sertindol und Paliperidon praktisch keine Daten vor, während umgekehrt die nordamerikanischen Stichproben teilweise zu zwei Dritteln in Deutschland unbekannte Medikamente enthalten, allen voran Loxapin. Andererseits tauchen die hierzulande viel eingesetzten Substanzen Melperon und Pipamperon in den Studien nur zweimal (Melperon: [26, 52]) beziehungsweise einmal (Pipamperon: [69]) auf. Clozapin-Einnahme ist in einigen Studien Ausschlusskriterium [7, 21, 22, 48, 54], eine Arbeit schließt auch Quetiapin aus [29]. In anderen Untersuchungen wird Clozapin den Zweitgenerations-Antipsychotika zugeordnet [6, 13, 36, 38, 44–46, 51, 53, 56, 58, 64, 72, 74, 75].
Differenzierte Risikoaussagen für einzelne Substanzen werden nur in wenigen Arbeiten gemacht [7, 19, 29-32, 45, 46, 53, 72], einige vergleichen Antipsychotika mit anderen Psychopharmakagruppen oder mit allen Nicht-Antipsychotika-Psychopharmaka insgesamt [6, 19, 26, 34]. Antipsychotika-Kombinationen und Depot-Zubereitungen sind in den meisten Studien ausgeschlossen.
In zahlreichen Veröffentlichungen finden sich nur ungenaue oder gar keine Angaben zu den eingesetzten Erstgenerations-Antipsychotika [5, 7, 16, 21, 29, 36, 38, 53, 56, 69, 72] oder Zweitgenerations-Antipsychotika [5, 26, 69, 70]. In mehreren Arbeiten werden zwar die Substanzen benannt, nicht jedoch ihre Anteile an der Gesamtverordnung [34, 36, 38, 72, 74, 75]. Bei Ballard et al. [4] finden sich widersprüchliche Angaben zur Häufigkeit der einzelnen Substanzen.
In einigen Veröffentlichungen wird nicht klar, ob die Medikation über den gesamten Untersuchungszeitraum so weitergeführt wurde wie initial [4, 5, 26, 44–46, 51, 52, 64, 70].
Dosierungen und Behandlungsdauer
Kontrollierte klinische Studien erfassen Dosierungen und Behandlungsdauer. In den referierten Beobachtungsstudien erlauben es die verknüpften Sozialversicherungsdaten, über die Verordnungen (Datum, Präparat/Wirkstoffgehalt, gegebenenfalls Mehrfachverordnung, teilweise verordnete Dosis) die Expositionsdauer abzuschätzen, und selbstverständlich können so Veränderungen (Präparatewechsel, Dosisänderung, Zusatzmedikation) erfasst werden. Nur wenige Arbeiten versuchen aber, Dosiseffekte zu erfassen [4, 27, 36, 38, 53, 58, 64, 72, 74]. Die holländischen Arbeitsgruppen [36, 38, 69, 72] orientieren sich dabei an den definierten Tagesdosen (DDD; hohe Dosis: >0,5 DDD), während die Bostoner Gruppe [58, 64, 74] eine einfache Dichotomie (Dosis größer oder kleiner als der Mittelwert) vornimmt; einzelne Studien gehen noch differenzierter vor [4, 53].
Auch Auswirkungen der Einnahmedauer werden nur selten untersucht, wobei es hier meist um kurze Zeiträume (Tage bis Wochen) geht, vor allem um die Phase nach Verordnungsbeginn [16, 21, 38, 41, 58, 64, 74, 75]; einige Arbeiten versuchen, die initiale Phase mit längerfristiger Einnahme zu vergleichen [4, 31, 36, 53, 72].
Ergebnisse
Allgemeines Mortalitätsrisiko
Mehrere Studien zeigen ein erhöhtes allgemeines Mortalitätsrisiko für alte Menschen, die mit Antipsychotika behandelt werden [4, 6, 22, 30, 31, 34, 54, 72]. Einige Studien finden kein erhöhtes Mortalitätsrisiko [50, 52, 66, 70]. Bemerkenswerterweise zeigen die kontrollierten klinischen Studien nur eine geringere Risikoerhöhung, die in den Metaanalysen für die einzelnen Substanzen lediglich als Trend erkennbar ist und erst bei gepoolter Auswertung statistische Signifikanz erreicht [27, 60].
Verschiedene Studien [6, 22, 32, 54, 58, 74] legen nahe, dass das Mortalitätsrisiko unter Erstgenerations-Antipsychotika etwas höher ist als unter Zweitgenerations-Antipsychotika. Zwei Arbeiten [34, 72] finden keinen Unterschied zwischen Erst- und Zweitgenerations-Anti- psychotika. Bei Kales et al. [34] zeigt sich aber ein Unterschied, wenn nach Komorbidität differenziert wird: Unter den „Gesündesten“ (Carlson-Komorbiditäts-Index=0) sind Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika gleichermaßen mit einer erhöhten Mortalität assoziiert, unter den Patienten mit ausgeprägter Komorbidität hingegen nur Erstgenerations-Antipsychotika.
Innerhalb der Gruppe der Zweitgenerations-Antipsychotika sind die Ergebnisse durchaus unterschiedlich: so zeigt sich bei Hollis et al. [30, 32] ein höheres Risiko für Risperidon als für Olanzapin, während es sich bei Trifirò et al. [72] genau umgekehrt verhält. Ein besonders erhöhtes Mortalitätsrisiko für Demenzkranke konnte in den Studien, die danach gesucht haben [58, 74], nicht bestätigt werden, das gilt auch für Heimbewohner [22, 54, 58, 74]. Das Mortalitätsrisiko von älteren Patienten mit einem Delir war in einer kanadischen Studie 1,6-fach erhöht, wenn in der Behandlung Antipsychotika eingesetzt wurden, gegenüber der Behandlung ohne Antipsychotika [18].
Herzrhythmusstörungen und plötzlicher Herztod
Auch hier ist die Datenlage kompliziert: Fanden sich noch bis 2008 deutliche Hinweise für eine stärkere Gefährdung durch Erstgenerations-Antipsychotika [44, 64, 75; 69 – bei allerdings sehr geringer Fallzahl], weist nun die große Studie von Ray et al.[53] ein gleich hohes Risiko mit dem Trend zu einer größeren Gefährdung durch Zweitgenerations-Antipsychotika aus; im Einzelnen ergibt sich folgende Rangordnung: Clozapin (Rate-Ratio 3,67; 95%-KI 1,94–6,94) >Thioridazin (3,19; 2,41–4,21) >Risperidon (2,91; 2,26–3,76) >Olanzapin (2,04; 1,52–2,74) >Quetiapin (1,88; 1,30–2,71) >Haloperidol (1,61; 1,16–2,24); wenn die Patienten mit schizophrenen und verwandten Erkrankungen ausgeschlossen werden, ist das Ergebnis für Quetiapin und Haloperidol nicht mehr signifikant, die Rangfolge jedoch unverändert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Ray et al. [53] (30–74 Jahre) und Straus et al. [69] (ab 18 Jahre) im Gegensatz zu den anderen Arbeiten nicht nur alte Menschen berücksichtigt haben. Einige Studien weisen auf einen Dosiseffekt hin [53, 64, 69]. Ein initial erhöhtes Risiko findet sich in zwei Arbeiten [69, 75]. Die Ergebnisse von Ray et al. [53] deuten eher in die entgegengesetzte Richtung: das Risiko in der Subgruppe bis ein Jahr Antipsychotika-Einnahme ist geringer als in der Gesamtstichprobe einschließlich der Patienten mit längerer Einnahme.
Schlaganfall und zerebrovaskuläre Ereignisse
Hier ist die Datenlage weniger eindeutig. Einerseits liegen einige Arbeiten vor, die nur einen Trend [7] oder kein erhöhtes Risiko unter Antipsychotika finden [12, 29, 45; 4 mit kleiner Stichprobe]. Dem stehen andere gegenüber, die ein erhöhtes Risiko zeigen [16, 36, 54, 56]. Andererseits kommt zwar die Mehrzahl der Studien [7, 21, 29, 45, 56] zum Ergebnis eines gleichen Risikos für Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika, drei Untersuchungen sehen aber eine größere Gefährdung unter Erstgenerations-Antipsychotika [36, 54; 19 nur Haloperidol mit gering erhöhtem Risiko], zwei eine größere Gefährdung unter Zweitgenerations-Antipsychotika [16, 51]. Innerhalb der Gruppe der Zweitgenerations-Antipsychotika sind die Ergebnisse für die einzelnen Substanzen widersprüchlich, dies gilt insbesondere für Risperidon [49]. Eine Studie deutet auf ein niedriges Risiko für substituierte Benzamide (Sulpirid und Amisulprid) hin [56]. Verschiedene Arbeiten sprechen für eine deutliche initiale Risikoerhöhung [16, 36, 41, 57]. Hinweise für ein erhöhtes Risiko bei Demenz allgemein finden sich in zwei Arbeiten [16, 41]. Wird der Typ der Demenz berücksichtigt, ergibt sich ein erhöhtes Risiko bei vaskulärer Demenz [7]; dasselbe gilt für Schlaganfälle in der Anamnese [21 – etwa zehnfach erhöht!].
Venöse Thrombosen
Ein Zusammenhang zwischen Antipsychotika und venösen Thrombosen wurde bereits bald nach Einführung der Phenothiazine in den 1950er Jahren vermutet. Eine große Studie mit Daten aus US-amerikanischen Altenheimen ergibt eine statistisch signifikante Risikoerhöhung nur für die Zweitgenerations-Antipsychotika Risperidon, Olanzapin, Clozapin und Quetiapin, nicht aber für Phenothiazine oder andere Erstgenerations-Antipsychotika; dieser Befund bestätigt sich auch für die Subgruppe der Heimbewohner ohne Risikofaktoren. Das größte Risiko ergibt sich bei Kombinationen von Risperidon oder Olanzapin mit Haloperidol oder Thioridazin [46]. Hinsichtlich der Zweitgenerations-Antipsychotika konzentrierte sich die Diskussion lange Zeit auf Clozapin, ein Zusammenhang besteht jedoch offenbar auch für andere Antipsychotika [73]. Eine kleine französische Fall-Kontroll-Studie auf der Basis von Klinikdaten weist auf ein deutlich erhöhtes Thromboserisiko unter Antipsychotika insgesamt hin, nicht aber für Antidepressiva [39]. Die Auswertung der WHO-Nebenwirkungsdatenbank zeigt nach Ausschluss der Clozapin-assoziierten Fälle (375 von 754) einen Zusammenhang mit venösen Thrombosen nur für Zweitgenerations-Antipsychotika, nicht aber für Erstgenerations-Antipsychotika als Gruppe; eine Häufung findet sich für Sertindol, Olanzapin und Zuclopenthixol [25].
Weitere unerwünschte Wirkungen
Zum Thema Pneumonie gibt es nur wenige Daten. Knol et al. [38] zeigen ein erhöhtes Pneumonierisiko unter Antipsychotika, und zwar für Zweitgenerations-Antipsychotika deutlich höher als für Erstgenerations-Antipsychotika. In der Studie von Barnett et al. [6] ist die Mortalität bei Pneumonie unter Erstgenerations-Antipsychotika signifikant erhöht, nicht hingegen unter Zweitgenerations-Antipsychotika. Knol et al. [38] finden darüber hinaus ein deutlich erhöhtes Risiko ganz zu Beginn der Antipsychotika-Einnahme, aber keinen Dosiseffekt.
Extrapyramidale Symptome beziehungsweise Spätdyskinesien waren in einer kanadischen Studie mit Demenzpatienten unter Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika gleich häufig [43].
Komplex stellt sich die Lage beim Thema Sturzgefahr und Oberschenkelhals-/Hüftgelenksfrakturen dar; noch mehr als bei den anderen Aspekten spielen hier Dosierung, individuelle Empfindlichkeit, Aufdosierungsgeschwindigkeit, Komorbidität, Komedikation, soziale und physikalische Kontextbedingungen eine Rolle. Dass Antipsychotika hier eine Gefährdung bedeuten können, liegt auf der Hand. Vorzüge oder Nachteile einer bestimmten Antipsychotika-Klasse können aber aus den vorliegenden Daten nicht pauschal abgeleitet werden. Entsprechend widersprüchlich sind die Ergebnisse [8, 47, 61, 71, ausführlicher bei 76].
Die metabolischen Nebenwirkungen von Antipsychotika bei älteren Patienten sind wenig untersucht. Kisely et al. [35] fanden ein erhöhtes Diabetes-Risiko unter Olanzapin. Lipscombe et al. [48] beschreiben ein vor allem initial erhöhtes Risiko für Hyperglykämien bei Diabetikern für alle Antipsychotika unter neu begonnener Antipsychotika-Medikation; bei vorbestehender Antipsychotika-Medikation fand sich ein Risiko nur für Zweitgenerations-Antipsychotika. Insgesamt werden die metabolischen UAW der Zweitgenerations-Antipsychotika im Alter für bedeutsam angesehen, besonders bei Olanzapin und Clozapin, während Aripiprazol und Ziprasidon diesbezüglich relativ unbedenklich erscheinen [9].
Die Auswertung der Daten der kalifornischen Vergiftungszentrale zeigte eine höhere Rate von schwerwiegenden Zwischenfällen bei Mono-Intoxikationen für Zweitgenerations-Antipsychotika; die einzigen Todesfälle traten unter Quetiapin auf [13].
Diskussion
Alle großen und methodisch hochwertigen Untersuchungen (Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien) zeigen, dass Antipsychotika bei alten Menschen mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden sind. Die wenigen Arbeiten, in denen sich kein erhöhtes Mortalitätsrisiko findet, fußen auf kleinen Stichproben oder weisen (zusätzlich) erhebliche methodische Mängel auf [50, 52, 66, 70]. Bei aller Skepsis hinsichtlich der methodischen Schwächen von Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien (Einfluss von unerkannt gebliebenen Einflussfaktoren – „confounder“) dürfte angesichts der Anzahl der Studien und der Stichprobengrößen kein Zweifel an der erhöhten Mortalität bestehen.
In den kontrollierten klinischen Studien zeigt sich keine oder nur eine geringere Risikoerhöhung, die in den Metaanalysen für die einzelnen Substanzen lediglich als Trend erkennbar ist und erst bei gepoolter Auswertung statistische Signifikanz erreicht [27, 60]. Hierin dürfte die Diskrepanz zwischen den künstlichen Bedingungen solcher Arzneimittelstudien und den „real world“-Bedingungen zum Ausdruck kommen. Hinzu kommt, dass in veröffentlichten kontrollierten Studien zur Pharmakotherapie bei Demenz Daten zu Nebenwirkungen fehlen oder unklar und inkonsistent dargestellt sind und seltene Nebenwirkungen den willkürlich gesetzten Häufigkeitsschwellen zum Opfer fallen; außerdem bleiben viele kontrollierte Studien unveröffentlicht und damit nicht überprüfbar [43, 61]. Carson et al. [11] sowie Jeste et al. [33] bemängeln, dass die kontrollierten Studien zu kurze Zeiträume umfassen (weshalb ungenügende Erkenntnisse über Langzeitwirkungen vorliegen), an hochselektiven Stichproben durchgeführt und die Resultate nur unvollständig mitgeteilt werden.
Selektionseffekte durch klinische Unterschiede der mit Antipsychotika behandelten Patienten im Vergleich zu denen ohne kommen als Erklärung für die Risiken nicht in Betracht, weil die methodisch hochwertigen Studien insbesondere der Gruppen aus Boston und Toronto [21, 22, 29, 54, 58, 64, 74, 75; aber auch 53] solche Unterschiede (z.B. Komorbidität, Medikation, Arztkontakte) statistisch sehr umfassend berücksichtigt und „herausgerechnet“ haben; für die klinischen (Zulassungs-)Studien gilt dies selbstredend. Auch die Ergebnisse der Absetzstudien [z.B. 3, 37] sprechen dagegen, dass es kategoriale Unterschiede zwischen den mit Antipsychotika behandelten Demenzkranken und denen ohne gäbe.
Im Vergleich von Erstgenerations- mit Zweitgenerations-Antipsychotika sind Selektionseffekte durch das Verordnungsverhalten denkbar, indem nach dem Aufkommen der ersten Berichte und Warnungen vor den Risiken einiger Zweitgenerations-Antipsychotika insbesondere die (vaskulären) Risikopatienten vermehrt ältere Substanzen erhielten. Dies würde eine Verzerrung zuungunsten der Erstgenerations-Antipsychotika bedeuten. Einige Studien versuchen dies durch verschiedene Maßnahmen herauszurechnen; Douglas und Smeeth [16] haben aus diesem Grund den Untersuchungszeitraum mit dem 31.12.2002 enden lassen.
Schwerwiegende Nebenwirkungen: mögliche Pathomechanismen
Mögliche pathogenetische Mechanismen (Tab. 3) sind extrapyramidale (EPS) und anticholinerge Effekte, Störungen der Erregungsbildung und -ausbreitung im Herzen, Beeinflussungen der Thrombozytenfunktion durch Hyperprolaktinämie oder über Serotoninrezeptoren sowie immunologische Mechanismen [21, 24, 45, 46, 64, 73].
Tab. 3. Antipsychotika-Risiken im Alter – mögliche Pathomechanismen
Herztod |
Arrhythmien, Lungenembolie (s. u.) |
Schlaganfall, Thrombose |
Orthostatische Hypotension (Grenz-/Endzoneninfarkte) |
Beeinflussungen der Thrombozytenfunktion (Hyperprolaktinämie, Serotoninrezeptoren, immunologisch) |
|
Respiratorische Todesursachen |
Verminderte Bronchialsekretion (anticholinerg), respiratorische Dyskinesien (EPS) |
Unspezifische Sedierung |
Aktivitäts- und Mobilitätsreduzierung, verminderte Reaktionsfähigkeit → indirekte Auswirkungen: Thrombose, hypostatische Pneumonie, Hypotonie mit Kollapsneigung oder hämodynamischen Hirninfarkten, Kraftverlust, Sturzgefährdung |
Initial |
Idiosynkratische Unverträglichkeiten, Herzrhythmusstörungen, hämodynamische Hirninfarkte… |
Später im Verlauf |
Auswirkungen metabolischer Risiken, indirekte Auswirkungen von Sedierung und Inaktivität, verzögert auftretende Herzrhythmusstörungen (QTc-Zeit) |
EPS sind ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Unterscheidungskriterium zwischen Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika; in einer kanadischen Studie [42] waren sie unter Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika bei Demenzkranken gleich häufig. In einer amerikanischen retrospektiven Untersuchung von Todesfällen waren Spätdyskinesien unter hochpotenten Erstgenerations-Antipsychotika mit einem gegenüber Zweitgenerations-Antipsychotika erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden [15].
Die größte Bedeutung dürfte die allen Antipsychotika gemeinsame [61] unspezifische Sedierung besitzen, die sich über Aktivitäts- und Mobilitätsreduzierung sowie verminderte Reaktionsfähigkeit auf vielfältige Weise indirekt auswirken kann (Thrombose, hypostatische Pneumonie, Hypotonie mit Kollapsneigung oder hämodynamische Hirninfarkte, Kraftverlust, Sturzgefährdung usw. – [14, 27]). Störungen der Erregungsbildung und -ausbreitung im Herzen sind bei verschiedenen Antipsychotika unterschiedlich ausgeprägt, die größten Risiken bestehen für Thioridazin [17, 28, 65, 68]. Eine QTc-Verlängerung scheint bei verschiedenen Pharmaka zu unterschiedlichen Zeiten manifest zu werden: bei Haloperidol oder Droperidol innerhalb von Stunden oder gar Minuten, bei Thioridazin oder Pimozid nach Wochen und nach Clozapin oder Olanzapin erst nach Monaten bis Jahren [40].
Dosiseffekt – Zeiteffekt?
Nebenwirkungen von Antipsychotika sind nach klinischer Erfahrung dosisabhängig. Dosiseffekte wurden aber bisher nur wenig untersucht; wenn danach gesucht wurde, wurden sie in der Regel auch gefunden [53, 58, 64, 69, 72, 74]; es gibt jedoch Ausnahmen [27, 38], für die eine plausible Erklärung schwer fällt (siehe unten).
Pharmakokinetische Aspekte sind in den vorliegenden Studien überhaupt nicht berücksichtigt, obwohl sie von großer Bedeutung sein können [20].
Mehrere Studien sprechen dafür, dass die UAW-Risiken unter Antipsychotika-Behandlung initial besonders erhöht sind [16, 22, 30, 32, 36, 38, 48, 57, 58, 69, 74, 75]. Dies wird vor allem deutlich, wenn die Zeitfenster entsprechend eng gewählt werden – eindrucksvolle Beispiele geben Kleijer et al. [36] und Knol et al. [38], die die Risikoerhöhung in den allerersten Tagen, ja fast Stunden zeigen. Es erscheint nachvollziehbar, dass so vor allem individuell-spezifische Unverträglichkeiten erfasst werden, aber auch Nebenwirkungen, die manifest werden, bevor Adaptationsmechanismen greifen können, was besonders für (individuell) initial hohe Dosierungen gelten dürfte. Denkbar ist aber auch, dass keine kausale Beziehung besteht, sondern dass eine körperliche Erkrankung, die später sui generis zu einem schwerwiegenden Ereignis führen würde, eine delirante Symptomatik auslöst, auf die mit Verordnung eines Antipsychotikums reagiert wird; die Antipsychotika-Verordnung wäre dann nicht Ursache, sondern quasi Prodromalzeichen. Dies könnte beispielsweise für die im Alter oft oligosymptomatisch verlaufenden Pneumonien zutreffen und so das Fehlen eines Dosiseffekts in der Arbeit von Knol et. al [38] erklären.
Wer diese erste Phase überstanden hat, „verträgt“ in der Regel das Medikament. Nach einiger Zeit greifen unter Umständen längerfristige Effekte wie beispielsweise verminderte körperliche Aktivität, die unter Clozapin oder Olanzapin erst nach Monaten bis Jahren auftretende QTc-Zeit-Verlängerung [40] oder metabolische Effekte. Auf diese Weise könnte eine im späteren Verlauf wieder ansteigende Mortalitätskurve zu erklären sein, für die einzelne Arbeiten Hinweise geben – es ergäbe sich damit eine U-förmige oder umgekehrt J-förmige Beziehung. Die Wahl geeigneter Zeitfenster ist hier von Bedeutung.
Andererseits ist zu bedenken, dass erwünschte therapeutische Effekte von Antipsychotika andere (demenzassoziierte) Risiken verringern können, so dass es langfristig zu einem Nettoeffekt kommt, in dem sich die Risiken (teilweise) ausgleichen.
Unterschiedliche Risiken für Erst- und Zweitgenerations-Antipsychotika?
Antipsychotika sind keine homogene Gruppe. Die einzelnen Substanzen unterscheiden sich erheblich in ihren Rezeptorbindungsprofilen, aber auch hinsichtlich der klinischen (erwünschten und unerwünschten) Effekte. Insbesondere gibt es keine homogene Gruppe „atypischer“ Neuroleptika [23, 33].
Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Erkenntnisse, die an einzelnen Antipsychotika gewonnen wurden, auf andere übertragbar sind. Dies gilt insbesondere, wenn man nordamerikanische Studien, die einen hohen Anteil an hierzulande nicht gebräuchlichen Substanzen beinhalten und in denen andererseits in Deutschland verbreitete Substanzen fehlen, auf die Verhältnisse in Deutschland beziehen will. Auch ein relativ hoher Verordnungsanteil (10 bis 13%) an Thioridazin mit den bekannten kardialen Risiken in einigen kanadischen Studien kann die Ergebnisse verzerren. Zu bedenken ist schließlich, dass die Kategorie Zweitgenerations-Antipsychotikum insofern irreführend ist, als Daten im Wesentlichen nur für Risperidon, Olanzapin und Quetiapin vorliegen; Clozapin nimmt ohnehin eine Sonderstellung ein, zu Aripiprazol und Amisulprid gibt es im Zusammenhang mit Demenz nur spärliche, zu Ziprasidon und Sertindol und Paliperidon praktisch keine Daten.
Deshalb erscheint es fragwürdig, pauschal Zweitgenerations-Antipsychotika gegenüber Erstgenerations-Antipsychotika zu bevorzugen. Vielmehr gilt es, bei jedem einzelnen Patienten substanzspezifische Wirkungen und Nebenwirkungen, Komorbidität, Kontraindikationen und Arzneimittelinteraktionen zu beachten. Dosierung und Aufdosierungsgeschwindigkeit sowie Behandlungsdauer sind von allergrößter Bedeutung. Plakativ formuliert: Haloperidol in einer Tagesdosis von 1 mg für sechs Wochen ist sicher nicht bedenklicher als 2 mg Risperidon täglich für sechs Monate. Haloperidol gehört zu den Substanzen, die von der APA für die Behandlung von Aggressivität bei Demenzkranken empfohlen werden [1].
Schlussbemerkungen und Empfehlungen
Den eindeutigen Risiken der Antipsychotika steht auf dem Gebiet des herausfordernden Verhaltens bei Demenz nur eine begrenzte Wirksamkeit gegenüber [1, 2, 11, 14, 33, 37, 55, 61, 62, 76]; zu den älteren Substanzen liegen deutlich weniger und methodisch nicht so hochwertige Studien vor, woraus nicht abgeleitet werden kann, dass die Wirksamkeit der Erstgenerations-Antipsychotika (noch) geringer wäre als die der Zweitgenerations-Antipsychotika [33]. Eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz ergibt sich nur für Patienten mit ausgeprägter Symptomatik [3]. Die APA schließt beispielsweise Schlafstörungen als Indikation für Antipsychotika kategorisch aus [1]. Andererseits mangelt es an evidenzbasierten Alternativen [10, 33, 67].
Bei ausgeprägter Symptomatik und großem Leidensdruck (für den Erkrankten und/oder seine Umgebung) wächst der Druck auf die behandelnden Ärzte, selbst wenn offensichtlich ist, dass die Symptomatik psychosoziale Ursachen hat. Was tun, wenn nichtmedikamentöse Interventionen zwar theoretisch vorstellbar, praktisch jedoch nicht realisierbar sind – eine Situation, die in Familien ebenso häufig vorkommt wie in Heimen? Ärzte fühlen sich hier nicht selten dazu missbraucht, ein Problem mit medizinischen Mitteln angehen zu sollen, das kein medizinisches ist. Kann man es in dieser Situation verantworten, aus solch ethischen Überlegungen eine psychopharmakologische Behandlung zu verweigern, wohl wissend oder zumindest ahnend, dass es in der Folge zu beträchtlichen Eskalationen kommen kann?
Das Problem besteht also nicht darin, dass auch für Antipsychotika der Grundsatz gilt: „Wo Wirkungen sind, da sind auch Nebenwirkungen“, und dass die Nebenwirkungsrisiken gegen die Gefahren der unbehandelten Erkrankung abgewogen werden müssen. Die Risiken sind vertretbar, solange die „richtigen“ Patienten mit den passenden Medikamenten behandelt werden. Das Problem besteht vielmehr in der zunehmenden breiten und unkritischen Anwendung von Antipsychotika, die sich in den Verordnungszahlen niederschlägt (siehe oben). Die Gegenüberstellung vom Risiko des plötzlichen Herztods unter Antipsychotika und des Agranulozytoserisikos unter Clozapin (Tab. 4) macht deutlich, dass hier ein konsequenteres Risikomanagement erforderlich ist.
Tab. 4. Plötzlicher Herztod unter Antipsychotika (AP) und Agranulozytose unter Clozapin – Risikovergleich [nach 53, 59]
Inzidenz pro 1000 Patientenjahre |
|
Plötzlicher Herztod unter AP (alle) |
2,9 |
Plötzlicher Herztod unter AP (hohe Dosis) |
3,3 |
Plötzlicher Herztod unter Clozapin |
4,1 |
Plötzlicher Herztod bei AP-Einnahme in der Vergangenheit |
1,6 |
Plötzlicher Herztod ohne AP |
1,4 |
Agranulozytose unter Clozapin |
6,8 |
Tod durch Agranulozytose unter Clozapin |
0,2 |
Als Desiderat für die Behandlung herausfordernden Verhaltens bei Demenz lassen sich die folgenden Prinzipien formulieren:
- Zuerst Suche nach (körperlichen oder medikamentösen) Ursachen!
- Dann beziehungsweise gleichzeitig Einsatz nichtmedikamentöser Interventionen – adäquater Umgang mit Demenzkranken!
- Erst danach Einsatz von Psychopharmaka, wobei je nach Symptomatik auch andere Substanzgruppen in Betracht kommen. Insbesondere ist der Einsatz von Antidementiva zu prüfen, bevor Antipsychotika verordnet werden.
Falls Antipsychotika verwendet werden, gilt:
- Alle Antipsychotika sind mit Risiken verbunden! Hierüber müssen die Angehörigen beziehungsweise gesetzlichen Vertreter und gegebenenfalls die Patienten aufgeklärt werden.
- Risiken der Behandlung gegen die Risiken ohne Behandlung abwägen.
- Indikationen sind nur gravierende Symptome wie psychotische Symptome oder schwere Verhaltensstörungen, nicht Schlafstörungen oder Angst!
- Identifizierung und genaue Erfassung („Messung“) der Zielsymptome, die durch die Behandlung gebessert werden sollen, und zwar zu Beginn und immer wieder im Verlauf.
- Individuelle Auswahl des Medikaments!
- Die geringstmögliche effektive Dosis verwenden! Altersabhängige Pharmakokinetik beachten! „Start low, go slow!“
- Sorgfältige Therapieüberwachung und Dokumentation im Hinblick auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen! Dazu gehören EKG-Kontrollen und Laborkontrollen.
- Immer wieder Absetzversuche unternehmen! Diese sollten jeweils spätestens nach Ablauf einiger Monate erfolgen.
- Substanzen mit anticholinergen Wirkungen möglichst vermeiden!
- Polypharmazie vermeiden, so wenig verschiedene Medikamente wie möglich gleichzeitig verordnen, um das Interaktionsrisiko zu verringern!
Literatur
Das Literaturverzeichnis als PDF.
Dr. med. Dirk K. Wolter, Chefarzt Gerontopsychiatrie, Inn-Salzach-Klinikum, Gabersee 7, 83512 Wasserburg am Inn, E-Mail: Dirk.Wolter@iskl.de
Risks of antipsychotics in the elderly, particularly in dementia
Antipsychotics are widely used in the treatment auf challenging behaviour in dementia with second generation antipsychotics today being prescribed more often than the older agents. Given an only modest efficacy, several serious side effects must be considered. There is only little difference between first and second generation antipsychotics. Given the heterogeneity of antipsychotic agents, it appears doubtful if there is any advantage in simply dividing them into first and second generation antipsychotics. In the decision of which agent to use it is much more prudent to consider substance-specific side effects, dose, pattern of dose titration, comorbidity, contraindications, and drug interactions matching the patient’s particular condition rather than to decide merely by assigning an agent to either one of these two classes or the other.
Appropriate risk-management is necessary. Main principles are: use antipsychotics only when they are clearly indicated; exact definition and monitoring of target symptoms; regularly attempts of tapering-off; avoidance of polymedication.
Key words: Antipsychotics, atypical neuroleptics, old age, dementia, mortality, side effects, risk-management
Psychopharmakotherapie 2010; 17(01)