Gerontopsychiatrie – Herausforderung für Forschung und Versorgungspraxis


Prof. Dr. Hans Gutzmann, Berlin, Dr. Dirk Wolter, Wasserburg a. Inn

Erst seit wenigen Jahrzehnten ist der wesentliche Grund für die verlängerte Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung nicht mehr der Rückgang der Kindersterblichkeit, sondern die verbesserte Gesundheit der über 65-Jährigen. Dass die Aufgabe der Versorgung alter Menschen für die Gesellschaft zum Thema geworden ist, liegt also hauptsächlich an den Erfolgen der modernen Medizin für diese Patientengruppe. Diese Entwicklung bringt es auch mit sich, dass die Gerontopsychiatrie – ein früher eher ungeliebtes Teilgebiet der Psychiatrie – zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Gerontopsychiatrie – der zur Abgrenzung auch gern benutzte Ausdruck „Erwachsenenpsychiatrie“ insinuiert, dass alte psychisch Kranke den Erwachsenenstatus eingebüßt hätten – hat sich in den letzten Jahrzehnten international als Forschungsgebiet und als unverzichtbares Element verantwortungsvoller Versorgungspraxis etabliert. In unserem Land besteht aber weiterhin ein deutlicher Nachholbedarf, der sich im psychopharmakologischen Feld besonders in der Differenzierung zu allgemeinpsychiatrischen Fragestellungen erweist.

So stellen in der Allgemeinpsychiatrie Fragen der psychopharmakologischen Kombinations- oder Augmentierungsbehandlung als zusätzliche Therapieoption ein Dauerthema dar, die Gerontopsychiatrie ist dagegen häufig auf ganz andere Weise mit dem Problem von Kombinationsbehandlungen konfrontiert, meist unter dem Rubrum Polypharmazie. Während also in der Allgemeinpsychiatrie der Aspekt eines möglichen Wirksamkeitsvorteils der Kombination gegenüber einer Monotherapie im Vordergrund steht, geht es in der Gerontopsychiatrie vor allem darum, bedenkliche Arzneimittelinteraktionen zu minimieren. Aber auch Aspekte der pharmakologischen Differenzialindikation sind für die Gerontopsychiatrie ein Thema. So fordert der deutliche Anstieg der Antidepressiva-Verordnungen im Alter ebenso eine plausible Erklärung wie der Umstand, dass die Pro-Kopf-Verordnung von Antipsychotika nicht etwa im mittleren Erwachsenenalter am höchsten ist, sondern im Senium und hier speziell in der Kohorte der über 90-Jährigen.

Gerade die Diskussion über die Antipsychotika-Anwendung bei alten Patienten beziehungsweise bei Demenzkranken belegt eine wachsende öffentliche Aufmerksamkeit. Der Preis dafür ist eine leider nicht selten unausgewogene Darstellung, die zudem immer noch ein negatives Altersstereotyp bedient und nicht selten dabei impliziten Rationierungstendenzen das Wort redet, die bei anderen chronischen Erkrankungen in dieser Form bisher nicht (oder wohl eher noch nicht) wahrgenommen werden. Skandale bei der Versorgung von Heimbewohnern sind in diesem Zusammenhang ebenso zu nennen wie die nicht enden wollende Diskussion über die Kosten-Nutzen-Relation von Antidementiva.

Diesen und ähnlichen versorgungspraktischen Herausforderungen muss sich die Gerontopsychiatrie über die rein klinisch-wissenschaftlichen Fragen hinaus ebenfalls stellen. Eine fruchtbare Diskussion kann aber nur auf dem Boden verlässlicher Evidenz gelingen. Die Beiträge dieses Hefts wollen dazu beitragen und berühren deshalb eine Vielzahl verschiedener Aspekte gerontopsychopharmakologischer Alltagspraxis. Dazu gehören die allgemeinen und spezifischen Risiken der Behandlung mit Antipsychotika (Beiträge Wolter und Wandersleb), die differenzialtherapeutischen Herausforderungen bei Demenzen mit Lewy-Körperchen und Parkinsondemenz (Beitrag Drach), die kritische Überprüfung von Indikation und Anwendungsdauer der Therapie mit Antidementiva (Beitrag Haupt) und schließlich auch der Einsatz von Schlaf- und Beruhigungsmitteln im Alter (Beitrag Wolter). Neben der fachlichen Fortbildung sollen die Beiträge dieses Hefts selbstverständlich auch den Prozess der kritischen Selbstprüfung des Fachs Gerontopsychiatrie befördern.

Psychopharmakotherapie 2010; 17(01)