Dr. Barbara Kreutzkamp, Hamburg
Multiple Sklerose (MS) beginnt bei den meisten Patienten mit schubförmig auftretenden Krankheitsepisoden und längeren schubfreien Phasen, geht dann aber meist in einen progredienten Verlauf mit zunehmender Behinderung über. In der schubförmigen Phase steht eine zeitweise auftretende fokale Entzündungsreaktion in der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark im Vordergrund, in der progredienten Phase dominiert der Verlust von axonalen und neuronalen Zellen. Man geht heute davon aus, dass durch eine Hemmung der Entzündungsreaktion zu Beginn der Erkrankung, die zu Demyelinisierung und Gliosis führt, die chronische Phase hinausgezögert oder sogar verhindert werden kann.
Interferon beta und Glatirameracetat sind wirksam, reduzieren aber die klinische Rückfallrate lediglich um ein Drittel. Als eine neue Therapieoption wird der humanisierte monoklonale Antikörper Alemtuzumab (MabCampath®) untersucht. Der Antikörper richtet sich gegen CD52-exprimierende Lymphozyten und Monozyten und führt, in regelmäßigen Intervallen gegeben, zu einer anhaltenden T-Zell-Depletion und einer Veränderung des Lymphozyten-Profils. Alemtuzumab ist für die Behandlung der chronisch-lymphatischen Leukämie vom B-Zell-Typ zugelassen.
Bereits seit Anfang der 1990er Jahre wird der Antikörper auch in der Behandlung der MS erprobt, zunächst in der sekundär progredienten Phase. Die Ergebnisse dieser Studien haben wesentlich zu der Hypothese beigetragen, dass durch eine frühzeitige Immuntherapie die postinflammatorische Neurodegeneration und damit der Übergang der Erkrankung in die progrediente Phase verhindert werden kann. In einer randomisierten Phase-II-Studie wurde Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon beta-1a in frühen MS-Stadien untersucht.
Studiendesign
In die randomisierte einfachblinde Studie wurden 334 bisher nicht behandelte MS-Patienten im frühen Stadium der schubförmigen multiplen Sklerose einbezogen, die einen Score von 3 oder weniger in der Expanded Disability Status Scale (EDSS) aufwiesen und seit höchstens drei Jahren erkrankt waren. Die Patienten erhielten entweder Interferon beta-1a s.c. 44 µg dreimal wöchentlich oder Alemtuzumab in jährlich i.v. applizierten Zyklen (intravenöse Infusionen mit 12 oder 24 mg/Tag an 5 aufeinanderfolgenden Tagen im ersten Behandlungszyklus und über 3 konsekutive Tage in Monat 12 und Monat 24). Die Patienten wurden zwischen Dezember 2002 und Juli 2004 rekrutiert. Die Behandlung mit Alemtuzumab wurde allerdings 2005 vorzeitig beendet, nachdem drei Patienten in diesem Studienarm eine immunogene thrombozytopenische Purpura entwickelt hatten, an der ein Patient verstarb (Hirnblutung). Die Interferon-Behandlung wurde wie vorgesehen über drei Jahre fortgeführt.
Ergebnisse
Zum Zeitpunkt des vorzeitigen Therapieabbruchs hatten lediglich zwei Patienten noch nicht den zweiten Alemtuzumab-Zyklus durchlaufen, den dritten Zyklus in Monat 24 erhielten aber 75% der Patienten nicht mehr. In der Interferon-beta-Gruppe brachen mehr Patienten die Behandlung vorzeitig ab, vor allem wegen Unwirksamkeit und Nebenwirkungen, so dass nur 59% der Patienten in diesem Studienarm die vorgesehene Studienzeit von drei Jahren absolvierten.
Alemtuzumab reduzierte im Vergleich zu Interferon beta-1a signifikant
- die Rate von anhaltender Behinderung von 26,1% auf 9,0% (Hazard-Ratio [HR] 0,29; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,16–0,54; p<0,001) und
- die Rückfallrate von 0,36/Jahr auf 0,10/Jahr (HR 0,26; 95%-KI: 0,16–0,41; p<0,001).
Der durchschnittliche Behinderungsscore auf einer 10-Punkte-Skala verbesserte sich um 0,39 Punkte in der Alemtuzumab-Gruppe und verschlechterte sich um 0,38 Punkte in der Interferon-beta-1a-Gruppe (p<0,001). Bei den mit Alemtuzumab behandelten Patienten ging die im T2-gewichteten MRT festgestellte Läsionslast signifikant gegenüber den mit Interferon beta-1a behandelten Patienten zurück (p=0,005). Von Monat 12 bis Monat 36 nahm das im T1-gewichteten MRT gemessene Gehirnvolumen in der Alemtuzumab-Gruppe zu und in der Interferon-Gruppe ab (p=0,02).
Im Vergleich zur Interferon-beta-1a-Behandlung kam es unter dem monoklonalen Antikörper häufiger zu Autoimmunreaktionen, vor allem zu Schilddrüsen-Autoimmmunreaktionen (23% vs. 3%) und zu einer immunogenen thrombozytopenischen Purpura (3% vs. 1%) sowie zu Infektionen, vor allem des Respirationstrakts (66% vs. 47%). Unterschiede zwischen der 12-mg- und der 24-mg-Dosis zeigten sich nicht.
Alemtuzumab bei MS – wie geht es weiter?
CARE-MS I: In dieser Phase-III-Studie werden – analog zur hier referierten Phase-II-Studie CAMMS223 – Alemtuzumab und Interferon beta-1a bei bislang unbehandelten MS-Patienten verglichen. Die Patientenrekrutierung ist abgeschlossen, die Daten sind voraussichtlich im März 2011 komplett (NCT00530348).
CARE-MS II: In dieser Phase-III-Studie werden Alemtuzumab und Interferon beta-1a bei MS-Patienten verglichen, die trotz Behandlung mit Interferon beta oder Glatirameracetat einen erneuten Schub erlitten haben. Die Daten sind voraussichtlich im April 2012 vollständig (NCT00548405).
Patienten, die in der CAMMS223-Studie, der CARE-MS I oder der CARE-MS II Alemtuzumab erhalten haben, können auf Einladung an einer Erweiterungsstudie teilnehmen, in der die Langzeitwirksameit und -sicherheit von Alemtuzumab untersucht werden soll (NCT00930553).
[Quelle: www.clinicaltrials.gov]
Diskussion
Bei Patienten mit einer frühen schubförmigen MS war der monoklonale Antikörper Alemtuzumab therapeutisch effektiver als Interferon beta-1a, führte jedoch zu deutlich mehr Autoimmunreaktionen, vor allem zu Schilddrüsen-Autoimmunerkrankungen und immunogener thrombozytopenischer Purpura. Die retrospektive Evaluation des Thrombozytopenie-Falls mit Todesfolge ergab, dass die Hautsymptome schon einige Wochen vor Auftreten der Hirnblutung vorhanden waren. Daraufhin wurden alle Patienten über die ersten Anzeichen einer Thrombozytopenie aufgeklärt und regelmäßige Blutuntersuchungen angeordnet. Nach den gemeldeten ersten drei Thrombozytopenie-Fällen wurden dann noch drei weitere Patienten mit einer thrombozytopenischen Purpura entdeckt, die Behandlung erfolgte mit Glucocorticoiden oder Rituximab.
Trotz der überzeugenden Wirksamkeit des monoklonalen Antikörpers auf das Fortschreiten der MS müssen die Nachteile der Nebenwirkungen sorgfältig abgewogen werden, insbesondere weil es sich bei den Patienten um klinisch noch nicht stark belastete Menschen handelt und die Studie über langfristige Nebenwirkungen keine Auskunft gibt. Möglicherweise reichen aber auch schon ein oder zwei Therapiezyklen aus, um langfristig eine immunologische Homöostase zu induzieren und den MS-Patienten im Frühstadium so über mehrere Jahre eine krankheits- und behandlungsfreie Zeit zu verschaffen.
Im übergeordneten Sinn sollten die Ergebnisse auch zu einem Überdenken der allgemeinen Therapiestrategien bei der MS führen: Ähnlich wie bei vielen onkologischen Entitäten könnte vielleicht auch hier eine frühe intensive Induktionsphase den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen und dadurch eine weniger belastende Dauertherapie ermöglichen.
Quellen
The CAMMS223 Trial Investigators. Alemtuzumab vs. interferon beta-1a in early multiple sclerosis. N Engl J Med 2008;359:1786–801.
Hauser SL. Multiple lessons for multiple sclerosis. N Engl J Med 2008;359:1838–41.
Psychopharmakotherapie 2009; 16(05)