Dr. Heike Oberpichler-Schwenk, Stuttgart
Anfallsprophylaxe bei Hirntumorpatienten?
Bei einem Hirntumor oder nach seiner Entfernung treten nicht selten erstmalig epileptische Anfälle auf, deshalb ist zu überlegen, ob Patienten mit Hirntumoren prophylaktisch ein Antikonvulsivum erhalten sollten. Zu dieser Frage wurde eine Metaanalyse von fünf prospektiven randomisierten Studien durchgeführt, in denen insgesamt 403 Patienten für eine Woche (1 Studie) oder 5 bis 12 Monate ein Antikonvulsivum (Phenobarbital, Phenytoin, Valproinsäure) erhielten oder nicht. Erstmalige epileptische Anfälle traten ohne Antikonvulsivum bei 39/193 Patienten (20%), mit Antikonvulsivum bei 39/210 Patienten (19%) auf.
Der prophylaktische Einsatz eines Antikonvulsivums ist demnach nutzlos. Andererseits ist er nebenwirkungsbehaftet. Vor allem das Hautausschlag-Risiko war auffällig erhöht, insbesondere in Verbindung mit einer Strahlentherapie. Hautausschlag trat in den Studien bei 14% der Patienten auf (mit Carbamazepin oder Phenytoin bei malignen Gliomen sogar bei 26%). Außerdem wurden bei je 5% Enzephalopathie und Übelkeit/Erbrechen und bei 3% eine Myelosuppression beobachtet.
Die Metaanalyse ergab also ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis für eine generelle Anfallsprophylaxe bei Hirntumorpatienten. Sinnvoll könnte allerdings eine einwöchige Prophylaxe nach einer operativen Tumorentfernung sein, denn es gibt Befunde, dass Carbamazepin und Phenytoin „provozierte (Früh-) Anfälle“ nach einer Kraniotomie oder einem Schädel-Hirn-Trauma reduzieren.
Welches Antikonvulsivum für Hirntumorpatienten?
Wenn im Zusammenhang mit dem Hirntumor erstmals epileptische Anfälle auftreten, stellt sich die Frage nach einem geeigneten Antikonvulsivum. Bei der Auswahl spielen unter anderem folgende Faktoren eine Rolle:
Das Antikonvulsivum sollte nicht mit einer gegebenenfalls notwendigen Chemotherapie interagieren. Die enzyminduzierende Wirkung von Carbamazepin (z.B. Tegretal®) und Phenytoin (z.B. Phenhydan®) kann hier problematisch sein. Inwieweit die Enzymhemmung durch Valproinsäure (z.B. Ergenyl®) bei Hirntumorpatienten relevant ist, ist unklar. Bei Gabapentin (z.B. Neurontin®), Lamotrigin (z.B. Lamictal®), Levetiracetam (Keppra®) und Topiramat (Topamax®) sind keine pharmakokinetischen Interaktionen mit der Chemotherapie zu erwarten.
Die Eindosierung sollte möglichst rasch erfolgen können. Das spricht gegen die Wahl von Carbamazepin (2–4 Wochen) oder Lamotrigin (6–9 Wochen). Bei Gabapentin, Levetiracetam, Phenytoin und Valproinsäure ist dagegen höchstens eine Woche zur Eindosierung erforderlich.
Das Antikonvulsivum sollte möglichst einfach zu handhaben sein (standardisierte Eindosierung, keine Notwendigkeit von Kontrolluntersuchungen). Dies ist bei Gabapentin, Levetiracetam und Topiramat gegeben, während vor allem Phenytoin in dieser Hinsicht Probleme bereitet.
Zur Wirksamkeit von Antikonvulsiva in dieser Situation gibt es wenig Daten. Zu Levetiracetam gibt es vier retrospektive Studien mit insgesamt 93 Patienten, die an primären Hirntumoren oder Hirnmetastasen litten. Unter der Mono- (n=14) oder Zusatztherapie (n=79) mit Levetiracetam erfuhren 83% der Patienten eine mindestens 50%ige Anfallsreduktion, 51% wurden anfallsfrei. Zu Gabapentin liegen zwei retrospektive Studien mit 64 Patienten (davon 50 Kinder) vor. Bei 80% wurden die Anfälle um mindestens 50% reduziert. Zu Topiramat gibt es eine prospektive Beobachtungsstudie mit 45 Patienten mit primären Hirntumoren. Auf die Zusatz- oder Monotherapie mit Topiramat sprachen 76% der Patienten an, 56% wurden anfallsfrei.
Unter Berücksichtigung von Pharmakokinetik, Verträglichkeit und Handhabbarkeit ist an der Universitäsklinik Bonn für Hirntumorpatienten mit neu aufgetretener Epilepsie Levetiracetam Mittel der ersten Wahl, alternativ werden Gabapentin, Lamotrigin, Topiramat oder Valproinsäure eingesetzt.
Blutungsrisiko unter Valproinsäure?
Valproinsäure erhöht bei Plasmaspiegeln über 100 µg/ml das Risiko für eine Thrombozytopenie und damit das Blutungsrisiko. Insgesamt ist das Risiko für Gerinnungsstörungen infolge einer Valproinsäure-Therapie allerdings nicht sehr hoch. Berichtet wird zum Beispiel, dass Gerinnungsstörungen bei 2% von Valproinsäure-behandelten Kindern klinisch manifest wurden und bei weiteren 2% im Zuge von präoperativen Kontrollen erkannt wurden.
Generell sollten Valproinsäure-Plasmaspiegel über 100 µg/ml vermieden werden. Solange die Patienten keine Symptome einer erhöhten Blutungsneigung aufweisen, sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Bei symptomatischen Patienten muss die Dosis reduziert oder Valproinsäure abgesetzt werden.
Vor epilepsiechirurgischen, also in der Regel elektiven Eingriffen wird eine umfassende Gerinnungsdiagnostik empfohlen (Thrombozytenzahl, Thrombelastogramm, aktivierte Prothrombinzeit [aPTT], Thrombinzeit, Fibrinogen, von-Willebrand-Faktor, Faktor XIII); alternativ sollte Valproinsäure abdosiert werden, sofern dies ohnehin geplant ist. Bei eiligeren operativen Eingriffen genügen einfache Gerinnungstests.
Therapie nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff?
Nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff wird die antikonvulsive Arzneimitteltherapie zunächst weitergeführt, nach Möglichkeit als Monotherapie mit einem Antiepileptikum, das bereits vor dem Eingriff genommen und vertragen wurde. Allgemein gelten auch hier die Auswahlkriterien gute Langzeitverträglichkeit, geringes Interaktionspotenzial und (bei Frauen im gebärfähigen Alter) geringes teratogenes Risiko.
Da der epilepsiechirurgische Eingriff meist mit kurativer Absicht durchgeführt wird, stellt sich die Frage, ob und wann das Antiepileptikum abgesetzt werden kann. Dies muss individuell entschieden werden, denn bei routinemäßigem Absetzen kommt es bei etwa einem Drittel der Patienten zum Rückfall. Für das Absetzen des Antiepileptikums spricht es, wenn eine umschriebene epileptogene Läsion vorlag, die vollständig reseziert werden konnte. Allerdings sollte man nach der Operation ein bis zwei Jahre abwarten, ehe das Antiepileptikum abgesetzt wird. Gegen ein Absetzen spricht, wenn postoperativ Auren oder epilepsietypische Potenziale auftreten oder die Epilepsie bereits lange bestanden hat.
Quelle
Priv.-Doz. Dr. med. Christoph Bien, Bonn, Satellitensymposium „Epilepsie und Morbus Parkinson – parenterale Therapieoptionen im OP und auf der Intensivstation“, veranstaltet von UCB im Rahmen der 25. Arbeitstagung für Neurologische Intensiv- und Notfallmedizin, Wiesbaden, 1. Februar 2008.
Psychopharmakotherapie 2008; 15(05)