Stefan Schwarz, Hans Leweling, Bernd-Udo Sagstetter, Mannheim, und Hans-Michael Meinck, Heidelberg
In den letzten 20 Jahren hat sich die Therapie der multiplen Sklerose (MS) entscheidend verbessert. Bis dahin gab es keine gut validierten kausalen Behandlungsmöglichkeiten. Heute stehen mehrere wirksame Therapien zur Verfügung. Der akute Schub wird mit hoch dosierten Glucocorticoiden behandelt [40]. Immunmodulatorische Medikamente (Beta-Interferone, Glatirameracetat, Natalizumab und Mitoxantron) reduzieren bei schubförmigem Verlauf die Frequenz der Schübe um rund 30% und verringern das Fortschreiten der Erkrankung [22]. Zurzeit sind zahlreiche vielversprechende Medikamente in der klinischen Erprobung, so dass für die nächsten Jahre eine Erweiterung des Therapieangebots erwartet werden kann.
Allerdings hat die konventionelle Therapie Grenzen. Eine Heilung kann nicht erwartet werden. Die Therapieeffekte sind zwar deutlich messbar, jedoch insgesamt mäßig [41]. Oft schreitet die Krankheit trotz aller Maßnahmen fort. Zahlreiche Symptome wie Lähmung, Inkontinenz, Tremor, kognitive Störungen oder Ataxie sind oft therapieresistent [112]. Bei manchen Patienten, insbesondere solchen mit chronisch progredientem Krankheitsverlauf, sind konventionelle Therapien oft wirkungslos. Aus diesen Gründen ist es gut verständlich, wenn Patienten mit multipler Sklerose komplementäre und alternative Therapien (KAT) einsetzen.
KAT werden in den westlichen Industrienationen immer beliebter. In Deutschland verwenden ungefähr 60% der Bevölkerung KAT, für die pro Jahr rund 9 Mrd. Euro ausgegeben werden [118]. Aus wissenschaftlicher Sicht muss gefordert werden, die Versprechungen der Anbieter durch geeignete Studien zu belegen. Nur in Einzelfällen (z.B. Cannabinoide) wird dies getan. Bei der Mehrzahl der KAT sind keine Ansätze erkennbar, klinische Studien durchzuführen. Ursachen sind einerseits die mangelnde Motivation der Anbieter, die häufig auch ohne wissenschaftlichen Wirkungsnachweis guten Profit machen, zum anderen aber auch fehlende Mittel, da öffentliche Institutionen die erheblichen Gelder für eine klinische Studie nicht zur Verfügung stellen und die pharmazeutische Industrie an den meisten Verfahren und Substanzen, die nur selten patentierbar sind, kein Interesse hat. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass – ähnlich wie bei Tumorerkrankungen – KAT sich weniger auf objektiv messbare Befunde der MS auswirken als auf die Selbstwahrnehmung, das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität [60]. Auch diese Wirksamkeitshypothesen müssen mit geeigneten Zielkriterien geprüft werden.
Definitionsgemäß werden KAT von der wissenschaftlichen Medizin nicht empfohlen. Unabhängig von der eigenen Einstellung zu alternativen Heilverfahren ist es für die Beratung von Patienten mit multipler Sklerose jedoch von Bedeutung, einen Überblick über die zahlreichen KAT zu haben, da einige Therapien durchaus pharmakologische Wirkungen sowie unerwünschte Wirkungen aufweisen und mit der konventionellen Therapie interagieren können. Es ist hier nicht möglich, auf alle KAT einzugehen, die von Patienten mit multipler Sklerose verwendet werden (Tab. 1). Ziel dieser Arbeit ist es, eine Übersicht über die Thematik zu geben und Therapien vorzustellen, die häufig verwendet werden oder über die wissenschaftliche Daten verfügbar sind.
Tab. 1. Auswahl unkonventioneller Therapien bei MS
Ernährung/Diät |
Ungesättigte Fettsäuren (Fischöl, Omega-3-Fettsäuren) Evers-Diät |
Vitamine/Mineralien/Antioxidanzien |
Selen |
Enzyme |
Wobenzym®, Wobe-Mucos® |
Verschiedenes |
Schlangentoxin (Kobratoxin) (Neuroperm®) SoWi (Sonja Wierk)-Therapie |
Phytotherapie |
Aromatherapie |
Andere Medizinsysteme |
Ayurveda ostasiatische Heilmethoden Homöopathie |
Physikalische Maßnahmen, Reflextherapien |
Krankengymnastik nach Vojta und Bobath |
Religiös motivierte und parapsychologische Verfahren |
Gebet |
Was sind „komplementäre und alternative Therapien“?
Eine allgemein akzeptierte Definition von KAT existiert nicht. Als alternativ wird eine Therapie bezeichnet, die als Ersatz zu konventionellen Verfahren gedacht ist. Dagegen versteht sich eine komplementäre Therapie nicht im Widerspruch, sondern als Ergänzung zur konventionellen Medizin. Die Grenzen zwischen KAT und schulmedizinischer Therapie sind nicht immer leicht zu ziehen [150]. Der wissenschaftliche Wirkungsnachweis ist kein stringentes Unterscheidungsmerkmal, da keineswegs alle schulmedizinischen Therapien wissenschaftlich gut belegt sind. Dies trifft vor allem für die symptomatische konventionelle Therapie der MS zu, die oft nicht durch heutigen Kriterien genügende wissenschaftliche Untersuchungen validiert ist [4]. So sind beispielsweise Effekte der physikalischen Therapie, obwohl sie allgemein empfohlen wird, bei MS kaum untersucht.
Wir benutzen die pragmatische Definition der CAM-Konsensus-Konferenz von 1995: “Complementary and alternative medicine (CAM) is a broad domain of healing resources … other than those intrinsic to the politically dominant health system of a particular society or culture in a given historical period … Boundaries within the CAM domain and that of the dominant system are not always sharp or fixed” [3]. Ob eine Therapie unkonventionell ist, wird nach dieser Begriffsbestimmung nicht objektiv, sondern von der Konvention des jeweils vorherrschenden Gesundheitssystems festgelegt.
Als repräsentativ für die gegenwärtige Definition der konventionellen Therapie gelten die Empfehlungen der Multiple- Sklerose-Therapie-Konsensus-Gruppe (MSTKG) zur symptomatischen und immunologischen Behandlung der MS [58, 102].
Häufigkeit und Bedeutung bei Patienten mit MS
KAT werden in den westlichen Industrienationen zunehmend eingesetzt. 1997 gaben in den USA 42% von 2055 befragten Personen der Allgemeinbevölkerung an, im letzten Jahr zumindest einmal KAT angewendet zu haben [38]. Die größte Erhebung bei MS-Patienten stammt aus einem US-amerikanischen Register mit 20778 MS-Patienten [78]. Insgesamt wurden 54% der Patienten mit einer unkonventionellen Therapie behandelt, am häufigsten von Chiropraktikern, Masseuren oder Ernährungstherapeuten. Obwohl Häufigkeit und Stellenwert von KAT stark von regionalen und kulturellen Gegebenheiten abhängen (so werden in den USA im Vergleich zu Europa häufiger Gebete eingesetzt [86]), stimmen Daten aus Erhebungen von verschiedenen Ländern darin überein, dass mehr als die Hälfte aller Patienten mit MS im Laufe ihrer Erkrankung KAT anwenden [8, 86, 106, 143]. In der größten europäischen Befragung zu diesem Thema bei 1573 MS-Patienten in Baden-Württemberg betrug die Rate der Verwendung von KAT 70% [108].
Die meisten Untersuchungen stimmen überein, dass ein Hauptmotiv der Patienten ist, nichts unversucht zu lassen und keine Chance zu verpassen [98, 108, 143]. Ein wichtiges Motiv ist auch, im Sinne einer Coping-Strategie mithilfe von KAT Eigeninitiative und Kontrolle über die Erkrankung zu erlangen [9, 143]. Generelles Misstrauen gegenüber der konventionellen Medizin spielt dagegen eine untergeordnete Rolle. Die meisten Patienten, die KAT verwenden, führen die Therapie in Eigenregie durch oder erhalten sie von praktischen Ärzten oder anderen Therapeuten, jedoch nur selten von Neurologen. Die behandelnden Neurologen erhalten häufig keine Kenntnis von der Anwendung von KAT [94, 98, 143]. Die Patienten geben hierfür unterschiedliche Gründe an [98]: Viele Patienten setzen eine negative Grundeinstellung oder Unkenntnis des Schulmediziners gegenüber unkonventionellen Verfahren voraus und vermeiden deshalb ein Gespräch über dieses Thema. Andere Patienten gaben an, dass sie beim Neurologen nicht genügend Redezeit hatten, um das Thema ansprechen zu können. So berichteten in unserer eigenen Befragung 52% der Patienten, dass das Aufklärungsgespräch über die Erkrankung insgesamt weniger als 15Minuten betragen habe [108].
Die große Mehrheit der Patienten berichtet einen positiven Therapieeffekt der KAT [8, 86, 94, 98, 114, 132, 143]. Bei einer Erkrankung mit einem individuell so variablen Spontanverlauf wie der MS haben positive Erfahrungsberichte unabhängig vom wissenschaftlichen Evidenzgrad der Methode aber nur eine äußerst eingeschränkte Aussagekraft, zudem Plazebo-kontrollierte Studien regelmäßig auch bei anscheinend rein „organischen“ Symptomen wie Spastik oder Gehfähigkeit einen erheblichen Plazebo-Effekt zeigen. Dies trifft in besonderem Maß für das Zielkriterium Schmerz zu, bei dem Plazebo-Effekte besonders ausgeprägt sind. Die positive Erwartung der Patienten spielt hierbei eine wesentliche Rolle, wie anhand von Studien zur Wirkung von Akupunktur bei Rückenschmerzen, die ganz oder zumindest weitgehend auf Plazebo-Effekten beruht, überzeugend demonstriert werden konnte [75].
Nebenwirkungen von KAT werden selten berichtet [94, 143]. Dies steht im Gegensatz zu den konventionellen immunmodulatorischen Therapien, die eine hohe Rate unerwünschter Wirkungen aufweisen, die zudem oft als schwerwiegend empfunden werden [108, 139]. Dagegen sind die Therapieeffekte der konventionellen Medizin subjektiv oft nicht erlebbar: Der Patient nimmt wahr, dass die Krankheit trotz Therapie fortschreitet, während die in Studien belegte und im Vergleich zum Spontanverlauf deutliche Verminderung der Krankheitsaktivität nicht erlebt wird und im Einzelfall ja auch ausbleiben kann [27]. So ist es nicht verwunderlich, dass die subjektive Lebensqualität unter einer Interferon-Therapie abnehmen kann, obwohl der Nutzen objektiv unumstritten ist [115].
Die häufig mangelhafte Aufklärung der behandelnden Ärzte in Verbindung mit nicht unmittelbar wahrnehmbaren positiven Effekten der konventionellen Therapie bildet somit die Basis für die Häufigkeit der Verwendung alternativer Verfahren.
Von welchen Therapien muss abgeraten werden?
Definitionsgemäß können KAT aus wissenschaftlicher Sicht nicht empfohlen werden. Nach aller Erfahrung ist es allerdings weder erfolgversprechend noch hilfreich, einem Patienten, der von der Wirkung einer KAT überzeugt ist, aktiv abzuraten, solange die wissenschaftlich indizierte Therapie dadurch nicht beeinträchtigt wird. Angesichts des belegten Nutzens der zugelassenen Immuntherapien ist es aber nicht vertretbar, einem Patienten KAT anstelle von konventioneller Therapie zu empfehlen, solange die wissenschaftlich fundierten Therapiemöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind.
Daten zur Sicherheit der KAT sind kaum verfügbar. Von Patienten und Anbietern werden KAT üblicherweise als harmlos angesehen. Dieses Vorurteil kann nicht mehr aufrechterhalten werden, nachdem sich Berichte über Nebenwirkungen von Phytotherapeutika häuften [39] und große Studien gezeigt haben, dass selbst von generell als ungefährlich betrachteten Vitaminen, Multivitaminpräparaten oder Mineralien bei langfristiger Anwendung als Nahrungsergänzungsmittel negative Effekte zu erwarten sind [5, 17, 123]. Bei MS gibt es in der Tat nur vereinzelt Fallberichte über relevante Nebenwirkungen von KAT [43]. Abschätzungen über die Dunkelziffer nicht erkannter oder berichteter Nebenwirkungen von KAT sind uns nicht bekannt. Es kann angenommen werden, dass die Anbieter von KAT unerwünschte Nebenwirkungen meist nicht publizieren. Bei einer Erkrankung mit einer so hohen inter- und intraindividuellen Variabilität des Krankheitsverlaufs wie der MS sind im Einzelfall unerwünschte Wirkungen auf den Krankheitsverlauf schwer nachweisbar, was selbstverständlich auch für die positive Wirkung gilt. Aus diesem Grund sind gerade bei MS positive Erfahrungsberichte einzelner Patienten mit größter Vorsicht zu interpretieren, zudem auch bei dieser Erkrankung massive Plazebo-Effekte bekannt sind [147].
Manche Autoren versuchten, KAT nach ihrer Wirkung zu kategorisieren, beispielsweise in „potenziell günstig“, „nicht schädlich“ und „gefährlich und unwirksam“ [142]. Diese Einteilungen beruhen weitgehend auf subjektiver Einschätzung. Ebenso wenig wie der Nutzen einzelner KAT bewiesen ist, ist ihre Unwirksamkeit oder Gefährlichkeit gesichert. Über fast alle Phytotherapeutika, physiotherapeutische, homöopathische und anthroposophischen Therapieansätze, Diäten und Nahrungsergänzungsmittel – also den Großteil der KAT – sind nur spärliche oder gar keine wissenschaftlichen Daten verfügbar.
Viele KAT sind teuer. So kostet – ein Beispiel unter vielen – der von der Firma Seviton für MS-Patienten vorgeschlagene Jahresbedarf an diversen Nahrungsergänzungsmitteln 1795,52 Euro – deutlich mehr als ein durchschnittliches Monatseinkommen [2]. Der hohe Preis hält viele Patienten nicht ab, aufgrund unbewiesener Versprechungen diese und noch weit höhere Summen auszugeben, was in Einzelfällen bis zum finanziellen Ruin der finanziell oft nicht gut gestellten chronisch Kranken führen kann. Neben dem ernsthaften Wunsch vieler Anbieter von KAT, den Patienten eine zusätzliche Behandlung anzubieten, sind leider Geschäftemacherei und Profitgier gelegentlich unverkennbare Motive – unter Ausnutzung der Verzweiflung schwer kranker Menschen, die bereit sind, jeden Strohhalm zu ergreifen. Gemessen an den niedrigen Herstellungskosten vieler Substanzen sind die Preise und damit die Gewinnspanne bei KAT oft unverhältnismäßig hoch, was von vielen Patienten aber klaglos hingenommen wird.
Die Auswirkungen von KAT auf die Lebensqualität sind schwer einzuschätzen. Manche KAT, beispielsweise bestimmte komplexe Diätvorschriften, sind nicht nur aufwendig und teuer, sondern beeinflussen auch die Lebensweise und den Tagesablauf der Patienten erheblich. Dies wird oft nicht als belastend, sondern im Gegenteil als stabilisierend erlebt, können die Patienten sich doch bei der Durchführung dieser Therapien aktiv um ihre Gesundheit kümmern und dem Gefühl entgegenwirken, der Krankheit hilflos ausgeliefert zu sein.
Die meisten KAT gelten in Deutschland als Nahrungsergänzungsmittel und fallen damit nicht unter das Arzneimittelgesetz. Sie sind frei verkäuflich, unterliegen keinen Qualitätskontrollen und benötigen vor der Vermarktung keinen Wirksamkeitsnachweis. Substanzen, die in Apotheken, Supermärkten oder frei verkauft werden, gelten im Allgemeinen als unbedenklich, obwohl sowohl die Qualität des Produkts als auch mögliche Verunreinigungen kaum überprüfbar sind. Für einzelne Substanzen (z.B. Vitamine A, E, D) sind Höchstmengen vorgeschrieben. Abzuraten ist von Käufen im Internet, vor allem von ausländischen Quellen oder wenn die Quelle nicht genau bekannt ist. Ebenfalls abgeraten werden sollte von KAT, von denen entweder schon Berichte über Komplikationen vorliegen, deren Unwirksamkeit nachgewiesen ist, die schmerzhaft oder aufgrund pathophysiologischer Überlegungen gefährlich sind.
Die parenterale Zufuhr von Medikamenten ungewisser Wirkung ist wegen der Gefahr einer nicht vorhersehbaren Immunreaktion äußerst problematisch. Dies trifft insbesondere auf die Frischzellentherapie zu, von der lebensgefährliche allergische Komplikationen und zumindest ein Fall einer tödlichen autoimmunen Enzephalomyelitis bekannt sind [48]. Zu erwähnen ist hier auch die gelegentlich bei Ataxie praktizierte Injektion verdünnter Cerebellumextrakte. Berichte über Komplikationen nach Cerebellumextrakt-Injektionen existieren allerdings nicht. Nach parenteraler Anwendung von Pflanzenextrakten in homöopathischer Dosierung wurden zwei Fälle einer autoimmunen disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) beschrieben [107].
Generell abzuraten ist auch von unspezifisch immunstimulierenden Medikamenten. Diese Präparate sind zum Teil frei verkäuflich. Dies betrifft vor allem Echinacea-Produkte, die als am häufigsten verwendete Phytotherapeutika meist zur Infektabwehr eingesetzt werden. Immunstimulierende Wirkungen von Echinacea sind in vitro nachgewiesen [103]. Deshalb führen die Hersteller vieler Echinacea-Produkte multiple Sklerose als Kontraindikation auf. Es gibt allerdings keine Daten aus klinischen Studien, die einen Zusammenhang zwischen Exazerbationen der MS und dem Konsum oraler Echinacea-Produkte belegen.
Diskussion einzelner komplementärer und alternativer Therapien
Im Folgenden diskutieren wir auf der Basis der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz eine Auswahl häufig verwendeter KAT zur Therapie der MS und versuchen, praktische Empfehlungen zu geben. Es ergibt sich von selbst, dass für keine Therapie aus wissenschaftlicher Sicht eine ausdrückliche Empfehlung gegeben werden kann.
Ungesättigte Fettsäuren und Fischöl
Theoretischer Hintergrund. Epidemiologische Untersuchungen deuten auf einen Zusammenhang der MS-Inzidenz mit dem Konsum gesättigter Fette tierischer Herkunft hin [73]. In Tierexperimenten wurden bei der MS potenziell günstige immunmodulatorische und antiinflammatorische Effekte mehrfach ungesättigter Fettsäuren, vor allem der Omega-3-Fettsäuren, beobachtet [23, 53]. Aus den essenziellen Fettsäuren a-Linolensäure (ω-3) und Linolsäure (ω-6) werden weitere Fettsäuren gebildet, die Vorstufen verschiedener Leukotriene und Prostaglandine sind. Diese Vorgänge sind komplex und unterliegen zahlreichen Regelmechanismen [24, 54]. Die traditionelle Vorstellung, Omega-3-Fettsäuren (z.B. im Fischöl) wirkten „anti-inflammatorisch“ und Omega-6-Fettsäuren (z.B. Arachidonsäure) „pro-inflammatorisch“, ist nur teilweise richtig und vereinfacht die komplexen Regelmechanismen stark [54]. Das optimale Mengenverhältnis von Omega-3- zu Omega-6-Fettsäuren in der Nahrung wird mit etwa 1:5 angegeben. In den westlichen Industrienationen ist dieses Verhältnis zugunsten der Omega-6-Fettsäuren verschoben (1:15 bis 1:19).
Studienlage. In Tiermodellen der MS ist Linolsäure wirksam, die wichtigste Omega-6-Fettsäure (z.B. in Sonnenblumenöl) [31, 55, 56, 80]. Neben epidemiologischen Befunden bildete dies die Basis für drei kleine Therapiestudien mit Linolsäure [13, 82, 95]. In keiner Studie konnten günstige Effekte auf Schubrate oder Grad der Behinderung gezeigt werden. Eine Metaanalyse ergab allerdings insbesondere für die Untergruppe der gering behinderten Patienten ein signifikant positives Ergebnis [37]. Größere Studien mit Linolsäure wurden – vermutlich wegen des fehlenden kommerziellen Potenzials – nie durchgeführt. Eine Studie mit Nachtkerzenöl (evening primrose), das reich an Gamma-Linolensäure (ω-6) ist, zeigte keine positiven Effekte [13].
Im Vergleich mit Omega-6- sind Omega-3-Fettsäuren (z.B. Fischöl) bei MS weniger untersucht, und die Resultate sind uneinheitlich [53]. In der Nurses’ Health Study war kein Zusammenhang zwischen Inzidenz der Erkrankung und Konsum von Omega-3-Fettsäuren erkennbar [149]. Zwei kleine Pilotstudien [49, 89] suggerieren positive Effekte von Omega-3-Fettsäuren auf den Krankheitsverlauf der MS. Die größte und methodisch beste kontrollierte Studie bei 292 Patienten [12] ergab positive Trends, aber keine signifikanten Unterschiede zwischen Fischöl und Plazebo.
Beurteilung und Empfehlung
Der Nutzen ungesättigter Fettsäuren bei MS ist trotz Hinweisen aus epidemiologischen und experimentellen Studien ungesichert [122]. Eine große kontrollierte Studie ist dringend erforderlich. Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, den Konsum gesättigter Fette einzuschränken und ein bis zwei Fischmahlzeiten pro Woche zu konsumieren, ist schon aufgrund der kardiovaskulär protektiven Wirkungen der Omega-3-Fettsäuren gerechtfertigt [1]. Für die zusätzliche Einnahme von Fischölen oder anderen Fettsäurepräparaten gibt es keine Evidenz. Nachtkerzenöl ist wahrscheinlich wirkungslos und sollte nicht empfohlen werden. Patienten, die zusätzlich Omega-3-Fettsäuren aus Fischöl einnehmen möchten, sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass hohe Dosen (>3 g/d) Nebenwirkungen (u.a. Blutungskomplikationen, Fischgeruch, herabgesetzte Glucosetoleranz, Durchfall, Übelkeit) hervorrufen können [72]. Deswegen sollte eine hoch dosierte Therapie mit Omega-3-Fettsäuren unter ärztlicher Kontrolle erfolgen, vor allem bei Diabetikern und Patienten, die Antikoagulanzien einnehmen. Leinöl, eine pflanzliche Quelle von Omega-3-Fettsäuren, hat einen schlechten Geschmack und kann bei hohen Mengen (>45 g/d) Durchfall verursachen.
Vitamin D und Calcium
Theoretischer Hintergrund. Seit Jahren wird wegen der Zunahme der MS-Inzidenz mit der Entfernung vom Äquator über Zusammenhänge der geografischen Verteilung der MS mit der Sonnenlichtexposition und dem Vitamin-D-Haushalt spekuliert [33]. Ein kausaler Zusammenhang ist bisher nicht bewiesen.
Vitamin D beeinflusst das Immunsystem auf vielfältige Weise [25, 57, 133]. Im Tiermodell mildert oder verhindert eine Behandlung mit Vitamin D die Symptome der EAE (experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis, Tiermodell der MS) [26, 85].
Die prospektive US-amerikanische Nurses’ Health Study [84] unterstützt die Vermutung, dass Vitamin D vor der Entwicklung einer MS schützt: Die Frauen, die Vitamin-D-Präparate einnahmen, hatten ein um 40% geringeres Erkrankungsrisiko. Informationen über mögliche Effekte einer Vitamin-D-Therapie bei bereits manifester MS enthält diese Studie nicht.
Studienlage. In einer kleinen unkontrollierten Studie (n=11) wurde eine Reduktion der Schubfrequenz unter einer Therapie mit Calcium- und Magnesiumsalzen sowie Fischleber mit einer hohen Konzentration an Vitamin D berichtet [49]. Eine methodisch bessere, MRT-kontrollierte, ebenfalls kleine Pilotstudie zeigte allerdings keine Vorteile einer Therapie mit Vitamin D [44].
Osteoporose als Komplikation chronischen Vitamin-D-Mangels ist eine bei MS-Patienten häufige, unterdiagnostizierte und unterbehandelte Komplikation [59, 88, 111, 113, 119]. Neben zu geringer Zufuhr von Calcium und Vitamin D führen Inaktivität und Glucocorticoid-Therapien zu der hohen Rate der Osteoporose [34, 59, 111]. Ob Vitamin D und Calcium jedoch die Inzidenz von Osteoporose senken können, ist unklar. Bei postmenopausalen Frauen bringt diese Therapie keinen oder allenfalls einen geringen Vorteil [128].
Vitamin D kann Nebenwirkungen in Folge einer Hyperkalzämie (z. B. Herzrhythmusstörungen, Adynamie) verursachen. Diese Gefahr besteht bei Einnahme sehr hoher Mengen Vitamin D (>1000 µg/d). Mengen ≤100 µg/d, wie sie in den gängigen frei verkäuflichen Vitaminpräparaten enthalten sind, sind unproblematisch [134].
Beurteilung und Empfehlung
Über diätetische Empfehlungen hinaus wird trotz fehlendem Wirkungsnachweis die Indikation zu einer Osteoporoseprophylaxe mit Vitamin D und Calcium bei MS-Patienten weit gestellt, insbesondere nach wiederholter Glucocorticoid-Therapie. Ob der Krankheitsverlauf durch Vitamin D günstig beeinflusst wird, ist unsicher. Mögliche Kontraindikationen einer Therapie mit Vitamin D und Calcium müssen bei Einnahme hoher Dosen überprüft werden.
Entfernung von Amalgamfüllungen
Theoretischer Hintergrund. Quecksilber, vor allem in organischen Verbindungen, aber auch metallisches Quecksilber wie es in Amalgam vorliegt, wirkt neurotoxisch. Aufgrund dieser Tatsache wurden zahlreiche neurologische Erkrankungen, unter anderem die MS, mit chronischer Quecksilberexposition in Verbindung gebracht. Die wissenschaftliche Debatte wurde (und wird vereinzelt immer noch) aus schwer nachvollziehbaren Gründen sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Quecksilberhypothese mit ideologischer Verve geführt.
Studienlage. Ein Zusammenhang zwischen Quecksilberexposition und multipler Sklerose wurde bisher nicht bewiesen [6, 28]. Das Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks der Europächen Gemeinschaft stellte fest, dass von Amalgamfüllungen nach heutigem Kenntnisstand kein Risiko für systemische Erkrankungen ausgeht [110a]. Valide wissenschaftliche Studien, die den Einfluss einer Amalgamentfernung und assoziierter „Detoxifizierungs“-Methoden auf den Verlauf der MS untersuchen, liegen nicht vor. Trotzdem folgen viele Patienten den auf Spekulationen basierenden Versprechungen und lassen ihre Amalgamfüllungen entfernen. In einer eigenen Untersuchung gaben 29% der Befragten an, sich wegen der MS Amalgam entfernt haben zu lassen [108].
Beurteilung und Empfehlung
Die Entfernung von Amalgamplomben zur Behandlung der MS ist nicht gerechtfertigt, zumal bei der Entfernung des Amalgams besonders hohe Mengen metallischen Quecksilbers freigesetzt werden [83, 145]. Die Amalgamentfernung mit der Konsequenz einer Gold-, Keramikinlay- oder Kronenversorgung wie auch diverse „Detoxifizierungen“ sind manchmal aufwendig und schmerzhaft, aber immer kostspielig, was diese Behandlung für die Anbieter finanziell sehr lukrativ macht. Folgerichtig haben sich einige Praxen und „Institute“ auf diese Behandlungen spezialisiert. Von der Entfernung von Amalgamplomben zur Behandlung der MS sollte abgeraten werden.
Vitamin B12
Theoretischer Hintergrund. Beziehungen zwischen Vitamin B12 und MS werden seit über 50 Jahren vermutet [91, 117]. Vitamin B12 ist für die Bildung von Myelin notwendig [105]. Vitamin-B12-Mangel und MS haben einige gemeinsame klinische und kernspintomographische Charakteristika [46], was als Hinweis auf eine kausale Mitbeteiligung von Vitamin-B12-Mangel bei der MS aufgefasst wurde [99]. Mehrfach wurde eine hohe Prävalenz von Vitamin-B12-Mangel bei Patienten mit MS berichtet [74, 99–101, 116]. Bei den meisten Patienten liegt jedoch kein Vitamin-B12-Mangel vor [50].
Studienlage. Eine Hochdosistherapie mit Vitamin B12 über sechs Monate bei sechs schwer betroffenen Patienten mit chronisch progredienter MS führte zu keiner klinischen Besserung [69]. Wade et al. [138] fanden in einer Plazebo-kontrollierten Studie an 138 Patienten eine geringe, nicht signifikante Befundbesserung unter einer hoch dosierten parenteralen Behandlung mit Vitamin B12 (zusammen mit Lofepramin und L-Phenylalanin).
Beurteilung und Empfehlung
Für eine Behandlung mit Vitamin B12 gibt es bei MS keine rationale Basis – es sei denn zum Ausgleich eines Vitaminmangels. Aufgrund der Häufigkeit eines Vitamin-B12-Mangels sollten bei suspekten Symptomen Untersuchungen der Serumkonzentration durchgeführt werden, da das klinische Bild des Vitamin-B12-Mangels leicht von Symptomen der MS maskiert oder imitiert werden kann [46].
Selen
Theoretischer Hintergrund. Für die Pathophysiologie der MS spielen oxidative Prozesse eine wesentliche Rolle [47]. Theoretisch könnte deswegen Selen, ein potentes Antioxidans, günstige Effekte auf den Krankheitsverlauf haben. Selenmangel ist bei Patienten mit MS wiederholt diskutiert worden. Es ist aber keinesfalls gesichert, dass Selenmangel bei MS tatsächlich ein klinisch relevantes Problem darstellt: Untersuchungen bei Patienten ergaben divergierende Ergebnisse, was unter anderem an der Problematik der Selenbestimmung im Blut liegt. Zudem ist der Selen-Spiegel im Blut kein gut geeignetes Maß für die Selenaktivität im Nervensystem [64, 79, 120, 141].
Studienlage. In einer kleinen Therapiestudie mit Selen, Vitamin C und Vitamin E erhöhte sich die Aktivität der Glutathionperoxidase in verschiedenen Blutzellen der behandelten Patienten [63]. Ein günstiger Effekt auf den Krankheitsverlauf war nicht erkennbar.
Beurteilung und Empfehlung
Trotz nachvollziehbarer theoretischer Überlegungen liegen keine klinischen Daten vor, die den Einsatz von Selen bei MS rechtfertigen. Der Patient, der Selen einnehmen möchte, sollte auf die empfohlene Höchstdosis von 400 µg/Tag hingewiesen werden, da bei Überdosierungen des potenziell toxischen Materials Nebenwirkungen wie Brüchigkeit von Haaren und Nägeln, Abgeschlagenheit, Schäden am Nervensystem und der Leber sowie gastrointestinale Störungen auftreten können. Neuere Ergebnisse deuten zudem darauf hin, dass hohe Dosen Selen das Auftreten von Diabetes mellitus begünstigen [123].
Antioxidative Vitamine und Substanzen
Theoretischer Hintergrund. Wie bei Selen gilt, dass oxidative Prozesse eine wesentliche Rolle in der Pathophysiologie der MS spielen, denen mit antioxidativen Substanzen entgegengewirkt werden soll [47].
Studienlage. Epidemiologische Studien zeigten keinen sicheren Zusammenhang zwischen Vitamin E und MS-Inzidenz [7, 16, 51, 65, 148]. Neben den Vitaminen A, C, und E werden eine Vielzahl antioxidativ wirksamer Substanzen von MS-Patienten eingenommen, unter anderem Coenzym Q, Alpha-Liponsäure oder Anthocyane (z.B. Rotwein- und Traubenextrakte). Ihre Wirksamkeit auf den Krankheitsverlauf der MS ist spekulativ.
Beurteilung und Empfehlung
Ein Einfluss antioxidativer Vitamine auf die MS ist nicht belegt. Die meisten Substanzen wurden nie bei MS untersucht. Die Supplementierung mit den Vitaminen A, C, und E ist ungefährlich, wenn die empfohlenen Höchstmengen nicht überschritten werden. Schwangere sollten keine Vitamin-A-haltigen Präparate einnehmen. Valide klinische Studien, die positive Effekte dieser Vitamine auf den Verlauf der MS belegen würden, existieren nicht. Da einige Antioxidanzien immunstimulierende Wirkungen haben, sind theoretisch auch negative Effekte möglich [18]. Deswegen sollte von diesen Substanzen bei MS abgeraten werden.
Enzymtherapie (Wobenzym® Mono, Wobenzym® N, Wobe-Mucos® NEM )
Theoretischer Hintergrund. Bei Wobenzym® Mono, handelt es sich um ein Arzneimittel, das pro Tablette als Wirkstoff 800 FIP-E. des Enzyms Bromelain enthält und für die Indikation akute Schwellungszustände nach Operationen und Verletzungen, insbesondere der Nase und Nasennebenhöhlen, bestimmt ist. Das ebenfalls von der Firma Mucos in den Verkehr gebrachte Fertigarzneimittel Wobenzym® N enthält pro Dragee 225 FIP-E. Bromelain, 100 mg Pankreas-Pulver vom Schwein (entsprechend einer Protease-Aktivität von 300 FIP-E.), 24 mg Trypsin (Schwein), 1 mg Chymotrypsin, 60 mg Papain (= 14 FIP-E.) sowie 50 mg Rutosid-3-Hydrat. Die Gesamt-Proteasen-Aktivität beträgt 940 FIP-E. Als Anwendungsgebiete für Wobenzym® N sind Venenentzündung (Thrombophlebitis) und Entzündungen im HNO-Bereich, wie Nebenhöhlenentzündungen, der Atmungsorgane wie Bronchitis, bei rheumatischen Erkrankungen, nach Verletzungen wie Prellungen, Zerrungen, Verstauchungen angegeben. Die beiden genannten Arzneimittel sind apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtig.
Bei Wobe-Mucos® NEM hingegen handelt es sich nicht um ein Arzneimittel, sondern um ein Nahrungsergänzungsmittel, das pro Tablette 246 FIP-E. Papain, 48 mg Trypsin, 40 mg Chymotrypsin und 8 µg Natriumselenit enthält. Da für Nahrungsergänzungsmittel keine Angaben zu einer beabsichtigten Heilwirkung gemacht werden dürfen, empfiehlt der Hersteller Wobe-Mucos® NEM zur Unterstützung für ein ausgeglichenes Immunsystem.
Wie dargestellt, ist keines der genannten Mittel zur Behandlung der MS zugelassen. Aufgrund der Molekülgröße erscheint es unwahrscheinlich, dass die Enzyme unter physiologischen Verhältnissen die Mukosabarriere des Darms überwinden können, um dann eine systemische Wirkung auszuüben.
Studienlage. Einige Einzelfallbeobachtungen und eine experimentelle Studie bei einem Mausmodell der MS legten eine positive Wirkung bei MS nahe. In einer von der Firma Mucos gesponsorten, Plazebo-kontrollierten Studie mit oral einzunehmenden hydrolytischen Enzymen bei 301 Patienten mit schubförmiger MS konnten aber keine positiven Effekte nachgewiesen werden [14].
Beurteilung und Empfehlung
Weder Evidenz aus einer validen klinischen Studie noch theoretische Überlegungen sprechen für den Einsatz dieser Enzyme. Die Therapie ist vermutlich harmlos, wenn auch aufgrund des möglichen erhöhten Abbaus von Fibrin und anderen Gerinnungsfaktoren bei der gleichzeitigen Gabe von proteolytischen Enzymen und oralen Antikoagulanzien eine verstärkte Blutungsneigung nicht ausgeschlossen werden kann. Bei MS sind die Präparate vermutlich wirkungslos.
Ginkgo biloba
Theoretischer Hintergrund. Kognitive Defizite, entweder isoliert oder in Verbindung mit einem chronischen Erschöpfungs-(Fatigue-)Syndrom, sind bei Patienten mit MS häufig. Wirksame konventionelle Therapien kognitiver Störungen bei MS stehen bislang nicht zur Verfügung. Extrakte aus Bestandteilen des Ginkgo-Baums werden seit Jahrhunderten zur Verbesserung der zerebralen Leistungsfähigkeit eingesetzt. Antioxidative Effekte und rheologische Auswirkungen von Ginkgoextrakten sind gut dokumentiert [36]. Die Wirkung bei Demenz ist aus wissenschaftlicher Sicht, entgegen anderslautenden Werbebotschaften der Hersteller, die mit diesen Medikamenten hohe Umsätze erzielen, umstritten [140].
Studienlage. Nachdem eine kleine Pilotstudie mäßige Effekte auf einen kleineren Teil der untersuchten kognitiven Zielparameter nachgewiesen hatte [67], fand eine größere und reliable (randomisierte und doppelblinde) Studie keinerlei Hinweise auf positive Effekte von Ginkgoextrakt auf kognitve Funktionen bei Patienten mit MS [76]. Bei akuter Exazerbation zeigte ein Ginkgoextrakt in einer älteren Studie ebenfalls keine Wirkung [20].
Beurteilung und Empfehlung
Eine wissenschaftlich hochwertige Phase-III-Studie ergab keinen Hinweis auf Verbesserung kognitiver Parameter bei MS-Patienten durch Ginkgoextrakte. Die Therapie ist nebenwirkungsarm. Eine Zunahme der Blutungsneigung, vor allem bei gleichzeitiger Einnahme von Antikoagulanzien, wird diskutiert. Vor der Einnahme von Substanzen zur Behandlung kognitiver Defizite sollte eine ausführliche neurologisch-psychiatrische Untersuchung erfolgen.
Cannabinoide
Theoretischer Hintergrund. Die Physiologie des Cannabinoidsystems beim Menschen ist erst ansatzweise verstanden. Neben psychotropen Effekten sind Auswirkungen auf das Immunsystem, die Verarbeitung von Schmerzen und die extrapyramidale Kontrolle von Bewegungsabläufen bekannt. Anerkannt ist die Wirksamkeit von Cannabinoiden zur Appetitstimulation bei Tumorkachexie und AIDS sowie bei Chemotherapie-induziertem Erbrechen. Cannabinoide vermitteln über CB1-Rezeptoren im Gehirn und CB2-Rezeptoren an Zellen des Immunsystems vielfältige Wirkungen, die sich auf Symptome und Verlauf der MS auswirken könnten.
Cannabis wird von MS-Patienten häufig eingenommen. Bis zu 37% der befragten Patienten haben Cannabis aus therapeutischen Gründen eingesetzt, meist illegal [29, 30, 93, 121]. In der Hanfpflanze finden sich zahlreiche Cannabinoide, die am stärksten konzentrierte Wirksubstanz ist Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol). Vom illegalen Konsum von pflanzlichem Cannabis zu medizinischen Zwecken muss – ganz abgesehen von deliktischen Aspekten – bereits wegen des stark wechselnden Wirkstoffgehalts in den Pflanzenbestandteilen abgeraten werden.
Insgesamt ist das Nebenwirkungsprofil günstig [52]. Bei therapeutischer Anwendung sind bisher keine bleibenden Gesundheitsschäden bekannt. Für die therapeutische Anwendung relevant sind insbesondere unerwünschte sedierende Effekte und Veränderungen des Affekts [68, 130]. In Einzelfällen kann auch bei therapeutischer Anwendung eine akute, reversible Psychose provoziert werden [66, 68]. Abhängigkeit ist bei therapeutischer Anwendung bisher nicht zum Problem geworden. Nach Einschätzung der US-amerkanischen Drug Enforcement Administration ist das Abhängigkeitspotenzial von Dronabinol® eher dem von Codein als dem von Morphin vergleichbar.
Cannabinoide sind beim Tiermodell der MS, der EAE, wirksam [77, 97, 144]. Experimentelle Befunde sprechen für die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei Spastik und Tremor [10, 35].
Studienlage. Methodische Probleme limitieren die Aussagekraft vieler klinischer Studien mit Cannabinoiden. Die meisten Studien sind klein, und ihre Bewertungskriterien beruhen auf der Selbsteinschätzung der Patienten. Aufgrund der individuell unterschiedlichen Pharmakokinetik ist eine fixe Dosierung nicht sinnvoll. In manchen Studien wurden Reinsubstanzen (meist Dronabinol), in anderen verschiedene Wirkstoffe oder Pflanzenextrakte verwendet. Die klare Trennung von psychischen und somatischen Wirkungen ist bei Symptomen wie Schmerz oder dem allgemeinem Befinden unmöglich. Eine echte Verblindung ist kaum zu realisieren. Ausgeprägte Plazebo-Effekte sind bei Cannabis wegen des positiven Vorurteils vieler Patienten unvermeidlich.
Einzelberichte und kleine Fallserien wiesen auf positive Auswirkungen von Cannabinoiden auf die Spastik bei MS hin [19, 96, 137]. Zwei kleine randomisierte Studien ergaben aber keine Änderung der Spastik mit Cannabinoiden [68, 131]. Die bislang größte und methodisch ausgefeilteste Studie über Cannabinoide bei MS, die CAMS-Studie, untersuchte bei 667 Patienten randomisiert und doppelblind die Effektivität eines oralen Cannabisextraktes, reinem Dronabinol und Plazebo auf Spastik und andere Symptome der MS [146]. Die Spastik blieb, gemessen an neurologischen Skalen, unverändert. Allerdings vergrößerte sich unter Verum die Gehstrecke, und es trat eine subjektive Verbesserung von Schmerz, Schlaf, Muskelspasmen und Spastik ein. Wesentliche Nebenwirkungen waren nicht erkennbar. Die Plazebo-Effekte waren enorm. Für zahlreiche Parameter gaben ungefähr 30 % der Patienten der Plazebo-Gruppe eine Besserung an. Insgesamt bestätigt die CAMS-Studie Ergebnisse früherer Untersuchungen, dass Cannabinoide nicht zu einer objektiven Besserung der Spastik führen, aber das subjektive Empfinden der Patienten, insbesondere die Schmerzwahrnehmung, positiv beeinflussen. Daneben bestätigt die Studie die Relevanz von Plazebo-Effekten bei Symptomen der MS, was die Selbstbeurteilung der Patienten wenig zuverlässig macht.
In Bezug auf Tremor fand entgegen einzelnen positiven Berichten [32, 81] eine kleine, aber methodisch gut strukturierte Studie keine Besserung mit Cannabinoiden [45]. Günstige Auswirkungen auf MS-assoziierte Schmerzen wurden in weiteren aktuellen Studien berichtet [61, 90, 104, 124, 135, 136]. Diese Studien wurden überwiegend mit dem Fertigarzneimittel Sativex® durchgeführt. Das in Kanada im Verkehr befindliche Sativex® wurde von der britischen Firma GW Pharmaceuticals in Zusammenarbeit mit Bayer Deutschland entwickelt. Die Lösung wird als Spray sublingual oder auf die Wangenschleimhaut appliziert. Der Spray enthält zwei Wirkstoffe aus Cannabis sativa L.: Tetranabinex® und Nabidiolex®; ein Sprühstoß enthält 2,7 mg Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und 2,5 mg Cannabidiol (CBD). Die positiven Ergebnisse führten in Kanada zur Zulassung von Sativex® bei „neuropathischem Schmerz“ des erwachsenen MS-Patienten [11]. Die Indikation „neuropathischer Schmerz“ bei MS ist an sich schon problematisch, da die Ursachen von Schmerzen bei MS sehr heterogen und keinesfalls immer leicht festzulegen sind. Ein Antrag des pharmazeutischen Unternehmers auf Zulassung von Sativex® in Großbritannien wurde dort 2003 gestellt, von der britischen Zulassungsbehörde jedoch, wegen der nicht ausreichenden Datenlage zum klinischen Wirksamkeitsnachweis, zurückgewiesen. Ein erneutes Antragsersuchen im Mai 2005 verlief ebenfalls erfolglos. Gegenwärtig bemüht man sich um weitere Arbeiten, um die Zulassung zu erreichen.
Marinol® ist in den USA in Form von Weichgelatinekapseln im Verkehr, die 2,5 mg, 5 mg oder 10 mg Dronabinol, gelöst in Sesamöl enthalten. Das Fertigarzneimittel ist kühl aufzubewahren (4–8°C). Zugelassen ist Marinol® in den USA zur Behandlung der Appetitlosigkeit in Verbindung mit Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten und zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen aufgrund einer zytostatischen Chemotherapie, wenn eine konventionelle antiemetische Therapie versagt hat. Die Kosten (UVP) belaufen sich auf rund 540 Euro für 60 Kapseln zu 2,5 mg und auf rund 1700 Euro für 60 Kapseln zu 10 mg.
Langfristige immunmodulatorische Effekte von Cannabinoiden und ihr Einfluss auf den Krankheitsverlauf sind hypothetisch und wurden bislang bei MS-Patienten nicht untersucht. Prinzipiell sind sowohl negative als auch positive Auswirkungen denkbar.
Beurteilung und Empfehlung
Neben pathophysiologischen Überlegungen und experimentellen Ergebnissen deuten klinische Studien günstige subjektive Effekte von Cannabinoiden auf Spastik, Schmerzen und andere Symptome der MS an. Die Mehrzahl der Patienten berichtet durch Cannabinoide eine Verbesserung des Allgemeinbefindens. Vermutlich gehen die positiven Wirkungen von Cannabis bei MS hauptsächlich auf psychotrope Effekte zurück. In Kanada ist das Fertigprodukt Sativex® zur Behandlung von „neuropathischem Schmerz“ bei MS zugelassen. Cannabis ist somit ein Beispiel dafür, wie aus einer alternativen eine konventionelle Therapie wird. Allerdings ist die Wirksamkeit noch nicht durch große kontrollierte Phase-III-Studien belegt, weshalb das Medikament in anderen Ländern bisher nicht zugelassen wurde. Gefährliche Nebenwirkungen sind selten. Bei einzelnen MS-Patienten, die auf übliche Maßnahmen nicht ansprechen, kann ein individueller Behandlungsversuch mit Cannabinoiden gerechtfertigt sein [4].
Hinweise für die Verschreibung von Cannabinoiden. Cannabinoide fallen unter das Betäubungsmittelgesetz. Als Fertigarzneimittel sind weder Marinol® noch Sativex® in Deutschland zugelassen [71]. Ein Import nach §73 Abs. 3 AMG ist für das in den USA zugelassene Fertigarzneimittel Marinol® über einen Arzneimittelimporteur, der über die entsprechende betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis verfügt, möglich. Sativex® fällt aufgrund seiner Inhaltsstoffe unter die Anlage I des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG), das heißt, die hier genannten Stoffe sind nicht verkehrsfähig, sie dürfen weder gehandelt noch verordnet werden und dürfen somit nach derzeitiger Gesetzeslage nicht eingeführt werden, wobei im Einzelfall §3 Abs. 2 BtMG der Bundesoberbehörde einräumt, den Verkehr mit ansonsten der Anlage I unterliegenden Stoffen ausnahmsweise zu erlauben, wenn es sich um wissenschaftliche oder andere im öffentlichen Interesse liegende Zwecke handelt. Letzterer Sachverhalt wurde vom Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung vom 19. Mai 2005 dahingehend ausgelegt, dass es auch dann im öffentlichen Interesse ist, wenn der Umgang mit Betäubungsmitteln zu einer ausreichenden Therapie eines schwerkranken, einzelnen Patienten erfolgt.
Dronabinol ist der internationale Freiname für das Stereoisomer (–)-trans-Delta-9-Tetrahydrocannabinol, den pharmakologisch wirksamsten Bestandteil der Hanfpflanze, und ist seit 1998 in der Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes aufgeführt (Verkehrsfähige und verschreibungsfähige Betäubungsmittel) und als Rezeptursubstanz erhältlich. Auf ärztliche BtM-Verordnung können in der Apotheke daraus Kapseln oder ölige Tropfen zubereitet werden. Entsprechende Herstellungsvorschriften wurden in den Deutschen Arzneimittel-Codex (DAC/NRF Nr. 22.7 und 22.8) aufgenommen. Die Verordnungshöchstmenge Dronabinol für einen Patienten beträgt 500 mg in 30 Tagen.
Die Verordnung zu Lasten der Krankenkasse ist prinzipiell möglich, muss aber beantragt werden. Die Kostenzusage hat auf der Basis des Grundsatzurteils des Bundessozialgerichts vom 19. März 2002 zur Voraussetzung, dass die Erkrankung schwerwiegend ist (meist unstrittig), übliche Therapien erfolglos waren und aufgrund wissenschaftlicher Literatur die begründete Aussicht besteht, dass mit dem Präparat ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg zu erzielen ist. Bei MS lässt die Datenlage hier verschiedene Standpunkte zu. Dementsprechend übernehmen einige Krankenkassen die Kosten, während andere keine ausreichende Begründung für eine Kostenübernahme sehen.
In Apotheken rezepturmäßig angefertigte Dronabinol®-Zubereitungen kosten ein Drittel des Preises gegenüber dem importierten Fertigarzneimittel Marinol®.
Bei Dronabinol-haltigen Präparationen ist die Aufteilung der Tagesdosis in zwei (bis drei) Einzeldosen sinnvoll. Individuell sind unterschiedliche Dosierungen erforderlich (meist 2,5–20 mg/d). Die Dosis sollte individuell in Abhängigkeit von Wirkung und Nebenwirkungen langsam gesteigert werden (z.B. Beginn mit 2,5 mg/d, Steigerung alle zwei Tage um 2,5 mg/d). Die Patienten sollten vor allem über die möglichen negativen affektiven und sedierenden Wirkungen aufgeklärt werden.
Zur Fahrtauglichkeit oder der Einschränkung des Reaktionsvermögens unter Cannabinoiden liegen keine verbindlichen Richtlinien vor. Die Wirkung auf das Reaktionsverhalten ist dosisabhängig und kann einer Toleranzentwicklung unterliegen. Im Zweifelsfall ist Zurückhaltung empfehlenswert. Im Straßenverkehrsgesetz §24a, Abs. 2 ist das Fahren unter Einfluss von Cannabis als Ordnungswidrigkeit strafbewehrt.
Bienengift
Theoretischer Hintergrund. Ohne nachvollziehbare pathophysiologische Begründung wird Bienengift als Therapie der MS propagiert.
Studienlage. Eine einzige kleine, aber methodisch gute randomisierte Cross-over-Studie, bei der bis zu 20 Bienen dreimal pro Woche auf die Patienten angesetzt wurden, zeigte keine Vorteile einer solchen Therapie auf zahlreiche relevante Parameter einschließlich der Lebensqualität der Patienten [21].
Beurteilung und Empfehlung
Es gibt keine Hinweise auf die Wirkung von Bienengift bei MS. Wegen der Gefahr allergischer Reaktionen muss von dieser schmerzhaften Therapie aktiv abgeraten werden.
Injektion von Kobratoxin/Bungarotoxin
Theoretischer Hintergrund. Seit Jahren wird von zweifelhaften Therapeuten verdünntes Schlangengift injiziert – ein Geheimtipp unter MS-Patienten. Ein nachvollziehbarer theoretischer Hintergrund fehlt. Zur Begründung werden abstruse Spekulationen angeführt.
Studienlage. Aussagekräftige Studien zu Wirkung oder Verträglichkeit liegen nicht vor.
Beurteilung und Empfehlung
Wegen des Risikos allergischer Reaktionen, einer potenziell schädlichen Immunantwort und der Giftwirkung selbst muss dringend abgeraten werden.
Traditionelle chinesische Medizin (TCM), Akupunktur und Ayurveda
Theoretischer Hintergrund. Weder in der TCM noch in der Ayurveda-Medizin spielt die MS eine große Rolle – Folge der geringen Inzidenz der MS in den Herkunftsregionen. Vor allem zur symptomatischen Therapie werden diese Therapiesysteme von Patienten mit MS zunehmend eingesetzt.
Studienlage. Aussagekräftige Studien aus Journalen mit Peer-Review sind nicht verfügbar.
Beurteilung und Empfehlung
Wissenschaftliche Daten zur Therapie der MS mit TCM, Akupunktur und Ayurveda fehlen. Eine Bewertung ist daher nicht möglich. Dies gilt auch für andere fernöstliche Therapiestrategien wie Qigong, Tai Chi, Reiki oder Shiatsu. Bei Schmerzerkrankungen sind ausgeprägte Plazebo-Effekte von Akupunktur gesichert.
Anthroposophische Medizin und Homöopathie
Theoretischer Hintergrund. Pathophysiologisch einleuchtende Wirkprinzipien bei MS sind uns nicht bekannt.
Studienlage. Aussagekräftige Studien aus Zeitschriften mit Peer-Review zur Therapie der MS sind nicht verfügbar.
Beurteilung und Empfehlung
Da wissenschaftliche Daten zur Therapie der MS mit homöopathischer und anthroposophischer Medizin fehlen, ist eine Bewertung nicht möglich. Abgeraten werden muss von parenteralen Injektionen, insbesondere verdünnter Hirnbestandteile, was gelegentlich unter dem Etikett Homöopathie praktiziert wird.
Hyperbare Oxygenierung (HBO)
Theoretischer Hintergrund. Aufgrund vielversprechender Experimente mit HBO beim Tiermodell der EAE und einiger Fallberichte wurden in den 1980er Jahren eine Reihe klinischer Studien beim Menschen durchgeführt. Als pathophysiologische Begründung dienten Befunde, die auf Durchblutungsstörungen infolge von Fettembolien bei der Entstehung der entzündlichen Läsionen hindeuteten [62]; eine Vorstellung, die in den letzten Jahren wieder in den Hintergrund getreten ist.
Studienlage. Insgesamt wurden neun kontrollierte klinische Studien mit HBO bei insgesamt 504 Teilnehmern mit MS publiziert. Die Ergebnisse sind in einer Metaanalyse zusammengefasst [15]. Nur zwei Studien zeigten geringe positive Effekte der HBO [42, 92]. Alle anderen Studien waren negativ [15, 70]; in einer Studie war die HBO sogar mit klinischer Verschlechterung assoziiert [87].
Beurteilung und Empfehlung
Die pathophysiologische Begründung der hyperbaren Oxygenierung ist zweifelhaft. Klinische Studien zeigten keine Vorteile. Die HBO hat neben allgemeinen Risiken potenziell negative Auswirkungen auf die MS [129] und kann theoretisch die Entzündungsvorgänge bei der MS ungünstig beeinflussen. Von HBO sollte deswegen klar abgeraten werden.
Besondere „MS-Diäten“
Theoretischer Hintergrund. Obwohl für jede der unzähligen MS-Diäten enthusiastische Erfahrungsberichte verbreitet werden, wurde bisher noch nie ein klinischer Nutzen einer bestimmten Ernährung nachgewiesen. Die einzige Diät, zu der überhaupt klinische Studien durchgeführt wurden, ist die Swank-Diät. Die meisten Diäten zielen wie die Swank-Diät darauf, den Konsum tierischer Fette zugunsten von ungesättigten pflanzlichen Fetten zu reduzieren, was aus pathophysiologischer Sicht nachvollziehbar ist. Daneben gibt es eine große Zahl von Diäten mit nicht nachvollziehbaren, zum Teil auch abstrusen Begründungen.
Studienlage. Untersuchungen liegen nur zur Swank-Diät vor, einer Ernährungsform, die vor allem eine drastische Reduktion der Zufuhr ungesättigter Fette vorsieht [125, 126]. 144 Anwender der Swank-Diät wurden bis zu 34 Jahre nachuntersucht [127]. Patienten, die sich streng an die Diätvorschriften hielten, hatten eine geringere Befundprogredienz und geringere Mortalität. Die Studie war allerdings weder kontrolliert noch verblindet oder randomisiert, und die Patientenauswahl war wahrscheinlich nicht repräsentativ, so dass ein erheblicher Bias angenommen werden kann.
Beurteilung und Empfehlung
Überzeugende wissenschaftliche Daten zugunsten einer bestimmten Diät bei MS fehlen. Radikale und einseitige Diäten sollten kritisch beurteilt werden. Es gelten die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die Allgemeinbevölkerung, die unter anderem den Konsum überwiegend pflanzlicher Lebensmittel, den Konsum von ein bis zwei Fischmahlzeiten pro Woche und eine Bevorzugung pflanzlicher Fette beinhalten. Besondere Bedeutung hat bei MS die Vermeidung von Über- und Untergewicht; beides kommt bei MS-Patienten häufig vor und ist bei dieser Patientengruppe besonders problematisch [109, 110].
Literatur
Das Literaturverzeichnis finden Sie im Internet beim Inhaltsverzeichnis des aktuellen Hefts:
www.ppt-online.de > Inhalte > Heft 5
Modifizierter Nachdruck aus Med Monatsschr Pharm 2008;31:89–98.
Prof. Dr. med. Stefan Schwarz, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Universität Heidelberg, J5, 68159 Mannheim, E-mail: st_schwarz@hotmail.com Priv.-Doz. Dr. med. Hans Leweling, IV. Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Mannheim GmbH, Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg, Theodor-Kutzer-Ufer 1–3, 68135 Mannheim Bernd-Udo Sagstetter, Apotheke des Universitätsklinikums Mannheim GmbH, Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg, Theodor-Kutzer-Ufer 1–3, 68135 Mannheim Prof. Dr. med. Hans-Michael Meinck, Neurologische Klinik, Klinikum Heidelberg der Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg
Complementary and alternative therapies in multiple sclerosis
Various CATs are used by the majority of patients with MS. On most CATs, reliable clinical studies are absent. Therefore, valid data on positive as well as unwanted side-effects is scarce. Most patients use CATs in addition to conventional treatment. A minority of CATs may have serious negative effects. Many CAT carry considerable costs; this must be weighted in the light of absent definitive proof of beneficial effects. A proportion of CATs relies on sound physiological considerations or positive results from pilot studies; however, in the majority of CAT, beneficial effects are purely hypothetical or derived from isolated observations only. Potential effects on the quality of life have yet to be determined. Various CATs are being discussed. Existing data is most favourable for unsaturated fatty acids, vitamin D, calcium, and cannabinoids. Reliable large studies are warranted to further determine the effects of CAT in MS.
Key words: Multiple Sclerosis, alternative therapies, diet, vitamin D, calcium, hyperbaric oxygenation, cannabis
Psychopharmakotherapie 2008; 15(05)