Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen


Dennis Naleschinski und Ralf Baron, Kiel

Chronische neuropathische Schmerzen entstehen nach einer Schädigung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren oder zentralen Nervensystem. Klinisch sind diese Syndrome durch sensible Ausfälle (Hypästhesie, Hypalgesie) sowie brennende Dauerschmerzen, einschießende Attacken und evozierte Schmerzen charakterisiert. Wichtig bei der Diagnostik ist die Abgrenzung gegenüber anderen chronischen Schmerzenformen, da neuropathische Schmerzen einer spezifischen Therapie bedürfen. Zur Behandlung neuropathischer Schmerzen werden verschiedene systemisch (oral oder transdermal) verabreichte Substanzgruppen mit unterschiedlichen pharmakologischen Wirkprinzipien eingesetzt (Antidepressiva, Antikonvulsiva mit Calciumkanal-Wirkung, Antikonvulsiva mit Natriumkanal-Wirkung, Opioide), die untereinander kombiniert werden können. Diese Basistherapie kann um topisch verabreichte Präparate (Lidocain, Capsaicin) ergänzt werden.
Schlüsselwörter: Neuropathischer Schmerz, Therapie, Diagnostik, dünne Fasern, Nervenläsion
Psychopharmakotherapie 2008;15:217–22.

Neuropathische Schmerzen entstehen nach einer Schädigung oder Erkrankung afferenter Systeme im peripheren oder zentralen Nervensystem [4]. Die Patienten beschreiben Schmerzen in Ruhe (Spontanschmerzen, z.B. ständig vorhandene, häufig brennende Schmerzen und/oder einschießende Schmerzattacken) und typischerweise evozierte Schmerzen (Hyperalgesie und/oder Allodynie).

Als Deafferenzierungsschmerzen bezeichnet man Schmerzen, bei denen die komplette Unterbrechung großer Nervenstämme (z.B. bei Amputation) oder Bahnsysteme (z.B. komplette oder inkomplette Querschnittsläsion) zur Schmerzursache wird.

Typische Beispiele für neuropathische Schmerzen sind die postzosterische Neuralgie, Schmerzen bei Polyneuropathien, insbesondere der diabetischen Polyneuropathie, Schmerzen nach mechanischen Nervenläsionen (posttraumatische Neuropathie), Schmerzen nach Amputationen (Phantom- oder Stumpfschmerzen) und zentrale Schmerzsyndrome, die beispielsweise nach ischämischen Hirninfarkten (insbesondere Thalamus oder Hirnstamm), Rückenmarksverletzungen oder bei der Encephalomyelitis disseminata auftreten [4, 7, 38]. Klassische neuropathische Schmerzsyndrome sind auch die Trigeminusneuralgie und das „CRPS“, siehe hierzu die gesonderten Leitlinien „CRPS“ und „Trigeminusneuralgie“.

Diagnostik

Die Diagnostik neuropathischer Schmerzen dient der Aufklärung der zugrunde liegenden Ursache und der Charakterisierung des Schmerzsyndroms, insbesondere der Abgrenzung gegenüber anderen Schmerzformen (z.B. nozizeptive Schmerzen, bei denen das schmerzleitende System intakt ist). Sie stützt sich in erster Linie auf die anamnestischen Angaben über eine Nervenverletzung und den objektiven Nachweis einer Läsion im Nervensystem in Kombination mit den für Neuropathien typischen klinischen somatosensorischen Symptomen und Zeichen.

Anamnese

Neben der allgemeinen und krankheitsspezifischen Anamnese sollten Informationen zu Beginn und Dauer der Schmerzen, zu den zeitlichen Charakteristika (Dauerschmerz vs. intermittierender Schmerz), zu Schmerzcharakter und Schmerzlokalisation (Schmerzzeichnung) erhoben werden. Wesentlich sind außerdem Informationen über die funktionelle Beeinträchtigung durch die Schmerzen sowie die bisherigen, vor allem erfolglosen Behandlungen. Schmerzrelevante Komorbiditäten wie Angst, Depression und Schlafstörungen dürfen nicht übersehen werden. Zur vollständigen Information gehört auch die Erfassung des Grads der Chronifizierung der Schmerzen.

Untersuchung

Eine vollständige neurologische Untersuchung insbesondere zur Einschätzung neuronaler Ausfallsmuster (motorisch, sensibel, autonom) ist wichtig. Die Untersuchung des sensiblen Systems ist von besonderer Bedeutung, um die Ausprägung von sensiblen Ausfällen (z.B. eine Hypästhesie, Hypalgesie), aber auch positiven sensorischen Reizerscheinungen (z.B. Parästhesien, Dysästhesien und/oder Schmerzen) festzustellen.

Empfehlungsstärken

A Hohe Empfehlungsstärke aufgrund starker Evidenz oder bei schwächerer Evidenz aufgrund besonders hoher Versorgungsrelevanz

B Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer Evidenz oder bei schwacher Evidenz mit hoher Versorgungsrelevanz oder bei starker Evidenz und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz

C Niedrige Empfehlungsstärke aufgrund schwächerer Evidenz oder bei höherer Evidenz mit Einschränkungen der Versorgungsrelevanz

Die Einstufung der Empfehlungsstärke kann neben der Evidenzstärke die Größe des Effekts, die Abwägung von bekannten und möglichen Risiken, Aufwand, Verhältnismäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder ethische Gesichtspunkte berücksichtigen.

Screening auf die neuropathische Komponente

Es existieren verschiedene Fragebogen, um Symptome von neuropathischen Schmerzen qualitativ und quantitativ zu erfassen. Mit Hilfe dieser nur von Patienten auszufüllenden Fragen kann das Ausmaß der neuropathischen Komponente an einem chronischen Schmerzsyndrom abgeschätzt werden, um so eine effiziente Therapie planen zu können [5, 6]. Weiterhin kann mithilfe eines Fragebogens die Dokumentation eines neuropathischen Schmerzsyndroms erfolgen. Generell wird empfohlen, Skalen zu verwenden, die die Neuropathie-typischen Schmerzcharakteristika erfassen (Positiv- und Negativsymptome), die Intensität der Schmerzen messen, sowie eine Ganzkörperzeichnung zur Abschätzung der Lokalisation und der Ausstrahlung der Symptome beinhalten. Mit painDETECT® liegt ein in deutscher Sprache validierter Fragebogen vor. Die Sensitivität und Spezifität zur Erfassung einer neuropathischen Schmerzkomponente liegt bei über 80%. Dieser Fragebogen wird vom Patienten ausgefüllt und erfasst Schmerzintensität, -muster und -qualität [15]. Dieses Screening ersetzt nicht eine klinische Untersuchung.

Zusätzliche hilfreiche Verfahren

Elektrophysiologie. Besteht der klinische Verdacht auf eine Polyneuropathie oder auf eine fokale periphere Läsion, sollte eine Neurographie der betroffenen insbesondere afferenten Nerven und gegebenenfalls ein EMG erfolgen (A) [10]. In Bezug auf das nozizeptive System ergeben sich hierbei allerdings entscheidende Schwierigkeiten, da die bei neuropathischen Schmerzsyndromen betroffenen schmerzleitenden Nervenfasern zur Kategorie der schwach- bzw. unmyelinisierten Fasern (dünne Fasern, A-delta, C-Fasern) gehören und somit der Routinediagnostik entgehen. Falls jedoch alle Systeme bei peripheren Neuropathien betroffen sind, lassen Auffälligkeiten in der Neurographie auch Rückschlüsse auf die zu dokumentierende Verletzung nozizeptiver Fasern zu.

Neurophysiologische Verfahren zur Funktionsprüfung der dünnen Afferenzen. Die quantitative Thermotestung ist ein psychophysikalisches Testverfahren, mit dem die Temperatur- und Hitzeschmerzschwellen an verschiedenen Hautarealen gemessen werden können. Die Untersuchung erfordert die Kooperationsbereitschaft des Patienten. Eine Lokalisationsdiagnostik, inwieweit eine zentrale oder periphere Affektion der dünnen Afferenzen vorliegt, ist nicht möglich, da die Funktion der kompletten sensiblen Bahn einschließlich ZNS gemessen wird (periphere Fasern und Tractus spinothalamicus, Cerebrum) [29] (B). Zur Analyse der dünnen Fasern beispielsweise bei Verdacht auf eine „small-fiber-Neuropathie“ kann ein Bedside-Test durchgeführt werden (PinPrick-Test, Temperaturempfindung).

Die Analyse der Laser-Schmerz-evozierten Hirn-Potenziale (LEP) stellt ein objektives Verfahren ebenfalls zur Messung der gesamten nozizeptiven Bahnsysteme dar [41] (B).

Hautstanzbiopsie. Besteht der Verdacht auf eine „small-fiber-Neuropathie“ kann die Diagnose mittels morphometrischer Bestimmung der Hautinnervationsdichte aus einer Hautstanzbiopsie gestellt werden [25, 39] (B).

Weiterhin können erforderlich sein: Bildgebende Diagnostik (MRT) und Liquordiagnostik, Laboruntersuchungen, die bei manchen Krankheitsbildern richtungsweisend verändert sind.

Therapie

Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick:

  • Möglichkeiten einer kurativen oder kausalen Therapie (z.B. Neurolyse bei Engpass-Syndromen, optimale Blutzuckereinstellung bei diabetischer Neuropathie) ausschöpfen (A)
  • Das wirksame Medikament muss bei jedem einzelnen Patienten durch Erprobung unter Berücksichtigung des individuellen Beschwerdebilds sowie der Nebenwirkungen und Kontraindikationen gefunden werden (A).
  • Jeder Patient benötigt eine individuelle Dosierung in Abhängigkeit von Wirkung und Nebenwirkungen (sorgfältige Titration) (A).
  • Die Wirkungslosigkeit des Medikaments sollte erst nach 2 bis 4 Wochen unter ausreichender Dosierung beurteilt werden (B).
  • Einzeldosen und Applikationsintervalle müssen je nach Pharmakokinetik und Interaktionsprofil bemessen werden.
  • Kombinationspräparate mit Coffein, Benzodiazepinen oder Muskelrelaxanzien sind nicht indiziert und bergen die Gefahr von Missbrauch und Abhängigkeit (A).

Die Leitlinie im Volltext:

Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen. In: Kommission „Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie“, Diener HC et al. (Hrsg.). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. 4. Aufl. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2008.

Online unter www.dgn.org

Medikamentöse Therapie

Realistische Therapieziele bei neuropathischen Schmerzen sind in der Regel:

  • Schmerzreduktion um >30 bis 50%
  • Verbesserung der Schlafqualität
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Erhaltung der sozialen Aktivität und des sozialen Beziehungsgefüges
  • Erhaltung der Arbeitsfähigkeit

Die Therapieziele müssen mit den Patienten eindeutig erörtert werden, um zu hoch gesteckte Ziele und damit Enttäuschungen, die zur Schmerzverstärkung führen können, schon im Vorfeld zu vermeiden. Mit einer medikamentösen Therapie ist eine 50- bis 80%ige Schmerzreduktion möglich, eine Schmerzfreiheit kann fast nie erreicht werden. Bei allen medikamentösen Optionen sprechen 20 bis 40% der Patienten nur unzureichend auf die Therapie an (<50% Schmerzreduktion, so genannte Nonresponder) oder leiden an nicht tolerierbaren Nebenwirkungen.

Die pharmakologische Behandlung der ätiologisch unterschiedlichen neuropathischen Schmerzsyndrome unterscheidet sich nicht grundsätzlich [3, 12]. Als einzige Ausnahme kann die Trigeminusneuralgie gelten, die an anderer Stelle besprochen wird. Vor Therapiebeginn sollte zur Verbesserung der Compliance der Patient über potenzielle Nebenwirkungen, insbesondere unter der Ein- und Aufdosierung und über die als Analgetika oder Koanalgetika verwendeten Substanzgruppen aufgeklärt werden.

Bei der Therapieplanung ist zu beachten, dass der Zulassungsstatus der einzelnen Wirksubstanzen je nach Hersteller variieren kann und die Verschreibung zum Teil „off label“ erfolgt.

Eine Übersicht über die Evidenzlage bei verschiedenen neuropathischen Schmerzen gibt Tabelle 1. In Tabelle 2 sind die Dosierungen und Nebenwirkungen der einsetzbaren Wirkstoffe zusammengefasst.

Tab. 1. Evidenzklassen und Empfehlungsstärken von Arzneistoffen, die bei verschiedenen neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden*


⇑⇑

⇓⇓

Postzosterische Neuralgie

Amitriptylin
Nortriptylin
Gabapentin
Pregabalin
Lidocain-Pflaster

Desipramin
Tramadol ret.
Morphin ret.
Oxycodon
Capsaicin-Salbe

NSAID
Paracetamol
Metamizol

Polyneuropathie

Amitriptylin
Nortriptylin
Venlafaxin
Duloxetin
Gabapentin
Pregabalin
Tramadol
Oxycodon

Desipramin
Maprotilin
Carbamazepin
Capsaicin-Salbe

Citalopram
Fluoxetin
Paroxetin
Oxcarbamazepin

Topiramat
Lamotrigin

Posttraumatische Neuralgie

Amitriptylin
Capsaicin-Salbe

Phantomschmerzen

Gabapentin
Tramadol
Morphin

HIV-Neuropathie

Gabapentin
Lamotrigin

Zentraler Schmerz

Pregabalin
Gabapentin
Lamotrigin
Amitriptylin

Multiple Sklerose

Tetrahydrocannabinol

Tab. 2. Pragmatische Therapie bei neuropathischen Schmerzen. Dosisempfehlungen für Erwachsene

Arzneistoff

Startdosis [mg]
und Dosisintervall

Wirksame Dosis
(Maximaldosis) [mg/d]

Besonderheiten

Antidepressiva

TCA (5-HT, Na)
Amitriptylin ret. (z.B. Saroten)
Nortriptylin (Nortrilen)

10–25

0-0-1

50–75

(150)

Cave: AV-Block, Glaukom, Miktionsstörungen, Hypotension

TCA (Na)
Desipramin (z.B. Petylyl)
Maprotilin (z.B. Ludiomil )

10–25

1-0-0

50–75

(150)

Wie Amitriptylin

SNRI
Venlafaxin (z.B. Trevilor)
Duloxetin (z.B. Cymbalta)


37,5
30


1-0-1
1-0-0


75–225
60


(375)
(120)

NW: Übelkeit, Erbrechen

Antiepileptika (Ca-Kanal)

Gabapentin (z.B. Neurontin)

300

0-0-1

1200–2400

(3600)

NW: Müdigkeit, Schwindel, Ödeme, kaum Interaktionen

Pregabalin (Lyrica)

75

1-0-1

150

(600)

NW: Müdigkeit, Schwindel, Ödeme, kaum Interaktionen, lineare Plasmakonzentration, schnellerer Wirkeintritt als Gabapentin

Antiepileptika (Na-Kanal)

Carbamazepin ret. (z.B. Tegretal)

100–200

0-0-1

600–1200

(1400)

Effektiv bei Trigeminusneuralgie
Häufige NW: Blutbildveränderungen, Leberschäden, Hyponatriämie, Medikamenten-Interaktionen wegen Enzyminduktion

Lamotrigin (Lamictal)

25

0-0-1

100–200

(400)

Gute Verträglichkeit
Exantheme, extrem langsame Aufdosierung

Opioid-Analgetika

Tramadol ret. (z.B. Tramundin®)

50–100

1-0-1

Titration

(600)

Übelkeit, Hypotension

Morphin ret. (z.B. MST®)

10–30

1-0-1

Titration

Keine

Kumulation bei Niereninsuffizienz und Alter

Oxycodon (z.B. Oxygesic®)

10–20

1-0-1

Titration

Keine

Duale Galenik

Cannabinoide

Tetrahydrocannabinol (Dronabinol)

2,5

1-0-0

Titration

(40)

NW: Tachykardie, Hypotension, Sedierung

Topische Therapie

Lidocain-Pflaster (z.B. Versatis®)

5%/700 mg

1 x täglich
mind. 12 Stunden Pause

Bis 3 Pflaster tägl.

Keine systemischen Nebenwirkungen, keine Interaktion

Capsaicin-Salbe

0,025–0,075%

3–4 x täglich

3–4 x täglich

Anfängliches Hautbrennen

TCA – Tri- bzw. tetrazyklisches Antidepressivum, SSRI – selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SNRI – Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

* Die dargestellten Evidenzlevel beziehen sich nur auf Medikamente, die in kontrollierten Studien untersucht wurden. Dies schließt die Wirksamkeit anderer Medikamentengruppen bei den verschiedenen Krankheitsbildern nicht aus.

Klassifikation der Evidenzklassen und Empfehlungsstärken

⇑⇑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studien) bzw. durch eine oder mehrere valide Metaanalysen oder systematische Reviews. Positive Aussage gut belegt.

⇑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch zumindest eine adäqute, valide klinische Studie (z.B. randomisierte klinische Studie). Positive Aussage belegt.

⇓⇓ Negative Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch eine oder mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studie), durch eine oder mehrere Metaanalysen bzw. systematische Reviews. Negative Aussage gut belegt.

⇔ Es liegen keine sicheren Studienergebnisse vor, die eine günstige oder ungünstige Wirkung belegen. Dies kann bedingt sein durch das Fehlen adäquater Studien, aber auch durch das Vorliegen mehrerer, aber widersprüchlicher Studienergebnisse.

Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Calciumkanäle

Gabapentin [16, 33]. Die Wirkungsweise von Gabapentin ist bislang nicht genau bekannt, eine Wirkung auf die a2-d-Untereinheit neuronaler Calciumkanäle wird angenommen.

Pregabalin [16, 32, 34]. Pregabalin ist ein potenter Ligand an der a2-d-Untereinheit der spannungsabhängigen Calciumkanäle auf peripheren und zentralen nozizeptiven Neuronen und reduziert dadurch den Calciumeinstrom in Nervenzellen. Hierdurch wird die Freisetzung von Glutamat und Substanz P reduziert.

Antidepressiva [37]

Antidepressiva entfalten neben der antidepressiven Wirkung auch eine analgetische Wirkung. Diese wird durch präsynaptische Wiederaufnahmehemmung der monoaminergen Neurotransmitter Serotonin und/oder Noradrenalin und somit einer Verstärkung von deszendierenden schmerzhemmenden Bahnsystemen erklärt. Trizyklische Antidepressiva blockieren weiterhin spannungsabhängige Natriumkanäle und haben sympathikolytische Eigenschaften.

Zum Einsatz kommen trizyklische Antidepressiva (TCA; Amitriptylin ret., Nortriptylin, Desipramin, Maprotilin) und duale Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI; Venlafaxin, Duloxetin) [18, 30].

Die Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI; Fluoxetin, Citalopram) bei schmerzhaften Polyneuropathien konnte noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden [12]. Paroxetin war allerdings bei der diabetischen Neuropathie wirksam [36]. Neuere Metaanalysen geben Anlass, die Wirksamkeit dieser Substanzen bei neuropathischen Schmerzen in Frage zu stellen [9] (C).

Antikonvulsiva mit Wirkung auf Natriumkanäle (membranstabilisierende Wirkung)

Carbamazepin [12, 26], Oxcarbazepin [11, 19] und Lamotrigin [13, 43] blockieren hauptsächlich spannungsabhängige Natriumkanäle auf sensibilisierten nozizeptiven Neuronen mit ektoper Erregungsausbildung im peripheren und zentralen Nervensystem. Für Lamotrigin wird zusätzlich eine indirekte Hemmung von NMDA-Rezeptoren durch Hemmung der Freisetzung von Glutamat angenommen.

Opioidanalgetika [17, 21, 28, 31, 35, 44]

Opioide wirken als Agonisten hauptsächlich am µ-Opioidrezeptor im zentralen Nervensystem. In Abhängigkeit von der intrinsischen Aktivität am Rezeptor werden niederpotente (schwache) und hochpotente (starke) Opioide unterschieden.

Cannabinoide [2, 22, 40]

Cannabinoide sind Agonisten an CB1-Rezeptoren, deren Aktivierung zu einer Hemmung der neuronalen Erregbarkeit und der Neurotransmitterausschüttung führt.

Kontrollierte Studien zu Cannabis-Extrakten (z.B. Tetrahydrocannabinol) zeigten eine Schmerzreduktion bei Patienten mit zentralem Schmerz bei multipler Sklerose [40], bei der HIV-assoziierten sensorischen Neuropathie [2] und einem gemischten Kollektiv chronisch neuropathischer Schmerzpatienten [22]. Allerdings wurde in einer Studie an Patienten mit Plexus-Ausriss der primäre Endpunkt nicht erreicht. Weitere Studien zur Wirksamkeit sind nötig.

Cannabinoid-Präparationen werden von gesetzlichen Kassen nicht erstattet, was bei den hohen Kosten ihre Anwendbarkeit limitiert.

Nicht-Opioidanalgetika

Bei neuropathischen Schmerzen sind Nicht-Opioidanalgetika wie nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID), Paracetamol und Metamizol nur wenig wirksam.

Lidocain [8]

Die Anwendung von systemisch wirksamen Lidocain oder oralen Analoga zur Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen wird zurzeit wieder diskutiert. Eine Metaanalyse konnte die Wirksamkeit zwar nachweisen [8], aufgrund der potenziellen Nebenwirkungen bei i. v. Applikation sowie der aufwendigeren Applikationsform besteht zurzeit keine Empfehlung als First-Line-Therapeutikum.

Topische Therapieoptionen

Lokalanästhetika [27]. Als adjuvante Therapie, insbesondere bei gut lokalisierten neuropathischen Schmerzen, kommt eine topische dermale Applikation von Lokalanästhetika, wie beispielsweise dem Lidocain-Pflaster (z.B. Versatis®), in Betracht. Als Hauptindikation werden die postzosterische Neuralgie, fokale Neuropathien und der Postmastektomieschmerz betrachtet.

Wirkungsmechanismen: Über eine unspezifische Blockade der Natriumionenkanäle unterbinden Lokalanästhetika die Entstehung von ektopen Aktionspotenzialen, bevorzugt bei peripheren, weniger effektiv auch bei zentralen neuropathischen Schmerzen.

Capsaicin [1, 14]. Dosierung: Capsaicin muss in der Regel 4-mal täglich für 4 bis 6 Wochen auf das schmerzende Hautareal aufgetragen werden.

Nichtmedikamentöse Therapie

Die nichtmedikamentösen Therapien können in Kombination mit der medikamentösen Therapie angewendet werden.

  • Interventionelle Verfahren, wie Blockaden, Infiltrationen, die ganglionäre lokale Opioidanalgesie (GLOA), Sympathikusblockaden, rückenmarksnahe Opioidanalgesie oder Plexusblockaden [24, 42, 45]
  • Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) [20]
  • Neuroelektrische Stimulation des Rückenmarks (SCS = spinal cord stimulation) [23]
  • Psychotherapeutische Intervention
  • Physikalische Therapie und Ergotherapie umfassen ein weites Feld von Möglichkeiten und gelten als notwendige Bestandteile einer interdisziplinären Versorgung neuropathischer Schmerzpatienten.
  • Neurochirurgisch-ablative Verfahren (Zerstörung des nozizeptiven Systems zur Schmerzausschaltung), wie DREZ-Operationen (dorsal root entry zone) oder Chordotomien (Durchtrennung des Tractus spinothalamicus). Diese Verfahren sind nur als Ultima Ratio bei Patienten mit einer deutlich eingeschränkten Lebenserwartung gerechtfertigt.

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Dennis Naleschinski, Prof. Dr.med. Ralf Baron, Klinik für Neurologie, Sektion für Neurologische Schmerzforschung und -therapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Schittenhelmstraße 10, 24105 Kiel, E-Mail: r.baron@neurologie.uni-kiel.de


Diagnosis and therapy of neuropathic pain

Neuropathic pain syndromes, i.e., pain after a lesion or disease of the peripheral or central nervous system, are clinically characterized by spontaneous pain (ongoing, paroxysms) and evoked types of pain (hyperalgesia, allodynia). The medical management of neuropathic pain consists of several main classes of oral or transdermal medications (antidepressants, anticonvulsants with Na-blocking action, anticonvulsants with Ca-modulating actions, and opioids) and several categories of topical medications for patients with cutaneous allodynia and hyperalgesia (capsaicin and lidocaine). In many cases an early combination of compounds affecting different mechanisms is useful.

Keywords: Neuropathic pain, therapy, diagnosis, small nerve fibre, nerve lesion

Psychopharmakotherapie 2008; 15(05)