Bettina Holtschmidt-Täschner und Susanne Stübner, München
Ein kataleptisches Syndrom als unerwünschte Arzneimittelwirkung unter Antipsychotika wurde zuerst von Berry und Kollegen [1] beschrieben und im Folgenden als „katatones neuroleptisches Syndrom“ (catatonic neuroleptic syndrome) bezeichnet. Die Symptomatik gleicht der einer katatonen Schizophrenie und kann deshalb mit einer Verschlechterung dieser Grunderkrankung verwechselt werden [11]. Das Syndrom ist charakterisiert durch ein sehr schweres extrapyramidal-motorisches Störungsbild, begleitet von Verhaltensauffälligkeiten. Übersichtsarbeiten finden sich zum Beispiel bei Caroff [5] und Gärtner [10]. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Symptome:
1. Akinesie, Rigor und Haltungsstereotypien und
2. Negativismus, Mutismus, regressives Verhalten mit Inkontinenz.
Vom katatonen neuroleptischen Syndrom ist das maligne neuroleptische Syndrom zu unterscheiden, welches zusätzlich schwere vegetative Symptome und Störungen der hypothalamischen Regulation beinhaltet (Tachykardie, Fieber, Exsikkose und Koma).
Aripiprazol ist ein Antipsychotikum der neuen Generation [Übersicht z.B. bei 15] und wirkt als partieller Agonist an den Dopamin-D2-Rezeptoren [3, 13], das heißt, abhängig von der vorherrschenden Dopaminverfügbarkeit wirkt es Dopamin-agonistisch oder -antagonistisch. Basierend auf dieser in vorklinischen Studien belegten D2-antagonistischen Wirkung unter hyperdominergen Bedingungen und agonistischen Potenz unter hypodopaminergen Konditionen wurde eine Stabilisierung des Dopaminsystems und eine besonders gute Verträglichkeit postuliert [4, 16, 17].
Falldarstellung
Die psychiatrische Anamnese der Patientin hatte zwei Jahre vor dem hier beschriebenen Ereignis nach einer Zahnextraktion begonnen, nach der sie anhaltend und zunehmend über Missempfindungen klagte. Zahnmedizinische Kontrollen hatten keinen die Beschwerden erklärenden und behandelbaren Befund ergeben. Die zunehmende Einengung auf die Zahnbeschwerden war mit einem anwachsenden depressiven und suizidalen Bild einhergegangen, so dass eine erste psychiatrische Klinikeinweisung erfolgt war. Als Arbeitsdiagnose war zunächst von einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen ausgegangen worden, differenzialdiagnostisch von einer wahnhaften Störung.
Es waren Therapieversuche mit verschiedenen Antipsychotika, auch in Kombinationen unternommen worden; letztlich ohne anhaltenden Erfolg. Unter anderem waren Amisulprid, Quetiapin, Risperidon, Flupentixol und Haloperidol zum Einsatz gekommen. Alle angewandten Antipsychotika hatten bei der Patientin zur Ausbildung schwerer extrapyramidal-motorischen Symptome geführt, wie Parkinsonoiden und einmal einem Pisa-Syndrom (ungewöhnliche Haltung mit tonischer Seitwärtsbeugung und leichter Rotation des Rumpfes in der Sagittalebene; Erstbeschreibung bei Ekbom 1972 als unerwünschte Arzneimittelwirkung unter Antipsychotika).
Schließlich hatte sich unter der parallel erfolgten antidepressiven Behandlung nach einer Umstellung von Mirtazapin auf Paroxetin eine deutliche Besserung der Symptomatik, einschließlich der Störung der körperlichen Befindlichkeit eingestellt.
Nachdem die Patientin ohne extrapyramidal-motorische Symptomatik und in psychopathologisch gebessertem, aber nicht vollständig remittiertem Zustand mit einer antidepressiven Kombinationsbehandlung von Paroxetin und Venlafaxin hatte entlassen werden können, war die Medikation ambulant zunächst auf eine Monotherapie mit Paroxetin und dann auf Quetiapin umgestellt worden (Dosierungen und Gründe für die Umstellung waren nicht mehr rekonstruierbar). Nachdem die Patientin hierunter wiederum ein ausgeprägtes Parkinsonoid entwickelt hatte, wurde eine erneute stationär-psychiatrische Aufnahme zur Neueinstellung der Medikation veranlasst.
Bei der Aufnahme standen wiederum massive körperliche Beschwerden, formale Denkstörungen und Affektstörungen im Vordergrund, es imponierten außerdem eine deutliche Dysarthrie sowie ein ausgeprägtes Parkinsonoid mit Rigor, kleinschrittigem Gang und Hypomimie.
Allgemein körperliche und speziell neurologische Untersuchungen ergaben bis auf diese Symptome sowie eine leichte Reduktion des Allgemeinzustands keine pathologischen Befunde, ebenso wie die apparativen Zusatzuntersuchungen, einschließlich klinisch-chemischer Laborparameter, EEG und EKG. Auch erneute konsiliarische Stellungnahmen in Zahnklinik und Schmerzambulanz ergaben keine Hinweise auf organische Korrelate der Beschwerden.
Aufgrund von Hypercholesterolämie, Hypothyreose nach Strumektomie, Hypertonie und Hypokaliämie unter antidiuretischer Behandlung waren auswärts hausärztlich Behandlungen mit 20 mg Simvastatin (Zocor®), 75 μg Levothyroxin-Natrium (L-Thyroxin®), 25 mg Hydrochlorothiazid (HCT®), Kalium (Kalinor Brause® Tablette) und zur Prophylaxe bei vaskulärem Risikoprofil 100 mg Acetylsalicylsäure (ASS®) angesetzt worden; diese Medikation wurde während der stationär-psychiatrischen Behandlung unverändert weitergeführt.
Stationär wurde die Vormedikation von 400 mg/d Quetiapin (Seroquel®) wegen der extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen reduziert und zwei Tage nach der Aufnahme ganz abgesetzt; mit Überlappung von zwei Tagen wurde auf Aripiprazol (Abilify®) umgestellt (5 mg/d), zusätzlich wurden 4 mg/d Biperiden (Akineton® retard) gegeben. Ferner wurde wegen des früheren guten Ansprechens erneut mit Paroxetin (Seroxat® 10 mg/d) begonnen. Um die stark gequälte Patientin akut zu entlasten, wurde Diazepam (Diazepam-ratiopharm®; 15 mg/d über den Tag verteilt) angesetzt.
Unter dieser Medikation ergab sich jedoch nicht wie angestrebt eine Besserung des Parkinsonoids, sondern eine zunehmende Einschränkung durch Gangunsicherheit und Rigor; letzterer war so ausgeprägt, dass es der Patientin teilweise kaum gelang, sich im Bett aufzusetzen.
In der zweiten Behandlungswoche kam es zu einer weiteren Verschlechterung des Zustands mit Amimie, Submutismus, Rigor der oberen und unteren Extremitäten und massiver Bewegungsverlangsamung. Trotz Gabe von 1 mg Biperiden (Akineton®) i.v. entwickelte sich schließlich ein völlig mutistisches und stuporöses Bild. Die Patientin lag regungslos im Bett und war nicht mehr kontaktfähig.
Bei Verdacht auf schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen wurde die Medikation bis auf Diazepam komplett abgesetzt, worunter sich der Zustand rasch wieder besserte. Nach sechs Tagen wurde mit der internistischen Medikation und 15 mg/d Paroxetin wieder begonnen. Nach weiteren acht Tagen wurde auch erneut Biperiden bis 4 mg/d hinzugegeben.
Unter Aufdosierung von Paroxetin bis 45 mg/d kam es zu einer allmählichen affektiven Aufhellung und einer Zunahme der Schwingungs- und Rapportfähigkeit. Wegen des anhaltenden Wahnerlebens wurde im Verlauf der Behandlung eine Elektrokrampftherapie-Serie durchgeführt, die jedoch ohne dauernden Erfolg blieb. Unter Beibehaltung von Paroxetin wurde schließlich eine Lithium-Augmentation durchgeführt, worunter eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau erreicht und die Patientin nach 23 Wochen stationärer Behandlung in die ambulante Weiterversorgung entlassen werden konnte.
In den darauffolgenden beiden Jahren kam es bei der Patientin noch zu zwei weiteren stationären Aufnahmen, jeweils wieder mit Einengung auf die Zahnproblematik und Missempfindungen, depressiver Symptomatik sowie zunehmenden kognitiven Defiziten. Es wurde nach weiterer Diagnostik zusätzlich die Verdachtsdiagnose einer beginnenden frontotemporalen Demenz gestellt.
Diskussion
Die beschriebene Fallvignette zeigt, dass es unter Aripiprazol – trotz seiner ungewöhnlichen Wirkungsmechanismen – zumindest unter bestimmten klinischen Bedingungen zu schweren extrapyramidal-motorischen Symptomen kommen kann. In kontrollierten klinischen Studien war gefunden worden, dass deren Häufigkeit unter Aripiprazol derjenigen unter Plazebo-Gabe vergleichbar war [16]. Mehrere Einzelfallberichte von extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen unter Aripipazol in realklinischen Bedingungen wurden jedoch inzwischen in der internationalen Literatur veröffentlicht [z.B. 2, 8, 13].
Im vorliegenden Fall dürften bestimmte klinische Faktoren für die Ausbildung der schweren Symptomatik relevant gewesen sein:
Es lagen Kombinationsbehandlungen vor. Hierbei fällt insbesondere die gleichzeitige Anwendung mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auf, die zu einem additiven pharmakodynamischen Effekt über die antidopaminerge Wirkungskomponente beigetragen haben dürfte [Übersicht bei 14]. Allerdings war es bei der zuvor stattgehabten Monotherapie mit Paroxetin nicht zu Ausbildung extrapyramidal-motorischer Symptomatik gekommen. Insofern erscheinen vor allem pharmakokinetische Interaktionen bedeutsam: Aripiprazol wird über die Cytochrom-P450-Isoenzyme CYP2D6 und CYP3A4 verstoffwechselt [z.B. 6, 7]. Paroxetin ist ein potenter Inhibitor von CYP2D6 und hemmt gleichzeitig auch CYP3A4 [z.B. 6, 7]. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass beide Abbaurouten des Aripiprazols blockiert wurden und es zu einer relevanten Spiegelerhöhung kam. Leider waren Blutspiegelkontrollen nicht erfolgt. Es ist jedoch zu vermuten, dass die tatsächliche Konzentration von Aripiprazol im Blut weitaus höher war, als es bei der niedrigen Dosierung zu vermuten gewesen wäre.
Ferner dürften einige patientenbezogene Risikofaktoren zur Entwicklung der schweren unerwünschten Arzneimittelwirkung beigetragen haben. Höheres Lebensalter und organische Vorschädigungen werden als prädisponierende Faktoren für die Entwicklung von Bewegungsstörungen unter Antipsychotika diskutiert; beispielsweise bei der Ausbildung von Pisa-Syndromen [9, 18, 19]. Im beschriebenen Fall wies das vorliegende vaskuläre Risikoprofil auf eine Vorschädigung des Zentralnervensystems hin, und auch die später diagnostizierte demenzielle Erkrankung dürfte bereits in einem zwar noch subklinischen, aber bereits pathophysiologisch wirksamen Stadium vorgelegen haben.
Zusammenfassend enthält der vorliegende Fall – in Übereinstimmung mit Fallberichten der aktuellen Literatur – Hinweise auf die Möglichkeit vom Auftreten extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen auch unter Aripiprazol.
Arzneimittel-Interaktionen können in bestimmten Konstellationen – wie auch in dieser Kasuistik zu erkennen – das Risiko der Entwicklung unerwünschter Arzneimittelwirkungen erhöhen, ebenso wie patientenbezogene prädisponierende Faktoren, beispielsweise höheres Lebensalter und Vorschädigungen des entsprechenden Organsystems. Auffallende Empfindlichkeit und Bereitschaft zur Entwicklung unerwünschter Arzneimittelwirkungen können auf organische Schädigungen hinweisen und sollten unter Umständen Anlass zu weiteren diagnostischen Überlegungen und Untersuchungen geben.
Die vorliegende Falldokumentation zeigt erneut, dass Arzneimittelsicherheitsprogramme wie das AMSP-System notwendig sind, um die Anwendung neu zugelassener Substanzen unter den realen Bedingungen des klinischen Alltags zu beobachten.
Literatur
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Priv.-Doz. Dr. Susanne Stübner, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: Sus Bettina Holtschmidt-Täschner, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstraße 7, 80336 München
Psychopharmakotherapie 2007; 14(05)