Frank Häßler, Rostock
Geistige Behinderung
In den letzten 10 Jahren hat sich das Wissen über die Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung (Gesamtprävalenz 2–3%) und die damit assoziierten Probleme deutlich erweitert.
So können Verhaltensprobleme und/oder psychiatrische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die soziale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nachhaltig negativ beeinflussen [1]. Auch in Deutschland hat ein Umdenkprozess, initiiert durch die Reformpsychiatrie, eingesetzt. Ein Ergebnis dieses Prozesses und der damit verbundenen Bemühungen ist das Positionspapier der vier Fachverbände der Behindertenhilfe 1998/2000. Darin wird unter anderem postuliert:
„1. Geistige Behinderung ist keine Krankheit, aber Menschen mit geistiger Behinderung können erkranken wie jeder andere auch.
2. Geistige Behinderung kann mit zusätzlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Krankheiten, Mehrfachbehinderungen und spezifischen Erkrankungsrisiken verbunden sein.
3. Menschen mit geistiger Behinderung haben einen Rechtsanspruch auf angemessene gesundheitliche Versorgung, welche die Diagnostik und Therapie bestehender Krankheiten, Prävention, Rehabilitation gleichermaßen einbezieht – untermauert durch das grundsätzlich verankerte Verbot, jemanden seiner Behinderung wegen zu diskriminieren.“
In der Realität muss leider nach wie vor festgestellt werden, dass bei allem erreichten Fortschritt in der medizinischen Wissenschaft Menschen mit geistiger Behinderung häufig nur eine inadäquate gesundheitliche Versorgung erfahren, weil Ärzte und Betreuer nur unzureichend über die Spezifika von Störungen bei diesen Patienten und die notwendigen und effektiven Interventionen informiert sind. So ist eine der dringendsten Voraussetzungen, eine adäquate psychiatrische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung zu schaffen, die sich auf fachliche Kompetenz, Erfahrung und Handlungskompetenz gründet. Solche Kompetenz setzt sowohl die Kenntnis der individuellen Spezifika und Ressourcen als auch der speziellen strukturellen und prozessualen Rahmenbedingungen voraus. In fachlicher Hinsicht verlangt die adäquate psychiatrische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung mehr als nur die Anwendung der allgemeinen psychiatrischen Kenntnisse auf die Problemlagen von Menschen mit geistiger Behinderung, nämlich: zusätzliche, spezielle fachliche Kenntnisse und Handlungskompetenzen. So sind nicht einmal die gängigen Diagnostiksysteme ICD-10 und DSM-IV kompatibel, wenn es darum geht, eine psychiatrische Diagnose bei einem intelligenzgeminderten Patienten zu stellen. Die Abwandlung des Erscheinungsbilds und der Ausdrucksgestalt psychischer Störungen bei oft kommunikativ eingeschränkten Patienten stellt eine besondere diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Außerdem ist es erforderlich, spezielle psychische und Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen, deren Manifestation adäquat auf institutionelle, interaktionelle oder störungsspezifische Gründe zurückzuführen sowie bestimmte genetische Grundlagen (z.B. Verhaltensphänotypien) differenzialdiagnostisch einzuordnen. Kognitive und psychiatrisch-diagnostische Besonderheiten wie beeinträchtigte Introspektionsfähigkeit, vermindertes Sprachverständnis, reduziertes sprachliches Ausdrucksvermögen sowie die Modifikation der Ausdrucksgestalt sind zu berücksichtigen. Ebenso gehört zur Realität, dass eine oft unzulängliche anamnestische Datenlage das Verständnis und systemische Herangehen erschwert.
Besonders schmerzlich sind solche Defizite, wenn es um die Einschätzung von Krankheitsverläufen, also Symptomänderungen im zeitlichen Verlauf, geht. Für die Diagnose eines demenziellen Prozesses, wie wir ihn häufig bei Morbus Down (Synonym: Trisomie 21) Patienten finden, sind solche langfristigen Verlaufsdokumentationen neben ergänzenden labordiagnostischen und bildgebenden Untersuchungen aber unerlässlich. Auch für die Einschätzung von Verhaltensauffälligkeiten und deren Dynamik bedarf es einer Mehrpunktdiagnostik.
Demenzielles Syndrom/Alzheimer-Demenz
Definition
Das demenzielle Syndrom verläuft in der Regel chronisch oder fortschreitend. Dabei sind höhere kortikale Funktionen wie Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen beeinträchtigt. Kognitive Beeinträchtigungen können mit Veränderungen der Motivation, der emotionalen Kontrolle und des Sozialverhaltens einhergehen. Manchmal treten diese Begleitsymptome vor den kognitiven Defiziten auf.
Die Diagnose einer Alzheimer-Demenz stützt sich laut ICD-10 auf folgende Merkmale:
Schleichender Beginn mit langsamer Verschlechterung und Irreversibilität.
Fehlen klinischer Hinweise oder spezieller Untersuchungsbefunde, die auf eine System- oder Hirnerkrankung hinweisen, welche eine Demenz verursachen kann (z.B. Hypothyreose, Hyperkalzämie, Neurosyphilis).
Fehlen eines plötzlichen apoplektischen Beginns oder neurologischer Herdzeichen.
Da das klinische Bild der Alzheimer-Demenz sehr bunt sein kann, sollte die Diagnostik einem Entscheidungsalgorithmus folgen. Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob höhere psychische Funktionsbeeinträchtigungen seit mindestens 6 Monaten vorhanden sind. Eine Leistungsabnahme im Gedächtnis, im Urteilsvermögen und im Denken geht in der Regel mit spürbaren Behinderungen im Alltag einher (Überprüfung erfolgt im zweiten Schritt). Beim typischen Verlauf (schleichend und langsam) darf keine deutliche Verbesserung eintreten. Als drittes Kriterium wird in der ICD-10 eine verminderte Affektkontrolle aufgeführt, die durch emotionale Labilität, Reizbarkeit, Apathie und/oder Vergröberung des Sozialverhaltens charakterisiert sein kann.
Der dritte Schritt beinhaltet die differenzialdiagnostischen Erwägungen sowie allgemeinkörperliche, neurologische, neurophysiologische, laborchemische und bildgebende Untersuchungen (CT oder MRT). Als vierter Entscheidungsschritt fungieren diagnostische Maßnahmen, die die Diagnose erhärten. Dazu zählen Positronenemissionstomographie (PET) und Single-Photonen-Emissionstomographie (SPECT) [3].
Eine endgültige Diagnose der Alzheimer-Demenz ist erst nach dem Tod histopathologisch durch Nachweis von massenhaft auftretenden Neurofibrillen, Angiopathien sowie allgemeinen Zellnekrosen möglich.
Bei Menschen mit geistiger Behinderung ergeben sich zusätzliche diagnostische Schwierigkeiten, da ihre prämorbiden Fähigkeiten häufig unterhalb der in Standardtestverfahren (Global Deterioration Scale – GDS, Mini Mental Status Test – MMST, Alzheimer’s Disease Assessment Scale – ADAS) abgeprüften Leistungen liegen und die verbale Kommunikation erheblichen Einschränkungen unterliegt. Eine Übersicht zu standardisierten Unersuchungsinstrumenten findet sich bei Rösler et al. [12].
Epidemiologie
Die mittlere Prävalenzrate der Alzheimer-Demenz liegt bei über 65-Jährigen bei 5%. In der Altersgruppe 80 bis 89 Jahre beträgt sie 10 bis 20% [8]. Unabhängig davon, um welchen Demenztyp es sich handelt, kann davon ausgegangen werden, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung, nicht nur Trisomie-21-Betroffene, einerseits früher als nicht geistig Behinderte an einer Demenz erkranken und andererseits einen foudroyanteren Verlauf aufweisen.
Ätiopathologie
Die wesentlichen pathologischen Prozesse bestehen in einer Umwandlung von normalen Zellproteinen in schädigende Endprodukte wie das Beta-Amyloid-Protein und die Neurofibrillenbündel (Tab. 1). Die fädigen intrazellulären Zusammenballungen hängen mit der Zellapoptose zusammen.
Tab. 1. Ursachenkomplexe für eine Alzheimer-Demenz [4]
Involviertes System |
Veränderungen |
Cholinerges System |
Verminderte Cholinacetyltransferase-(ChAT-)Aktivität im Gehirn |
Endozytose |
Funktionsveränderung von Beta-Amyloid-Protein und Apolipoprotein E4 |
Komplement-System |
Nach Aggregation von Beta-A4-Protein aktiviert |
Histamin-Releasing-Faktor-Protein |
Verminderte Aktivität |
Aufgrund einer pathologischen Spaltung des Amyloid-Vorläuferproteins (Amyloid precursor protein=APP), die durch einen Mangel des Neurotransmitters Acetylcholin verursacht wird, kommt es zu einer Aggregation des Beta-A4-Proteins, wobei die Amyloid-Ablagerungen hauptsächlich im Gehirn erfolgen.
Das Gen für das APP ist auf dem Chromosom 21 lokalisiert. Da dieses Chromosom bei Trisomie 21 in dreifacher Ausführung vorliegt, kommt es zu einer vier- bis fünffachen Menge an APP. Rund 50% der Patienten mit Morbus Down entwickeln bis zum 60. Lebensjahr eine Alzheimer-Demenz. Neve et al. [7] gehen davon aus, dass das APP auf der Zelloberfläche eine Signalfunktion innehat, bei deren Störung oder Wegfall es zu Zellzyklusanomalien im Neuron kommt, was wiederum zum Zelltod des Neurons beiträgt. Für den Untergang der Nervenzelle ist letztendlich die Phosphorylierung und Aggregation des Tau-Proteins verantwortlich.
Therapie
Ziel aller therapeutischen Bemühungen bei Menschen mit geistiger Behinderung ist es, Fehlentwicklungen und Psychiatrisierungen zu vermeiden, die Lebensqualität zu verbessern sowie eine weitestgehende Resozialisation zu erreichen. Dazu dienen neben pädagogischen, psychoedukativen und psychotherapeutischen Ansätzen auch psychopharmakologische Interventionen. Letztere sind medizinisch indiziert und rechtlich legitimiert bei Schizophrenien, Affektpsychosen, fremdaggressivem und selbstverletzendem sowie repetitivem stereotypem Verhalten, wobei dieses mit einer funktionalen Beeinträchtigung einhergehen muss [2]. Unter dem Aspekt der Lebensqualität, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der möglichst frühen Intervention bei psychiatrisch relevanten Symptomen eines demenziellen Prozesses kommt somit auch einer adäquaten Therapie mit Antidementiva ein hoher Stellenwert zu. Dabei stehen cholinerge Substitutionsstrategien mit Acetylcholinesterase(AChE-)-Hemmern im Vordergrund [11]. In Tabelle 2 wird eine Übersicht über AChE-Hemmer und GABAerg wirkende Antidementiva gegeben.
Tab. 2. Pharmakotherapie der Demenz
Präparat |
Rivastigmin |
Donepezil |
Galantamin |
Memantine |
Metabolismus |
Renal |
CYP2D6, |
CYP2D6 |
20% P450 |
Halbwertszeit |
1 h |
70 h |
7–8 h |
60–100 h |
Dosierung initial |
2 x 1,5 mg/d |
5 mg/d (1. Monat) |
2 x 4 mg/d |
5 mg/d (1. Woche) |
Nebenwirkungen >5% |
Durchfall, |
Durchfall, |
Durchfall, |
Unruhe, |
AChE-Hemmer=Acetylcholinesterase-Hemmer
In mehreren Studien zeigte Rivastigmin signifikante Effekte auf depressive, ängstliche und halluzinatorische Symptome [5, 10]. Insbesondere in den ADENA-Studien 1 bis 8 (n=5381) wurden günstige Effekte von Rivastigmin auf kognitive Leistungen, Aktivitäten des täglichen Lebens und die klinische Gesamtbeurteilung nachgewiesen [9]. In nahezu allen internationalen Demenz-Leitlinien wird Rivastigmin als Mittel der ersten Wahl empfohlen [6]. Diese vorliegenden Studienergebnisse waren letztendlich für den Einsatz von Rivastigmin bei Menschen mit geistiger Behinderung, die die Kriterien für einen demenziellen Prozess erfüllten, ausschlaggebend. Die folgenden Kasuistiken demonstrieren neben der Vorgeschichte die individuellen Indikationen und den Effekt von Rivastigmin.
Kasuistiken
1. Fallvignette
Anamnese
Die mittlerweile 21-jährige Patientin wurde mit einem Geburtsgewicht von 2180 g und einer Geburtslänge von 45 cm durch Kaiserschnitt (sectio caesarea) bei fetalem Notzustand aus der Beckenendlage termingerecht geboren.
Die Krankheitsanamnese beginnt im Neugeborenenalter mit einem vesiko-uretero-renalen Reflux V. Grades. Mit 4 Jahren war bereits eine eingeschränkte Nierenfunktion sichtbar. Der Verdacht auf ein Prader-Willi-Syndrom wurde später bestätigt.
Mit 13 Jahren wurde während eines stationären Aufenthalts aufgrund einer Harntraktinfektion eine chronische Niereninsuffizienz diagnostiziert. Seither ist die Patientin in regelmäßiger Behandlung auf einer Kinder-Dialysestation. Es besteht eine terminale Niereninsuffizienz mit kompletter Anurie. Die Patientin nahm während der regelmäßigen stationären Betreuung insgesamt 10 kg an Gewicht zu. Es zeigten sich anhaltende aggressive Durchbrüche und Trotzreaktionen. In solchen Phasen kam es auch zu selbstgefährdendem Verhalten, Schreiattacken und Verweigerungsverhalten, wobei sie das Personal tätlich angriff, nicht mehr sprach und verbalen Interventionen nicht mehr zugänglich war. In der Überprüfung der Leistungsfähigkeit (HAWIE-R) ergab sich bei einem IQ von 73 ein unterdurchschnittliches Leistungsvermögen.
Nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung und ausführlicher Aufklärung der Patientin und ihrer Mutter wurde eine Behandlung mit dem atypischen Neuroleptikum Risperidon begonnen. Die Anfangsdosis lag bei 0,5 mg/d und wurde alle 4 Tage bis zu einer Erhaltungsdosis von 2 mg/d um 0,5 mg gesteigert.
Trotz effizienter Psychopharmakotherapie – die autoaggressiven Impulsdurchbrüche gingen ebenso wie das oppositionelle Trotz- und Verweigerungsverhalten auf ein akzeptables Maß zurück – wurde die Patientin weiterhin psychotherapeutisch gestützt.
Jetziger Status
Körperlich liegen bei der Patientin neben dem Prader-Willi-Syndrom und terminaler Niereninsuffizienz rezidivierende Pyelonephritiden, renaler Hypertonus und Minderwuchs vor. Bei einer Größe von 1,45 m und einem Gewicht von 80 kg (BMI=37,9) zeigte sich eine, zum genetisch determinierten Krankheitsbild gehörende, ausgeprägte Adipositas. Zudem besteht der Verdacht auf eine Thrombophilie.
Aktuelle Problemdarstellung
Im Jahr 2001 kam es rasch zu einer zunehmenden Antriebsarmut, sich häufenden Phasen von Erschöpfung, Schläfrigkeit, Nachlassen aller Interessen sowie einer Sprachregression auf Kleinkindniveau. Eine Kommunikation mit den anderen Dialysepatienten fand nicht mehr statt. Das Verhalten mutete teilweise mutistisch an. Die Beschulung am Bett wurde anfänglich von 2 auf 1 Stunde am Tag reduziert, wobei die Vermittlung neuer Lerninhalte nicht mehr gegeben war. Das flüssige und geordnete Schreiben sowohl nach Diktat als auch spontan war nicht mehr möglich. Die Patientin, die zuvor schon Probleme beim Gehen hatte, verließ das Bett nicht mehr und benötigte zu Ortsveränderungen einen Rollstuhl.
Sukzessive wurde Risperidon in einem ersten Schritt auf 1 mg/d und später auf 0,5 mg/d reduziert.
Nach der Global Deterioration Scale (GDS) lag das Stadium 7 mit extremem Sprachverlust und motorischer Rigidität vor, auch wenn bestimmte Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit ebenso wie Namen der Eltern und der Bezugsschwestern erinnert werden konnten. Der Summenscore des Fragebogens zur Tagesschläfrigkeit für Kinder und Jugendliche (modifizierte Epworth Sleepiness Scale) lag nach Einschätzung durch die Mutter bei 14 und durch die Dialyseschwestern bei 15.
Sukzessive wurde über einen Zeitraum von 3 Monaten Rivastigmin, beginnend mit 1,5 mg/d, auf 4,5 mg/d auftitriert. An der bestehenden Therapie wurden keine Änderungen vorgenommen, abgesehen von der Umsetzung auf die Peritonealdialyse.
Die Patientin war nach 12 Wochen wesentlich wacher, zugewandter, konnte mit Hilfe einige Schritte gehen, sah fern, reagierte inhaltlich und affektiv adäquat auf Fragen und wies eine Konzentrationsspanne bei Leistungsanforderungen von rund 10 Minuten auf. Entsprechend der GDS lagen noch mäßige bis mittelmäßige kognitive Leistungseinbußen vor – Stadium 4 bis 5. Der Summenscore der ESS wurde übereinstimmend von Eltern und Pflegepersonal mit 11 angegeben. Wie zum Zeitpunkt 12 Wochen entsprach der GDS auch nach 12 Monaten dem Stadium 5 und der Summenscore der ESS wurde übereinstimmend mit 13 eingeschätzt. Es erfolgte eine Dosisreduktion auf 2 x 1,5 mg/d, die bis dato beibehalten wurde. Insgesamt wurde die Patientin 31 Monate erfolgreich mit Rivastigmin behandelt.
2. Fallvignette
Anamnese
Der Patient A. D. (geb. 1939) befindet sich seit 1954, das heißt seit seinem 15. Lebensjahr, in Betreuung einer evangelischen Förder- und Pflegeeinrichtung. Familien- und entwicklungsanamnestische Daten ließen sich nicht eruieren. Die Intelligenzminderung liegt im leichten bis mittelgradigen Bereich (F 70/71). Herr D. bedurfte noch nie Psychopharmaka.
Jetziger Status
Bis auf gesteigerte Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten und eine leichte Dysdiadochokinese gibt es weder allgemeinkörperlich noch neurologisch Auffälligkeiten. Bis auf seinen Namen in Druckbuchstaben kann Herr D. nicht schreiben. Im Zahlenbereich bis 100 ist er zumindest beim Vorwärtszählen sicher. Bis auf Kleinigkeiten ist er selbstständig und arbeitete jahrelang auf der Hühnerfarm. Er spielt in seiner Freizeit Offiziersskat und sieht fern.
Aktuelle Problemdarstellung
Im November 2002 kam es zu einer zunehmenden Gereiztheit, Affektlabilität sowie aggressiven Durchbrüchen, wobei es ihm hinterher sofort leidtat, und einer extremen Verlangsamung von Denk- und Arbeitsabläufen. Er verwechselte die Wochentage, fragte viel nach, wirkte leichter erschöpfbar und ungeselliger. Das Kartenspielen vernachlässigte er ganz.
Nach GDS wies Herr D. kognitive Einbußen auf, die den Stadien 3 bis 4 zugeordnet wurden. In der adaptierten ESS (im letzten Item „Schule“ durch „Arbeit“ ersetzt) lag der Summenscore bei 15.
Am 03.12.2002 erfolgte die Einstellung auf Rivastigmin 1,5 mg/d. Unter dieser niedrigen Dosierung, die bis heute beibehalten werden konnte, wurde der Primärzustand wieder hergestellt. Wenn man von den durch die Intelligenzminderung begründeten Defiziten, die schon immer vorhanden waren, absieht, erreichte Herr D. einen klinisch unauffälligen Zustand.
3. Fallvignette
Anamnese
Der Patient W. B. (geb. 1936) befindet sich aufgrund einer schweren geistigen Behinderung (F 72) seit dem 14. Lebensjahr in Betreuung einer evangelischen Förder- und Pflegeeinrichtung. Familien- und entwicklungsanamnestische Daten ließen sich nicht eruieren. 1976 machte er eine parainfektiöse Enzephalitis durch. Wegen Unruhezuständen mit teils aggressiven Tendenzen erhält Herr B. seit 1986 Neuroleptika, seit 1991 wurden optische Halluzinationen und paranoide Denkinhalte mit Haloperidol bis 3 x 5 mg/d und Levomepromazin bis 400 mg/d behandelt.
Jetziger Status
Allgemeinkörperlich imponieren eine Gesichtsasymmetrie mit Verschiebung nach rechts und eine verstärkte Brustkyphose mit Schulterhochstand rechts. Neurologisch fielen nur gesteigerte Muskeleigenreflexe mit einer beinbetonten Tonuserhöhung auf.
Ein EEG vom 03.04.2000 zeigte Alpha-EEG mit subkortikalen Zeichen, am 05.11.2003 leichte Allgemeinveränderungen. Laut Vineland Social Maturity Scale (VMS) ist Herr B. in der Selbstbetätigung kaum auf fremde Hilfe angewiesen, zieht sich allein an und aus, isst allein mit Messer und Gabel, spielt Brettspiele, kritzelt mit Buntstiften, verfolgt das Geschehen im Fernsehen, blättert in Zeitschriften, verrichtet kleinere Hausarbeiten, verlässt nicht eigenmächtig das Gelände, kann nicht zählen und hat kein Verhältnis zu Geld.
Aktuelle Problemdarstellung
Seit September 2003 fällt eine zunehmende Antriebsarmut mit Rückzugstendenzen auf. Herr B. war kaum noch in der Lage, selbständig die Mahlzeiten einzunehmen, beteiligte sich nicht mehr am Gruppengeschehen, sah nicht mehr fern, reagierte verbal nur nach mehrmaligem Ansprechen, zeigte ein kleinschrittiges schlurfendes Gangbild und wirkte affektiv starr. Aufgaben konnten ihm nicht mehr übertragen werden, da er der ständigen Erinnerung und eines Fremdantriebs bedurfte.
Nach GDS lag ein klinisches Stadium von 4 bis 5 vor. Die adaptierte ESS (im letzten Item „Schule“ durch „Arbeit“ ersetzt) wies einen Summenscore von 18 auf.
Am 05.11.2003 erfolgte die Einstellung auf Rivastigmin 1,5 mg/d. Nach nur 4 Wochen lief Herr B. nicht nur gerader, sondern auch flotter, schwatzte, lachte, sah sich wieder Zeitschriften an, verfolgte Skispringen im Fernsehen und ließ sich kleinere Aufgaben wie das Wegbringen und Holen der Wäsche übertragen. Nach GDS käme jetzt ein Stadium von 3 in Frage. Der Summenscore der ESS sank auf 10.
Diskussion
Die in den Fallbeispielen geschilderten Behandlungsergebnisse bei Menschen mit geistiger Behinderung untermauern die bereits in größeren Studien nachgewiesene kognitive Wirksamkeit und Sicherheit dieses relativ hirnselektiven Acetyl- und Butyrylcholinesterase-Hemmers vom Carbamat-Typ. Nebenwirkungen traten im gewählten Dosierungsbereich von 1,5 bis 4,5 mg/d nicht auf. Für eine prolongierte Aufrechterhaltung einer an sich schon bei Menschen mit geistiger Behinderung eingeschränkten Lebensqualität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kommt einer Früherkennung eines beginnenden demenziellen Prozesses zwecks psychopharmakologischer Frühintervention eine immense Bedeutung zu. Die Beispiele belegen eindrucksvoll die Effizienz einer Therapie mit Rivastigmin, welches ein günstiges Risiko-Nutzen-Verhältnis aufweist und ein Abrutschen in einen nur noch „Pflegefall“ über einen längeren Zeitraum verhinderte. Ausgehend von diesen positiven Einzelfällen sind kontrollierte Studien zur Etablierung einer dann stärker Evidenz-basierten Therapie dringend erforderlich. Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung haben ein verbrieftes Recht auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung.
Literatur
1. Deb S, Matthews T, Holt G, Bouras N. Practice guidelines for the assessment and diagnosis of mental health problems in adults with intellectual disability. Brighton: Pavilion, 2001.
2. Häßler F, Tilch P, Buchmann J. Psychopharmakotherapie und andere therapeutische Konzepte in der Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung. In: Häßler F, Fegert JM (Hrsg.). Geistige Behinderung und seelische Gesundheit. Stuttgart: Schattauer, 2005:123–56.
3. Ihl R. Klinische Diagnosekriterien. In: Förstl H, Bickel H, Kurz A (Hrsg.). Alzheimer Demenz: Grundlagen, Klinik und Therapie. Heidelberg: Springer, 1999:109–29.
4. Kim SH, Cairns N, Fountoulakisc M, Lubec G. Decreased brain histamine-releasing factor protein in patients with Down syndrome and Alzheimer’s disease. Neurosci Lett 2001;300:41–4.
5. McKeith IG, Grace JB, Walker Z, Byrne EJ, et al. Rivastigmine in the treatment of dementia with Lewy bodies: preliminary findings from an open trail. Int J Geriat Psychiatry 2000;15:387–92.
6. Müller U, Wolf H, Kiefer M, Gertz HJ. Nationale und internationale Demenz-Leitlinien im Vergleich. Fortschr Neurol Psychiat 2003;71:285–95.
7. Neve RL, McPhie DL, Chen Y. Alzheimer’s disease: a dysfunction of the amyloid precursor protein. Brain Res 2000;886:54–66.
8. Rocca WA, Hofman A, Brayne C. Frequency and distribution of Alzheimer’s disease in Europe. A collaborative study of 1980–1990 prevalence findings. Ann Neurol 1991;30:381–90.
9. Rösler M, Retz-Junginger P, Retz W. Alzheimer Demenz und Exelon®. Stuttgart: Thieme, 1998.
10. Rösler M, Anand R, Cicin-Sain A, Gauthier S, et al. Efficacy and safety of rivastigmine in patients with Alzheimer’s disease: international randomised controlled trial. BMJ 1999;318:633–40.
11. Rösler M, Frey U. Einfluss der Therapie mit Azetylcholinesterase-Inhibitoren (AChEI) auf psychopathologische Symptome bei der Alzheimer-Krankheit. Fortschr Neurol Psychiat 2002;70:78–83.
12. Rösler M, Frey U, Retz-Junginger P, Supprian T, et al. Diagnostik der Demenzen: Standardisierte Untersuchungsinstrumente im Überblick. Fortschr Neurol Psychiat 2003;71:187–98.
Prof. Dr. med. Frank Häßler, Klinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie und Psychotherapie der Universität Rostock, Gehlsheimer Str. 20, 18147 Rostock, E-Mail: frank.haessler@med. uni-rostock.de
Rivastigmin in the therapy of dementia in patients with mental retardation
Over the last 10 years the knowledge about the health of mentally handicapped patients (life-time prevalence 2–3%) and health-hazards associated with mental retardation has increased substantially. As it was shown in other studies, patients diagnosed with mental retardation not only fall ill with dementia at earlier ages, but also show a more foudroyant course of the disease. These results not only regard to patients suffering from trisomie 21, but to patients diagnosed with mental retardation. Early treatments of psychiatric symptoms of dementia help to increase or maintain both, quality of life and social participation of these patients. Early interventions with anti-dementia drugs play a central role within this kind of treatment, often using acetylcholinesterase-inhibitors (AChE-inhibitors).
3 patients (1 m, 2 f) showing an IQ below 75 were adjusted to rivastigmin. Degree and development of dementia were assessed using the Global Deterioration Scale (GDS) and a modified version of the Epworth Sleepiness Scale (ESS). The treatment lasted between 6 and 12 months. The dose applicated was between 1.5 and 4.5 mg/d. As shown in larger studies the effectiveness of rivastigmin on cognitive functioning was proved in all three instances. Rivastigmin, a brain selective AChE-inhibitor of the carbamat-type, was proved to be safe and having no side effects. During the time of treatment all three patients kept a relatively higher quality of life meaning that they were not to be classified as cases for nursing.
Keywords: Mental retardation, dementia, rivastigmin
Psychopharmakotherapie 2006; 13(05)