Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München
Die klinische Bedeutung von Antidepressiva ist in letzter Zeit kritisch hinterfragt worden, im Wesentlichen basierend auf metaanalytischen Übersichtsarbeiten zur Frage der Wirksamkeit bei depressiver Symptomatik wie auch zur Frage der Suizidalität reduzierenden Wirkung. Dieses Editorial kann sich nicht mit der gesamten Argumentation auseinandersetzen. Deshalb werden hier die Effekte der Antidepressiva auf die Suizidalität ins Zentrum gerückt. Was leisten Antidepressiva im Hinblick auf die Reduktion von suizidalen Gedanken, Suizidversuchen und Suiziden? Zu dieser Frage ergibt sich auf der Basis eines systematischen Reviews im Sinne der Evidenz-basierten Medizin der folgende Sachverhalt [1].
Die Effekte von Antidepressiva auf Suizidalität sind aus prinzipiellen methodologischen Problemen schwer in randomisierten kontrollierten klinischen Studien zu untersuchen. Deshalb müssen in einem breiteren wissenschaftlichen Ansatz verschiedene Methoden in komplementärer Weise verbunden werden, um zu einer sinnvollen Aussage zu kommen. Insbesondere müssen epidemiologische Untersuchungsansätze einbezogen werden.
Ergebnisse aus randomisierten, Plazebo-kontrollierten Kontrollgruppenuntersuchungen zur Wirksamkeit von Antidepressiva auf die Suizidalität depressiver Patienten zeigen, dass Antidepressiva fähig sind, suizidale Gedanken zu reduzieren, und dass sie diesbezüglich gegenüber Plazebo signifikante Vorteile haben. Dieser Effekt ist assoziiert mit der globalen antidepressiven Wirksamkeit. Allerdings gibt es Hinweise, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer über die globale antidepressive Wirkung hinaus eine Wirkung auf suizidale Gedanken haben, insbesondere im Sinne eines schnelleren Abklingens. Dieser an Einzelstudien erhobene Befund konnte allerdings nicht bei der metaanalytischen Zusammenfassung von Studienergebnissen bestätigt werden.
Aus den Daten von randomisierten Kontrollgruppenstudien ergeben sich keine Hinweise auf eine Reduzierung von suizidalem Verhalten (Suizidversuche oder Suizide). Die Fallzahlen in Antidepressiva-Studien sind zu klein, um angesichts der geringen Grundrate suizidalen Verhaltens Wirksamkeitsunterschiede zwischen Antidepressiva und Plazebo in statistisch signifikanter Weise zu finden. Sogar in Metaanalysen großer Datensätze konnte ein solcher Effekt nicht nachgewiesen werden, was möglicherweise ebenfalls mit diesem grundsätzlichen methodologischen Problem zusammenhängt.
Dem gegenüber konnten epidemiologische Studien zum Suizidrisiko zeigen, dass eine Zunahme der Verschreibung von Antidepressiva mit einer signifikanten und relevanten Abnahme der jeweilig untersuchten nationalen Suizidraten in verschiedenen Ländern verbunden war. Auf der Basis komplexer multivariater Analyseverfahren wurde gefunden, dass dieser positive Effekt der Antidepressiva nicht durch andere konfundierende Variablen erklärt werden kann, also ein echter Befund ist. Da die hier geschilderten positiven Zusammenhänge zwischen Anstieg der Antidepressiva-Verschreibung und Reduktion des Suizidrisikos in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichem psychosozialem Hintergrund gefunden werden konnten, scheint dieser Befund sehr robust zu sein. Obendrein wurde gezeigt, dass offensichtlich bestimmte Subgruppen der Bevölkerung in unterschiedlichem Ausmaß durch unterschiedliche Grade der Antidepressiva-Verschreibung beeinflusst werden. Dieser Befund ist aber nicht konsistent in allen Untersuchungen.
Zusätzliche supportive Daten kommen von Awareness-/Edukationskampagnen, die mit einem quasi experimentellen Design durchgeführt worden sind, zum Beispiel der sehr bekannt gewordenen Gotland-Studie oder dem Nürnberger Modell, sowie von naturalistischen Follow-up-Studien wie der Züricher Follow-up-Studie. Allerdings müssen solche Daten wegen des Studiendesigns mit Vorsicht interpretiert werden.
Zusammengefasst kann man sagen: Es besteht eine gute Evidenz, dass Antidepressiva suizidale Gedanken im Rahmen der akuten Depression reduzieren können – dies wurde in randomisierten Kontrollgruppenstudien gezeigt – und dass das Risiko von Suiziden durch Antidepressiva reduziert werden kann, was in epidemiologischen Studien überzeugend dargestellt worden ist. Lediglich für den Effekt auf Suizidversuche ist die Datenlage unzureichend, da sich die epidemiologischen Studien mit dieser Frage nicht beschäftigt haben und da man einen diesbezüglichen Effekt der Antidepressiva im Rahmen kontrollierter randomisierter Studien wegen der geringen Basisrate nicht sinnvoll untersuchen kann. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass die Prävention von Suizidalität eine sehr komplexe Aufgabe ist, bei der neben psychopharmakologischen Therapieansätzen auch psychotherapeutische und primärprophylaktische Aktivitäten eine wichtige Rolle haben.
Es ist wichtig, gegenüber den Patienten wie auch gegenüber der Öffentlichkeit deutlich zu vertreten, dass Antidepressiva einen wichtigen Stellenwert nicht nur in der medikamentösen Behandlung der Depression (und anderer psychischer Erkrankungen, z.B. Angststörungen), sondern auch ganz besonders im Hinblick auf die Reduktion von depressionsbegleitender Suizidalität haben. Dabei wird trotz dieser positiven Sichtweise nicht ausgeschlossen, dass es im Einzelfall zum Beispiel durch antriebssteigernde Effekte bestimmter Antidepressiva auch zu suizidalitätsfördernden Nebenwirkungen kommen kann, die dann sorgfältig beobachtet und durch entsprechende Komedikationsstrategien (z.B. Gabe von Benzodiazepinen) soweit wie möglich begrenzt werden müssen.
1. Möller HJ. Evidence for beneficial effects of antidepressants on suicidality in depressive patients: a systematic review. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. Im Druck.
Psychopharmakotherapie 2006; 13(02)