Dr. Barbara Kreutzkamp, München
Neuropathische Schmerzen sind chronische Schmerzen, die nach Schädigungen zentraler oder peripherer nozizeptiver Systeme entstehen. Sie lassen sich entsprechend der Läsionslokalisation unterteilen in periphere schmerzhafte Neuropathien, zu denen Engpasssyndrome und komplexe regionale Schmerzsyndrome (CRPS, z.B. Morbus Sudeck) ebenso gehören wie Phantomschmerz, postherpetische Neuralgie, Trigeminusneuralgie sowie die diabetischen Mono- und Polyneuropathien. Die zweite Gruppe sind diffuse zentrale schmerzhafte Neuropathien, die zum Beispiel im Rahmen einer multiplen Sklerose oder eines Hirninfarkts, vor allem im Bereich von Thalamus oder Hirnstamm, entstehen können. Als Symptome treten in allen Fällen zum Beispiel Kribbelparästhesien, Spontanschmerzen und evozierte Schmerzen (Allodynie und Hyperalgesie) auf.
Pathophysiologie neuropathischer Schmerzen
Pathophysiologisch spielen chronisch sensibilisierende und chronisch degenerative Prozesse des peripheren und zentralen nozizeptiven Systems eine Rolle.
Im Vordergrund der chronischen Sensibilisierung steht die Expression von neuen, unter normalen Umständen nicht vorhandenen Transmittern, Rezeptoren und Kanalproteinen in der primär afferenten Zelle. Als Folge der Veränderungen in diesen Zellen kommt es zu einer chronischen Sensibilisierung der Nozizeptoren, was wiederum eine sekundäre Sensibilisierung zentraler nozizeptiver Neuronen im Hinterhorn des Rückenmarks zur Folge hat. Ähnliche Sensibilisierungsvorgänge können auch in weiter zentral gelegenen Strukturen der nozizeptiven Neuraxis, zum Beispiel im Thalamus und somatosensorischem Kortex stattfinden. In machen Fällen, vor allem bei einer anhaltenden noxischen Stimulation in der Akutphase, verselbstständigt sich der zentrale Prozess und besteht unabhängig von den Vorgängen in der Peripherie weiter.
Scheinbar im Gegensatz zu diesen Vorgängen führt eine Nervenläsion häufig auch zu degenerativen Prozessen im nozizeptiven System, wodurch die Schmerzen ebenfalls chronisch werden können. Durch den Untergang nozizeptiver Neuronen wird nämlich eine anatomische Umorganisation synaptischer Strukturen im Hinterhorn ausgelöst; die dadurch induzierten Fehlverschaltungen führen dann zu dem Phänomen der Allodynie, bei dem eine Berührung bereits einen Schmerzreiz provoziert.
Ein dritter Mechanismus bei der Entstehung chronischer neuropathischer Schmerzen ist die Degeneration hemmender Neuronensysteme, die zu einer ungehinderten Transmission nozizeptiver Impulse führt. Diese inhibitorischen Systeme kontrollieren normalerweise eine nozizeptive Überaktivität. So hemmen die absteigenden Bahnen aus dem Hirnstamm mit den Transmittern Noradrenalin und Serotonin die Aktivität in nozizeptiven Hinterhornneuronen, GABAerge Interneuronen wirken im Hinterhorn tonisch inhibitorisch.
Pregabalin beeinflusst spannungsabhängige Calciumkanäle
Die komplexe Pathophysiologie zusammen mit der unterschiedlichen Läsionsgenese erklärt auch die schwierige und nach wie vor unbefriedigende Situation in der Therapie neuropathischer Schmerzen. Jedes Krankheitsbild und jeder Patient hat eine eigene Erscheinungsform der Schmerzen, häufig verknüpft mit zahlreichen Komorbiditäten.
Weiterhin erschwerend wirkt der mangelnde Konsens im therapeutischen Vorgehen, auch werden viele Medikamente außerhalb ihres zugelassenen Indikationsgebiets eingesetzt. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung ist mangels größerer klinischer Studien häufig nicht möglich. Dies gilt vor allem für die „älteren“ Substanzen aus der Gruppe der trizyklischen Antidepressiva und die älteren Antikonvulsiva.
Bei den neueren Substanzen ist eine Beurteilung der therapeutischen Effektivität schon besser möglich. Dies gilt auch für die Neuentwicklung Pregabalin (Lyrica®, Abb. 1), das von der europäischen Zulassungsbehörde EMEA für die Indikationsgebiete periphere neuropathische Schmerzen sowie als Zusatztherapie für Epilepsie-Patienten mit partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung zugelassen wurde.
Abb. 1. Struktur von Gabapentin und Pregabalin
Pregabalin bindet selektiv und mit hoher Affinität an die Alpha2-delta-Untereinheit spannungsabhängiger Calciumkanäle auf Nervenzellmembranen und moduliert dadurch den Calciumionen-Einstrom in die Nervenzelle. Zum GABAergen System bestehen keine Affinitäten, auch der GABA-Metabolismus wird nicht beeinflusst.
Die orale Bioverfügbarkeit ist dosisabhängig und liegt bei über 90%. Maximale Plasmaspiegel sind nach einer Stunde erreicht, die Halbwertszeit beträgt 6,3 Stunden. Die Substanz wird kaum metabolisiert und überwiegend renal ausgeschieden, bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist eine Dosisanpassung erforderlich. Interaktionen mit anderen Arzneimitteln kommen kaum vor, mit anderen bei neuropathischen Schmerzen häufig verabreichten Substanzen wie Phenytoin, Carbamazepin, Valproinsäure, Lamotrigin oder Gabapentin wurden keine Wechselwirkungen beobachtet.
Die Behandlung erfolgt einschleichend mit 150 mg täglich, verteilt auf zwei bis drei Einzeldosen. Nach sieben Tagen kann dann in Abhängigkeit vom Ansprechen und der Verträglichkeit auf 300 mg/Tag und nach weiteren sieben Tagen auf die Höchstdosis von 600 mg/Tag erhöht werden. Für eine Umstellung von anderen Substanzen wie Gabapentin liegen noch keine Studien vor – gute Erfahrungen wurden beispielsweise mit einem parallel zur Dosistitration mit Pregabalin stattfindendem langsamem Ausschleichen von Gabapentin über sieben Tage gemacht.
Schmerzreduktion
Klinisch wurde für Pregabalin in mehreren Studien eine signifikante Überlegenheit gegenüber Plazebo bei Patienten mit einer diabetischen Polyneuropathie und einer postherpetischen Neuralgie nachgewiesen. Die Schmerzreduktion lag dabei in der Regel bei über 30%.
Neben einer Reduktion der neuropathischen Schmerzen werden auch dadurch bedingte Schlafstörungen nach rund einer Woche signifikant gebessert. Erfahrungen zur Langzeitbehandlung liegen bis zu einem Jahr vor, dabei ergab sich eine gleich bleibende Wirksamkeit ohne Dosiserhöhung, die durchschnittliche Dosierung betrug in der Ein-Jahresstudie 420 mg/Tag.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren Benommenheit und Schläfrigkeit. Daneben wurde häufiger über gesteigerten Appetit sowie Euphorie, Verwirrung, verringerte Libido und Reizbarkeit, Schwindel, verschwommenes Sehen oder Doppeltsehen berichtet.
Quellen
Prof. Dr. Ralf Baron, Kiel, Prof. Dr. Dr. Thomas R. Tölle, München, Prof. Dr. Anthony H. Dickenson, London, Dr. Rainer Freynhagen, Düsseldorf, Symposium „Brennpunkt neuropathischer Schmerz: Mit dem Rücken an der Wand? Perspektiven für die Praxis“, veranstaltet von Pfizer, 18. September 2004 in München.
Fachinformationen Lyrica®
Psychopharmakotherapie 2005; 12(04)