Dr. Barbara Kreutzkamp, München
In 40 bis über 90% aller Verordnungen werden Antikonvulsiva von Neurologen, Psychiatern und Allgemeinärzten in Indikationen außerhalb der Epilepsie verordnet. Dazu gehören neuropathische Schmerzen, Migräne sowie Bipolarstörungen und Schizophrenie. Sowohl experimentelle als auch epidemiologische Studien geben diesem Verordnungsverhalten Recht: Epilepsie, verschiedene Schmerzsyndrome und affektive Störungen haben gemeinsame pathophysiologische Wurzeln und treten auch überproportional häufig gemeinsam auf.
Neuropathische Schmerzen
Am besten untersucht ist die Neurobiologie bei neuropathischen Schmerzen und bei der Trigeminusneuralgie, bei denen sich Antikonvulsiva wie Carbamazepin (z.B. Tegretal®), Phenytoin (z.B. Epanutin®), Lamotrigin (Lamictal®), Felbamat (Taloxa®) oder Gabapentin (z.B. Neurontin®) onals gut wirksam erwiesen haben. Neuropathische Schmerzen entstehen auf dem Boden chronischer Läsionen an sensorischen Nerven, die unter anderem zu einer verstärkten Bildung und einem veränderten neuronalen Verteilungsmuster von Natrium- und Calciumkanälen führen.
Die hohe Plastizität beispielsweise von Natriumkanälen führt zu einer veränderten Elektrophysiologie in den sensorischen Nerven und fördert eine unphysiologisch hohe Impulsrate auch bei einströmenden Reizen aus entfernter liegenden Körperregionen. Übererregbar sind auch die nozizeptiven Neuronen zweiter Ordnung des Hinterhorns im Rückenmark, die für den zentralen neuropathischen Schmerz eine wichtige Rolle spielen.
Ein solche Übererregbarkeit bestimmter Natriumkanäle hat Ähnlichkeiten zur Elektrogenese der Epilepsie, wobei hier die Bedeutung der Natriumkanäle aber noch nicht so gut erforscht ist. Natriumkanal-Blocker wie Phenytoin und Carbamazepin blockieren die über die Natriumkanäle vermittelte Reizleitung aber offensichtlich sowohl bei neuropathischen Schmerzen als auch bei Epilepsie.
Pathologische Hochregulierungen bei chronischen neuropathischen Schmerzen werden auch von den Calciumkanälen beschrieben. So kann eine heraufregulierte α2δ1-Untereinheit in den Neuronen des Hinterhorns zur Entwicklung einer taktilen Allodynie führen. Gabapentin bindet unter anderem an diese Untereinheit von spannungsabhängigen Calciumkanälen und blockiert so neuropathische Schmerzen beziehungsweise eine Allodynie.
Migräne
Der Entwicklung einer Migräne liegt eine ähnliche Pathophysiologie wie beim neuropathischen Schmerz zugrunde. Hier werden vermutlich die trigeminovaskulären afferenten Nerven der Meningen zum Beispiel durch Neurotransmitterstörungen im Rahmen einer Depression chronisch sensibilisiert. Valproinsäure (z.B. Ergenyl®), Topiramat (Topamax®) und Gabapentin reduzieren die Frequenzen von Migräneattacken, höchstwahrscheinlich durch die Dämpfung dieser übererregten sensibilisierten sensorischen Fasern des Trigeminus durch eine Blockade von Natrium- und Calciumkanälen. Außerdem verhindern die Antikonvulsiva die Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie dem Calcitonin-gene-related peptide, die an der Schmerzentstehung beteiligt sind.
Neuromuskuläre Syndrome
Antikonvulsiva werden auch in der Behandlung diverser Bewegungsstörungen und neuromuskulärer Syndrome eingesetzt, zum Beispiel beim nicht-epileptischen Myoklonus, bei essenziellem Tremor und Dyskinesien verschiedener Genese. Zwar ist die molekulare Basis der meisten dieser Störungen noch nicht gut erforscht, doch ist inzwischen zum Beispiel bekannt, dass einige der episodisch auftretenden muskulären Störungen wie die Paramyotonia congenita auf einer Mutation einer Natriumkanal-Untereinheit am Skelettmuskel beruhen, die zu einer Störung der schnellen Inaktivierung der Natriumkanäle und so zur Übererregbarkeit der Muskelzellen führt.
Bipolarstörungen
Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Valproinsäure sind außerdem bei Bipolarstörungen indiziert. Die Wirksamkeit ist in klinischen Studien dokumentiert.
Schizophrenie
Patienten mit einer Neuroleptika-resistenten Schizophrenie sprechen nicht selten auf die Gabe von Carbamazepin, Benzodiazepinen, Lamotrigin und insbesondere auch Valproinsäure an. Bei dieser Indikation spielen vermutlich nochmals andere Wirkungsmechanismen der Antikonvulsiva eine Rolle.
Jüngste Forschungsergebnisse belegen nämlich, dass Valproinsäure Histon-Deacetylasen inhibiert. Histon-Deacetylasen sind Enzyme, die die Genexpression herabregulieren und zum Beispiel an der Minderexpression von Reelin, einem neuronalen Migrationsfaktor, und GAD67, einem Schlüsselenzym in der GABA-Synthese beteiligt sind. Eine verminderte Bildung von Reelin und GAD67 dürfte an der Schizophrenie-Entstehung beteiligt sein. Eine experimentell erzeugte Herabregulation von Reelin und GAD67 konnte mit Valproinsäure aufgehoben werden.
Quelle
Rogawski MA, Löscher W. The neurobiology of antiepileptic drugs for the treatment of nonepileptic conditions. Nat Med 2004;10:685–92.
Psychopharmakotherapie 2005; 12(04)