Annemarie Musch, Stuttgart
Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität (ADHS) tritt mit einer Prävalenz von 3 bis 7% bei Schulkindern auf. Die Ätiologie der Erkrankung ist heterogen: neuroanatomische, neurochemische sowie genetische Ursachen ebenso wie hirnorganische Schädigungen und Umweltfaktoren scheinen eine Rolle zu spielen. Die neurobiologische Ursache der ADHS wird in einer Störung dopaminerger, insbesondere aber noradrenerger Neurotransmission im anterioren und posterioren Aufmerksamkeitssystem vermutet (präfrontaler und parietaler Kortex): zu schnelle Wiederaufnahme der Neurotransmitter in das präsynaptische Neuron vermindert die Konzentration der Neurotransmitter im synaptischen Spalt. Dadurch werden kortiko-subkortikale Regelkreise beeinflusst und es kommt zur Ausprägung der Kernsymptome der ADHS: kognitive, motorische und emotionale Fähigkeiten der Patienten werden beeinträchtigt; beobachtet werden häufig Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.
Die Diagnose der ADHS erfolgt klinisch, wobei zumeist Kriterien der beiden internationalen Skalen DSM-IV („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, 4. Auflage) und ICD-10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, 10. Auflage) berücksichtigt werden.
Derzeit ist entsprechend aktueller Leitlinien die multimodale Therapie – bestehend aus umfassender Beratung von Eltern, Kindern und Lehrern, Elterntraining, Psychoedukation, psychotherapeutischen Maßnahmen und medikamentöser Behandlung – Standard zur Behandlung der ADHS.
Die medikamentöse Behandlung, die häufig erst andere Maßnahmen im Sinne der multimodalen Therapie möglich macht, erfolgte bislang mit Psychostimulanzien, wie beispielsweise Methylphenidat (z.B. Concerta®), die vor allem die Konzentration von Dopamin im synaptischen Spalt durch Hemmung der Wiederaufnahme in die präsynaptischen Speichervesikel zu beeinflussen scheinen. Bei etwa 70% der Patienten wird unter der Therapie mit Methylphenidat eine Besserung der Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität erreicht. Allerdings unterliegt die Substanz als Psychostimulans der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) und wird in diesem Zusammenhang aufgrund eines möglichen Missbrauchrisikos kontrovers beurteilt. Weiterhin ist häufig eine kontinuierliche Kontrolle der Kernsymptome vor allem morgens und abends schwer realisierbar, da die Substanz nur kurz wirksam ist, was eine mehrfach tägliche Gabe erfordert und außerdem die Gefahr von Schwankungen der Konzentrationen in Blut und Gehirn und somit auch im Verhalten birgt.
Anfang 2005 wurde das erste Nicht-Psychostimulans zur Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen (bis 18 Jahre) durch das BfArM zugelassen: Atomoxetin (Strattera®) scheint hochselektiv die Wiederaufnahme von Noradrenalin in die Präsynapse im posterioren Aufmerksamkeitssystem zu hemmen. Zusätzlich wird die dopaminerge Signaltransduktion im anterioren Aufmerksamkeitssystem, nicht aber im Striatum und Nucleus accumbens „indirekt“ gesteigert. Die Beeinflussung der Dopamin-Konzentration im Striatum und im Nucleus accumbens wird für das Auftreten von Tic-Störungen (unwillkürliche Zuckungen eines oder mehrerer – meistens – Gesichtsmuskeln, die sich unter Anspannung verstärken) und für die Entwicklung einer Abhängigkeit verantwortlich gemacht.
Die „indirekte“ Beeinflussung der dopaminergen Signaltransduktion im anterioren Aufmerksamkeitssystem durch Atomoxetin ist vermutlich dadurch zu erklären, dass in diesem Hirnareal Dopamin über den Noradrenalin-Transporter (durch Atomoxetin hemmbar) ins Axoplasma rückresorbiert wird. Atomoxetin weist weiterhin eine geringe Affinität zu noradrenergen Rezeptoren sowie zu serotonergen und dopaminergen Rezeptoren und Transportern auf.
Atomoxetin zeigte in sechs randomisierten, Plazebo-kontrollierten, doppelblinden Studien im Vergleich zu Plazebo eine signifikant stärkere Wirkung auf die Kernsymptomatik der ADHS (Abb. 1). Die Wirkungsstärke war vergleichbar mit der Wirkungsstärke von Methylphenidat. Eine kontinuierliche Wirkung konnte bei einmal täglicher Gabe sowohl am Morgen als auch am Abend gezeigt werden. Eine signifikante Symptomverbesserung wurde unter der Therapie mit Atomoxetin nach einer Woche festgestellt, die volle Wirkung wurde nach vier bis sechs Wochen erreicht. Dies sollte berücksichtigt werden, da beispielsweise ein Effekt bei der Therapie mit Methylphenidat meist sehr viel schneller zu erkennen ist.
Abb. 1. Atomoxetin (Strattera®) reduzierte in sechs Studien die Kernsymptomatik der ADHS (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität); angegeben ist die mittlere Veränderung vom Ausgangswert (gemessen an zwei Bewertungsskalen: ADHD-RS [ADHD Rating Scale] oder CAARS-INV [Conner’s Adult ADHD Rating Scales])
Die Dosierung erfolgt einschleichend und bis zu einem Körpergewicht von 70 kg gewichtsbezogen, beginnend mit einer Dosierung von etwa 0,5 mg/kg Körpergewicht täglich in der ersten Woche und einer Erhaltungsdosis von 1,2 mg/kg Körpergewicht täglich ab der zweiten Woche. Ab einem Körpergewicht von über 70 kg wird ebenfalls einschleichend nach jeweils vorgegebener Dosis dosiert. Eine Umstellung von Methylphenidat auf Atomoxetin, die sich beispielsweise bei Nichtansprechen oder Unverträglichkeit anbietet, kann überlappend erfolgen. Atomoxetin steht in Form von Kapseln in fünf verschiedenen Stärken für die Therapie der ADHS zur Verfügung, so dass die Erhaltungsdosis in den meisten Fällen einmal täglich gut dosiert werden kann. Die einmal tägliche Dosierung des Arzneimittels bei einer Halbwertszeit von fünf Stunden überrascht, ist aber vermutlich über die unterschiedliche Verteilung im Körper, hier insbesondere im Gehirn zu erklären.
Die Verträglichkeit der Therapie mit Atomoxetin war sowohl im Vergleich zu Plazebo als auch zu Methylphenidat gut; im Vergleich zu Plazebo wurde lediglich signifikant häufiger Appetitlosigkeit beobachtet. Allerdings erlitten unter der Therapie mit Atomoxetin in den USA zwei Patienten (insgesamt >2 Millionen Behandelte bisher in den USA) schwere Leberschäden, die aber nach Absetzen der Substanz reversibel waren. Weitere, häufig schlecht dokumentierte Meldungen über veränderte Leberwerte lassen keine konkreten Aussagen über die tatsächlichen Ursachen zu. Die Firma Lilly bemüht sich um Aufklärung. Erhöhte Aufmerksamkeit wird bei Patienten, die unter der Therapie über Müdigkeit, Juckreiz, dunkel gefärbten Urin und Schmerzen im rechten Oberbauch klagen, gefordert.
Experten empfehlen die medikamentöse Therapie mit Atomoxetin im Rahmen eines multimodalen Konzepts solange regelmäßig durchzuführen, bis eine Stabilisierung erreicht wird. Dann kann versucht werden, die Medikation abzusetzen, wobei jedoch die nicht-medikamentösen Maßnahmen unbedingt beizubehalten sind.
Quelle
Dr. M. Huss, Berlin, und Dr. P. Wehmeier, Bad Homburg, Einführungspressekonferenz „Strattera® (Atomoxetin)“, Frankfurt am Main, 10. Februar 2005, veranstaltet von Lilly Deutschland GmbH.
Psychopharmakotherapie 2005; 12(03)